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seinem Werkzeug, der Fabrikarbeiter seiner Maschine, der Landmann seinem Felde; der Rentier selbst, der privilegirte Müßiggänger, hat seine Stunden, in denen ihn wichtige und unaufschiebbare Geschäfte der Beschäftigung mit der Liebe entziehen: Koupons abschneiden, Visiten schneiden, pflichtgemäße Zerstreuungen, der Besuch von Orten, an denen man sehen und gesehen werden muß. Zu geschweigen vom Reisen, Bauen, Briefmarkensammeln, Bibelots auf suchen, Jagen, Radfahren — alles zum Teil notwendige, alles zum Teil notwendige, zum Teil aber auch nützliche Dinge, die uns der aus schließlichen Beschäftigung mit der Liebe entziehen.

Und die Frauen! Für die einen ist der Inhalt des Lebens: die Hauswirtschaft und die Kinder- eine Zwangsarbeit; für die anderen ist der Inhalt des Lebens: Läden besuchen, mit der Modiftin konferiren, Freundinnen empfangen, Besuche machen u. s. w. Wo findet in unserer hastigen, überlasteten, ehrgeizigen, profitsüchtigen Gesellschaft die Liebe, Amor der Lose, Gott Eros der Herrscher ein bischen Zeit, seinen Altar aufzurichten? Mit Ausnahme einiger Ausnahme-Existenzen, ist die Liebe dem modernen Menschen, Mann wie Weib, ein Nebengericht am Speisetische des Lebens, ein hors-d'oeuvre. Für Millionen von Für Millionen von Wesen aber ist sie nur ein papiernes Wort, ein Buch ausdruck, eine Romanphrase.

Ein Japaner könnte sich nach unseren in Liebe plantschenden Theaterstücken keine genaue Vorstellung von unserer Zivilisation, unseren vorherrschenden Beschäftigungen, unseren Sitten machen. Er könnte die europäischen Frauen und Männer so wenig beurteilen, wie ein eingeflostertes kleines Mädchen, die nur Grimmsche Märchen oder Heiligenlegenden gelesen hat und am Tage, wo sie an die frische Luft gelaffen wird, erwartet, dem Prinzen in goldner Karosse oder einem Märtyrer mit einem Heiligenschein zu begegnen.

Es besteht in Europa das Vorurteil, daß von der allgemeinen Regel, daß unser Theater nicht der Spiegel und die abgekürzte Chronik unseres Zeitalters ist, das skandinavische Drama eine Ausnahme mache. Dieses Vorurteil ist unbegreiflich. Man vergegenwärtige fich die skandinavischen Stücke, die in eine Weltsprache übersetzt find, die Stücke von Jbsen, Björnson, Strindberg, Heiberg, Brandes, Hedberg, Drachmann, Agrell, Larsen, Benzon, der Leffler, und frage fich, ob man daraus das gegenwärtige skandinavische Leben erkennen könne. Die Frauen Ibsens und die Männer Strindbergs find reine Gehirn produkte. Ebensowenig wie die Dramatiker Frankreichs und Italiens und auch die meisten Deutschlands bei ihren ewigen dialogifirten teils legitimen teils illegitimen Liebesgeschichten die Menschheit auf die Bühne stellen, die unter ihren Fenstern wimmelt, ebensowenig haben Ibsen, Björnson und Strindberg Männer und Frauen in Szene gesezt, die ihnen auf den Straßen Kristianias, Bergens, Kopenhagens oder Stockholms begegnet sind.

Ibsens Frauen sind genau das Gegenteil von Strindbergs Frauen, nur das eine haben sie mit einander gemein, daß sie in keinem Kirchenbuch und keinem Standesregister eingetragen gewesen sind. Sie existiren von der Gnade ihrer Dichter; sie leben, weil sie das Leben ihrer Schöpfer eingehaucht bekommen haben. Prometheus, Oedipus, Hamlet, Othello, der alte Hiob, Faust, Tasso, die Minna von Barnhelm, das Kätchen von Heilbronn leben so wirklich wie Darius, Perikles, die Elisabeth von England, Goethe und seine Minna Herzlieb oder der Herr, der in die Pferdebahn steigt, oder die Göhre, die mit ihren langen Zöpfen zur Schule trottet, leben. Die Kunst hat ihren eigenen Zivilstand und der Künstler haucht seinen Geschöpfen einen lebendigen Odem ein. Aber diese Kinder der Fantasie, diese Minerven, die nicht auf dem gewöhnlichen Wege geboren werden, haben auch ihre besondere

Natur und eine anormale Physiognomie. Es sind in gewiffem Sinne Monftra, wenn dieser Ausdruck angängig wäre inbezug auf diese schönen Kinder des dichterischen Genius. Sagen wir darum: es sind Ausnahmegeschöpfe.

Man trifft gewiß ein paar lebendige Beispiele jener seltsamen Wesen, die die skandinavischen Theaterstücke be völkern. Frau Benedictsson hat sich nach einem viel umgetriebenen und regelwidrigen Leben den Hals abgeschnitten. Das Leben der Kowalewska, des wahrscheinlichen Modells zur Rita in „Klein Eyolf", ist neulich hier beleuchtet worden. Die Sfram ist auch fein gewöhnlicher Backfisch. Die nordischen Autoren selber find in ihrem persönlichen Dasein nicht weniger als Philifter. Alle, von Ibsen angefangen bis zu der Kristiania - Bohême und den jungen Finnländern in Berlin, haben sie alle fich ein ungewöhnliches Leben zurechtgelegt, das zwischen Einsiedler- und Zigeunertum schwankt und in fortwährendem Sturm und Drang verläuft. Und wenn einer sich an den warmen Ofen des Philisteriums seht, wie Kjelland, so wird er wenigstens Sonderling in Kleidung und Manieren. Dafür werden fie aber auch meistens fie aber auch meistens vom forrekten und normalen Bürgertum verleugnet. Björnson wird aufs bitterste angefeindet, Ibsen lebte mehrere Jahrzehnte im Eril, Strindberg wurde für irrfinnig erklärt. Das sind die drei Berühmtesten. Die stolzen, heißen, schicksalbereitenden, ehefeindlichen Weiber, die gegen die Herrschaft des Mannes revoltiren, die Gleichberechtigung der beiden Geschlechter proklamiren, die männliche Keuschheit vor der Ehe postu liren, die soziale Verfassung attafiren mit verwegenen Epigrammen wie das der Frau Alving: „Ach ja, die Ordnung und das Geset! Manchmal glaube ich beinahe, daß diese beiden alles Unglück hier auf Erden stiften" diese Weiber mögen wol hie und da in Skandinavien existiren, vorzugsweise in Litteraten- und Künstlerfreisen, aber sie sind auch dort eine Kuriosität, ein Meerwunder, und oft genug der Gegenstand des Gespötts und selbst der Vergewaltigung. Und außerdem fragt es sich, ob die Frau Alving, die Noras, die Heddas, die Hildes, die Ritas, die Ellidas u. s. w. nach ihrem Bilde entstanden sind oder ob sie nicht vielmehr nach dem Bilde der Noras, Heddas u. f. w. sich fünstlich zurechtgestugt haben. Ich kenne die skandinavischen Länder von mehrfachen Reisen und Aufenthalten her. Ich hatte Gelegenheit, in bürgerliche und adlige Salons dort eingeführt zu werden, und ich konnte nur konstatiren, wie monoton und ruhig das tägliche Leben im germanischen Norden ist, wie friedlich, regelmäßig, tugendhaft und etwas langweilig das Dasein der Frauen und Mädchen ist. Man heiratet vielfach sehr spät. Sieben bis achtundzwanzigjährige Bräute sind nicht selten, und sie sind, wie es scheint, noch in diesem Alter nicht mannstoll geworden, sondern warten mit germanischem Phlegma noch einige Jahre länger, wenn die kühle Prüfung der Verhältnisse es wünschenswert macht. Die Lebensweise der jungen Mädchen ist der der amerikanischen Miffes ähnlich: sie haben eine große Freiheit der Bewegung. Sie dürfen nicht nur allein, wie in Deutsch land, aufs Eis und in die Schule gehen, sondern auch ohne Begleitung von Verwanten größere Partieen, so die jungen Stockholmerinnen z. B. die beliebten Par tieen nach dem Mälarsee machen. Das hat keine wei teren Folgen. In der Ehe beschäftigt sich die Skandinavierin ebenso wie die Frau fast überall auf der ganzen Welt vorzugsweise mit Kindergebären und Kindererziehen; die kleinen Künste des Rofettirens und Buzens verlieren sich sehr schnell, sie wird ehrbar, schwerfällig und geht in die Breite. und geht in die Breite. Der bunte blonde Schmetterling verwandelt sich in eine graue Hausmotte.

Im Theater habe ich mir das Publikum aufmerksam angesehen; im Parkett saßen junge Mädchen, zum Teil

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auch ohne ihre Eltern, die zuhause geblieben waren und geräucherten Schinken aßen, neben jungen Männern. Sie faßen hoch aufgerichtet da mit schlanken Taillen und rührten sich nicht; im Zwischenaft entwickelte sich gar feine oder eine sehr schläfrige Konversation. Ich habe in diesen kalten, ruhigen, wolgeordneten, ehrbaren, gefunden und altväterisch eingerichteten Ländern feinen Platz für die Frauen Jbsens, Björnsons, Strindbergs und Pontoppi dans gefunden. Ja, diese hysterischen Damen scheinen mir in diesem schwerfälligen, ausgeglichenen, vernünftigen, protestantischen und spießbürgerlichen Milieu ganz unmöglich, so unmöglich, wie wenn man in der fünften Avenue New-Yorks oder im Hafen von San Francisco eine Ligeia oder eine andre Mädchengestalt Edgar Allan Poes suchen wollte.

Und endlich, was spielt man auf den skandinavischen Theatern vorzugsweise? Etwa Ibsen, Björnson und Strindberg? Weit gefehlt. Man trifft Sardou und Moser dort, Meilhac und Schönthan, und der Beherrscher des schwedischen Theaters ist Herr Oskar Wijkander, Theateragent und Bearbeiter französischer und deutscher Stücke. Und einen guten alten Schweden fragte ich, als ich mich wunderte, die Gestalten Ibsens, Björnsons und Strindbergs so selten auf der Bühne seines Landes zu sehen, wo man sie denn in Schweden sähe? Er antwortete mir: „In den Irrenhäusern.“

Die englische Pantomime.

Von

Martin Hoefer.

Londons Theater stehen augenblicklich unter dem Zeichen der Pantomimes. Man findet jetzt keinen drawingroom, in dem nicht die Pantomimes das Hauptthema zur Unterhaltung abgäben. Man kann sich kein richtiges Bild vom londoner und überhaupt von englischem Theaterleben machen, wenn man sich nicht einmal über die eigenartige Erscheinung der Pantomimes orientirt hat, deren Aufführung am boxing day (d. h. 2. Weihnachtsfeiertag) beginnt und sich 2 bis 3 Monate und länger ins neue Jahr hinein erstreckt.

Unter Pantomime verstehen wir auf dem Kontinent der Entstehung des Wortes gemäß eine theatraliiche Darstellung ohne Worte, bei der die Handlung durch Gebärden, Mienenspiel und Bewegungen verständlich gemacht wird; meistens in Verbindung mit Musik und Tanz. In England hat sich der Sinn für diese Bedeutung des Wortes allmälig ganz verloren; was man hier unter Pantomime versteht, ist grade das Gegenteil von stummer Darstellung, vielmehr geht es meist recht lebhaft, laut und lustig zu. Eine Pantomime im englischen Sinne ist ein Ausstattungsstück mit Musik, in dem der Text teils gesungen, teils gesprochen wird. Ein der Kinderstube entnommener Stoff, Märchen oder was es sonst sein mag, dazu Chorgefänge, Rouplets und Ballets. Man kann eine gewisse Aehnlich feit mit unserer Märchenoper, wenigstens was die Anlage anbetrifft, konstatiren. Doch drücken die sämtlichen, mehr oder weniger mit dem Stück in Verbindung stehenden Zutaten demselben ein ganz eigenartiges und zwar gewöhnlich nicht grade vorteilhaftes Gepräge auf. Ganz

außerhalb des Rahmens der Stücke steht die „Harle kinade", eine Farce schlimmster Art, bei der es häufig nicht bei harmlosen Scherzen bleibt. Wie der Name sagt, spielt der Harlekin eine Hauptrolle darin und das dürfte zur Charakterisirung vollkommen genügen. Die Harlekinade ist der Schluß des Ganzen und darf nie fehlen. Änsprechender sind die Verwandlungsszenen (transformation scene); namentlich in der stereotypen Verwandlungsszene am Schluß des letzten Aftes werden alle szenischen Effekte zur Geltung gebracht, die die Bühneneinrichtung ermöglicht. Der Gang ist gewöhnlich -Ausnahmen von der Regel finden sich ja natürlich - daß sich aus einer einfachen, aber wunder hübsch gemalten Waldszene allmälig in einer Reihe von Uebergangsstadien ein Prunksaal, ein paradiesisches märchenhaftes Gemach oder ein Feenland entwickelt; in großartigen Uebergangsformen durch Fallen und Sichheben von fast unsichtbaren Vorhängen gelangt man allmälig zum letzten blendenden Bilde, dem durch besondere Lichteffekte noch eine größere Wirkung gegeben wird.

Eine englische Pantomime ist der beste Beweis dafür, daß der englische Theaterdirektor darauf ausgeht und aus gehen muß, seine Stücke möglichst großen Kreisen mundgerecht zu machen. Ist die Pantomime in erster Linie für Kinder bestimmt, so muß er doch versuchen, Erwachsene und möglichst viel Erwachsene dafür zu interessiren. Das geschieht und gelingt in England nur zu gut durch die große Bracht, die in Kostümen und Ausstattung geboten wird, durch sorgfältig einstudirte Ballets, denen vielfach originelle und interessante Gedanken zu Grunde liegen und durch Einschiebung von Kouplets, die für Kinder unverständlich teils politischer Natur find, teils allgemeine Tagesfragen in meist recht wißiger Weise behandeln und stets up to date gehalten werden.

Die Musik ist mit Ausnahme von eigentlich nur zwei Pantomimes in diesem Jahre, die wenigstens einigermaßen hübsche und gefällige Musik bringen, nur aus den befannten Melodien zusammengesett, ja man geht sogar zur Verwendung der allergewöhnlichsten Gaffenhauer herab, jo daß von einem einheitlichen Ganzen natürlich keine Rede sein kann.

Einen tieferen, inneren Wert hat eine Pantomime natürlich nicht, ich will selbst ihrer Berechtigung auf der Bühne nicht einmal das Wort reden, aber man muß mit ihnen hier wie mit einem Faktum rechnen. Die Ansicht, daß sie bald von der Bildfläche verschwinden werden, ist eine vollständig unbegründete, vielmehr stehen für das nächste Jahr schon wieder mehr und noch raffinirter ausgestattete in Aussicht.

Man hat uns hier in Dalys Theater Humperdincks allbekannte Märchenoper: „Hänsel und Gretel" in englischer Uebersetzung geboten. Das Stück hat einen guten Erfolg gehabt und wird auch jezt noch, nachdem es nach dem Gaith-Theatre übergesiedelt ist, recht gut besucht; was will das aber heißen gegen die folossalen Erfolge, die die besseren Pantomimes hier haben, die während des ersten und zweiten Monats fast alltäglich zweimal vor ausverfauftem Hause zur Aufführung gelangen? Man muß freilich bedenken, daß die englischen Pantomimes allge meine oder doch dem englischen Kinde bekannte Stoffe behandeln, während die Geschichte von Hänsel und Gretel in England weniger bekannt ist und ein jeder mehr am Einheimischen und Bekannten hängt. Die Gefühle des Engländers find eben auch anders entwickelt; er verlangt drastischere Effekte; er will nicht gerührt, er will geblendet werden, die gemütvolle Art von Hänsel und Gretel ist ihm nicht abwechselungsreich, ich möchte sagen, nicht fraß genug.

Und doch war das ganze Stück hier schon äußerlich in ein hübsches Gewand gekleidet; am vorteilhaftesten

dem Auge erschien aber jene Traumszene der Geschwister | sich dar: Nach einander erscheinen die Buchstaben des im Walde: Wie in Jakobs Traum eine hohe Himmelsleiter, auf der die Engel heruntersteigen, um über der Kinder Schlaf zu wachen; weiße, hübsche Gestalten mit großen Flügeln und Palmzweigen in der Hand, deren Wirkung durch brillante Lichteffekte noch bedeutend erhöht wurde. Hübsch war auch die Ausführung der Szene, in der sich die Pfefferkuchen- und Zuckergestalten vor dem Haus der alten Here unter einem Donnerschlage in Wesen von Fleisch und Blut verwandeln und ihren Befreiern ihren Dank abstatten.

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Am nächsten dieser reizenden Märchenoper kommt -wenn es gestattet ist, ein Kunstwerk wie Humperdincks Oper neben einem prächtig aufgeflirrien Schmarren zu nennen die Pantomime im Lyceum Theatre Oskar Barretts: Santa Claus, unter Leitung von Henry Irving. Selbstverständlich beteiligt sich Irving selbst am Stücke nicht, aber das Lob für die großartige Inszenirung gehört ihm. Da die Bühne abends durch die Aufführungen von King Arthur in Anspruch genommen war, wurde die Pantomime nur in täglichen Matineen aufgeführt. Das Stück kann als eine Musterleistung in seiner Art angesehen werden. Santa Claus", alias „Weihnachtsmann" spielt eine Hauptrolle darin; er erscheint mit einem er erscheint mit einem Weihnachtsbaum voll von brennenden Lichtern in der Hand, in dickem Pelz und mit einem großen Sack, in dem er die Geschenke für die Kinder_trägt. Eine uns unbekannte Person ist seine Frau: Queen Mab. Als seine Trabanten erscheinen: Holly, Joh und Mistletoe, immergrüne Pflanzen, die englischen Symbole der Weih nachtszeit, mit denen hier zum Feste die Zimmer aus geschmückt werden. Er ist der deus ex machina des Stückes; er läßt durch sein Machtwort die schönsten Träume zu Wirklichkeit werden. Der Gang der Handlung ist sehr einfach:

Die erste Szene spielt zur Zeit der Ernte in einem Dorfe. Sir Grimstam, ein komischer Alter, der voll ständig unter dem Pantoffel seiner Frau steht, und diese selbst, Lady Grimstam, die Gutsherrschaft des Dorfes, wollen ihre Tochter Marian mit einem Sheriff von London verheiraten. Die Tochter liebt aber einen schmucken Burschen aus dem Dorfe, mit dem fie, turz bevor die Trauung mit dem andern stattfinden soll, auf und davon geht. Zur selben Zeit treffen zwei Kinder ein, Sohn und Tochter eines Bruders von Sir Grimstaw, die durch den Tod ihres Vaters verwaist, als Erben eines bedeutenden Vermögens der Obhut ihres Onfels anvertraut werden. Ihr treuer Begleiter ist ein großer Hund, der niemand den Kindern zu nahe kommen läßt und auf Schritt und Tritt über sie wacht. Die Kinder fühlen fich sehr bald heimisch, komische Szenen mit einer echt englischen Gouvernante neuen Stiles, die von einem sehr guten männlichen Komiker (Viktor Stevens) à la Charleys Tante stupiden Angedenkens gegeben wird, tragen viel zur Heiterkeit bei. Eine reizende Szene spielt im ersten Afte am Christmas-eve, d. h. am heiligen Abend. Es ist Sitte in England, daß die Kinder an diesem Abend, bevor sie zu Bette gehen, einen Strumpf im Zimmer aufhängen in dem Glauben, daß Santa Claus übernacht käme und ihn mit Aepfeln, Nüssen und Spielzeug füllte. So geschieht es auch hier und die Kinder sehen im Traume Santa Claus erscheinen und ihre Strümpfe füllen. Bevor er sie ihnen aber zurück gibt, ist es seine Pflicht, erst noch zu prüfen, ob sie auch ihr A B C wiffen; da er aber ein freundlicher Mann ist, will er ihnen die Sache so leicht und interessant wie möglich machen, die Szene verwandelt sich mit einem Zauberschlage und wir befinden uns im Dreamland, im Traumlande; ein farbenprächtiges hübsches Bild bietet.

Alphabets, während die Kinder nun einen Namen oder Gegenstand nennen müssen, der mit dem betreffenden Buchstaben anfängt, was sie in Fibelversen tun. Diese Verse oder Worte nun werden durch lebende Bilder, allegorische Figuren oder Ballets dargestellt. Die Prachtszenen waren natürlich Britannia, London, Viktoria und Arche Noah. Eine Arche in der primi tiven Art der nürnberger Spielwaaren und ein paar jener nach oben spit zulaufenden steifen Bäume. Die Arche tut sich auf und herausspazieren die verschiedenen Tiere, aufs Haar jenen hölzernen primitiven Holzfiguren gleichend, und zum Schluß Noah mit seiner Familie. Ein Beifallssturm der Kleinen durchtofte das Haus.

Im zweiten Akte gehen nun Vater und Mutter auf die Suche nach ihrer entlaufenen Tochter, deren Mann ein wildes Räuberleben im Walde führt. Sie werden von Strolchen angefallen, an einen Baum gebunden und vollständig ausgeraubt, der verhaßte Schwiegersohn befreit sie im Augenblick der höchsten Gefahr und erhält nun den Segen der Eltern. Der Gipfelpunkt des zweiten Aftes ist die Transformationsszene, die hier im direkten Zusammenhang mit dem Stücke steht. Der Onkel oder vielmehr die Lante kommt auf den teuflischen Gedanken, die beiden Kinder ermorden zu laffen, um in den Besiß des Geldes zu gelangen. Sie schicken deswegen die Kinder in den Wald mit zwei Strolchen, die sie für eine Summe Geldes zur Ermordung gedungen haben. Den einen dieser Strolche überkommt aber doch das Mitleid, als er zu dem fürchterlichen Akt schreiten will; es entsteht ein Streit, ein Kampf zwischen beiden, bei dem der Mitleidige leicht verwundet wird und sich tot stellt, um nicht getötet zu werden, während der andere nach langem Kampfe den wütenden Angriffen des Hundes, der die Kinder auch hierher begleitet hat, erliegt. Die Kinder können nicht mehr nach Hause, da sie zu müde sind und der Weg auch zu weit ist, und schlafen im Walde ein; wieder erscheint ihnen Santa Claus in einer seinem Charakter angepaßten wunderschönen Winterlandschaft, die so natürlich wirkt, daß die Kinder zu frieren anfangen; er hat Mitleid mit ihnen und zeigt ihnen das Loveland, das gelobte Land der Liebe und des ewigen Frühlings. Diese Transformationsszene ist ein groß artiger Abschluß des Ganzen. Sehr wirkungsvoll find die hauptsächlichsten Ballets, äußerlich durch die Pracht der Ausstattung, dann namentlich aber auch durch den Gedanken, der ihnen zu Grunde liegt. Eine Art Schlacht zwischen Vögeln, Schmetterlingen und Faltern und Blumen, und dann eine solche zwischen Insekten und Spinnen. Das Originelle der Kostüme, die interessant und harmonisch in ihrer Farbenzusammenstellung wirken, und die brillanten Effekte, die die Anwendung elek trischen Lichtes für die Augen der Vögel, die Spizen der Fühlhörner der Insekten und Schmetterlinge, die Fruchtknoten der Blumen und die Kreuze oder sonstigen Abzeichen auf den Körpern der Spinnen hervorbrachte, erzeugte große Wirkung, während die zierlichen Be wegungen der Tänzerinnen entsprechend dem Charakter des Tieres, die in den verschiedenen Stadien des Ballets sehr lebenswahr zur Darstellung famen, den harmonischen Eindruck zu hoher Vollendung brachten. Die Musik ist die beste aller diesjährigen Pantomimen; besonders anzuerkennen ist, daß Anklänge an allzu Bekanntes ver mieden sind und man versucht hat, dem Ganzen etwas Abrundung zu geben.

Das alles ist ja vollkommen blödes Zeug, das mit Kunst nicht das allermindeste zu tun hat; aber als Augenreiz, als eine Show von unübertroffener Großartigkeit.

An Pracht der Ausstattung den Lyceum-Pantomimen

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Von China nun kommt unser Held, immer von seiner treuen Kaße begleitet, hochgeehrt nach London zurück und wird dort nun wirklich zum Lordmayor proklamirt. Er findet seine Braut auf Befehl ihres jetzt ganz verarmten Vaters mit dem ehemaligen Hausknechte, der durch List die ganze gestohlene Kaffe an sich gebracht und durch Spekulationen reich geworden ist, verlobt. Er kommt gerade noch im rechten Augenblick, um die Heirat zwischen den beiden zu verhindern und seine geliebte Braut selbst heimzuführen, wogegen ihr Vater natürlich nichts mehr einzuwenden hat. Dieser zweite Akt bringt uns die Lordmayors Show, d. h. jenen festlichen Aufzug, der alljähr lich in London am Tage, an dem der neue Lordmahor sein Amt antritt, stattfindet. So wenig vielseitig und kaum des Ansehens wert diese Show in Wirklichkeit ist, so interessant und wirkungsvoll war sie auf der Bühne. Man glaubt die Pracht der Show, wie sie sich vor langen Jahren geboten hatte, hier wieder aufleben zu sehen. Die einzelnen Wagen und Gruppen sowie das ganze Arrangement war fein und sorgsam durchdacht und die ganze Szene entschieden von sehr großer Wirkung.

fast noch überlegen ist die Pontomime im Drury-Lane | irgendeiner Szene irgendeiner anderen Pantomime und Theater: Dick Whittington" von Sir Augustus Harris, | gibt uns den besten Beweis für die hervorragende FähigCecil Raleigh und Henry Hamilton unter der feit des Sir Augustus Harris für Inszenesetung und Regie von Sir Augustus Harris. Das Thema Ausstattung eines Stückes. ist auch hier kindlich gehalten, geht aber sehr ins Fantastische hinüber. Im Gegensaß zu Santa Claus tritt uns hier eine durch und durch englisch-nationale Panto mime entgegen, die allen Launen des englischen Publifums nachgibt, sie nach jeder Beziehung zu befriedigen | versucht und die deswegen auch geradezu in den Himmel erhoben wird. Die meisten Szenen spielen auf londoner Gebiet und berühren deswegen bekannt und familiär. Der Anfang des Stückes spielt in einem Kaufmannsladen Londons, der einem alten eitlen Gecken gehört. Der hat eine niedliche Tochter, in diese Tochter ist der Laufbursche Dick Whittington verliebt und sie er= widert seine Liebe. In einem unbewachten Augenblicke stehlen die Köchin und der Hausknecht die gesamte Kaffe | und lenken den Verdacht auf den Jungen, der nun mit Schimpf und Schande aus dem Hause gejagt wird. Da Da er nicht weiß, wohin er sich wenden soll, beschließt_er, sich | auf die Wanderschaft zu begeben, von allen verlassen mit Ausnahme einer guten, alten, treuen Kaße, die ihm überall hinfolgt und allen seinen Freuden und Leiden ein geradezu menschliches Interesse entgegenbringt. Es ist charakteristisch, daß fast in allen Pantomimen der Held von einem Tier begleitet wird; der Engländer ist eben ein großer Tierfreund. Das Märchen von dem sich befehdenden Kaßen- und Mäusereich geht nun durch das ganze Stück hindurch. Der Held wird natürlich vom Kazenreich und seiner Königin beschüßt, während die Mäuse ihm überall zu schaden suchen."

Die Ballet- und Kampfszenen dieser beiden Reiche und ihrer Repräsentanten sind sehr hübsch arrangirt und die Kostüme sehr orginell und wirkungsvoll. Eine weitere Szene versezt in eine Waldlandschaft in der Nähe von London, wo der Wanderer ermattet und hungrig niederfinkt; sein Lieb aber ist seiner Spur gefolgt und versorgt ihn mit Speise und Trank; sie will ihm überall hin folgen, er aber besteht darauf, daß sie zu ihrem Vater zurückgehe, und verspricht ihr, um sie anhalten zu wollen, wenn er erst einen bedeutenden Namen haben werde und Lordmayor von London geworden sei der kindliche Traum eines jeden londoner Kindes. - Es folgt eine rührende Abschiedsszene, nach der er sich schlafen legt. Da erscheint die Kaßenfönigin mit ihrem Heer, um ihn zu beschüßen, während der Mäusekönig sie zu verfolgen droht ein hübsches Ballet mit reizenden Szenen. Nach verschiedenen Irrfahrten läßt sich Dick schließlich als Matrose anwerben, geht zur See, macht gute Karriere und kommt schließlich, nachdem er troß des Widerstandes der Mäuse, die sein Schiff untergehen machen wollen, eine Seeschlacht für die Chinesen gewonnen hat, an den Hof des Kaisers von China. Diese Szene, mit vollendetster Pracht ausgestattet, ist der Gipfelpunkt der ganzen Pantomime. Prachtvolle Kostüme, die großartigsten Dekorationen, brillante Lichteffekte wetteifern miteinander. Zwei Treppen führen vom Hintergrund der Bühne zu dem großen Vorplay herunter, auf dem nun der pompöseste Aufzug stattfindet. In den fantastischsten Kostümen kommen die Hofchargen, Krieger und Tänzerinnen des Kaisers von China im bunten Durcheinander wie in einer Prozession die Treppen herab, je nach ihrem Charakter majestätisch langsam oder in lebhaften tanzenden Schritten. Natürlich ist alles Fantasie, wol faum etwas der Wirklichkeit ent sprechend; die Szene soll aber auch darstellen, wie_im Traum sich die durch Märchen erregte Fantasie eines Kindes das Leben am Hofe eines orientalischen Herrschers vorstellt. Diese Szene steht wirklich unerreicht da von

Neben diesen beiden hervorragendsten Pantomimen der Saison, auf die ich, als typisch für die Gattung, näher eingegangen bin, ist noch die Pantomime der Crystall-Palace: Blue Bart" zu erwähnen, und in fleineren Theatern:

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„Robinson Crusoe" am Grand Theatre; Aladdin and the wonderful lamp am Standard Theatre; The Babes in the wood am Parkhurst Theatre, The Giant of the Mountains am Britannia-Theatre und Little Boy Blue am Royal West London Theatre; lettere sind Dramatifirungen von englischen Kindergeschichten.

Selbstverständlich hat jede größere Stadt Englands eine oder mehrere Pantomimen und nicht wenige davon sind von der Kritik gelobt worden. Das charakterisirt den bei einem Kulturvolk ganz unbegreiflichen Tiefstand der dramatischen Kunst in England. Englands Bühne gehört heute nicht mehr in die europäische Entwickelung hinein; von den künstlerischen Strebungen und Strömungen des Kontinents bleibt die englische Bühne unberührt. Es geht nicht an, das englische Theater hinsichtlich der dramatischen Produktion mit dem Theater des Kontinents zu vergleichen. Man kann es nur mit dem Zirfus des Kontinents vergleichen, ein Vergleich allerdings, bei dem es gewinnt, der aber um so drastischer das völlige Ersterben der dramatischen Kunst in England illustrirt.

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Der erste Akt war zu Ende. Der Vorhang fiel und das Publikum rief die Schauspieler hervor. In einer In einer Lege des dritten Ranges befanden sich der wolbeleibte Kaufmann Matronow," ein Mann in den Fünfzigern, seine Frau, eine gut fonfervirte Dame. deren Kinder eine heiratsfähige Tochter Naßtasja in elegantem Kostüm, und ein Junge von neun Jahren.

Papa, anstatt gedankenlos ins Leere zu starren, könntest du ja auch die Schauspieler hervorrufen!" wandte sich Naßtasja an ihren Vater und führte das Binocle an die Augen.

„Ach was, sie werden schon von selbst kommen, wenn sie Lust haben."

„Aber das Publikum muß sie doch rufen.“

„Nun, wenn es ihm Spaß macht, mag es das tun. Dieses dein Publikum hat wahrscheinlich heute seine Kehle noch nicht angestrengt, ich aber habe den ganzen Tag in der Fabrik schreien müssen und bin froh, mir jeßt Ruhe gönnen zu können. . . . Wenn du Lust dazu verspürst, so schreie doch selbst."

Ach, Papa, wie wenig Verständnis dafür hast! Es ist geradezu schrecklich! Ist es etwa passend, daß ein Fräulein an öffentlichen Orten schreie und rufe?"

„Nun, dann brauchst du es auch nicht von deinem Vater zu verlangen er ist für dich fein grüner Junge. Was du auch nicht alles verlangst! Bald: bring mir dies, bald: gib mir das, nimm eine Loge, und zu guter legt: rufe die Schauspieler hervor!"

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Dann laß es nur bleiben! Man wird doch nie von dir ein freundliches Wort hören...."

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Wenn du es durchaus willst, so tue ichs, um dir ein Vergnügen zu machen. Ich werde Chochlow hervor rufen."

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So begreif es doch! Das Publikum ruft Chochlow ja gar nicht..

„Was geht das mich an? Mag das Publikum rufen, wen es will, und ich rufe, wen ich will. Solch einen Dämon, wie ihn Chochlow spielt, kannst du nicht einmal in der Hölle finden. Ich werde ihn rufen und will beobachten, wie das aufs Publikum wirft."

Versuch es nur, aber ich verlasse sofort das Theater! Ach, das ist ein Jammer! Muß man denn seine Unwissenheit gleich auf der Stirn tragen?"

„Ach, du Giftschlange! Nicht mal ansehen darf ich dich! Der Vater darf nicht mal den Mund öffnen! Was kann sich der Vater von deiner Dankbarkeit versprechen, wenn du schon jeßt ihm gegenüber die Baronin spielst?. Und ich habe dir eine Loge gemietet... Nichts fann ihr der Vater recht machen!.

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Das ist dein Sache." Wenn du einmal deine Tochter in die Gesellschaft einführen willst, so tue es wenigstens, wie sichs gehört; denn später macht man mir noch Vorwürfe: Sogar ins Theater haben wir dich geführt, und doch war keiner so dumm, dich zu freien...

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„Ein ordentlicher Freier wird dich schon überall auffinden, und einen Tunichtgut brauchen wir nicht. Der Kaufmann braucht Ware wo jedoch diese Ware liegt, — ob auf Kufnezki Most hinter Spiegelscheiben oder ob in einem Zelte in den Schuhwaren-Buden das ist ihm egal, wenn nur die Ware gut ist. Als deine Mutter heiratsfähig war, da pflegte sie im Paradiese für sechzig Kopeken zu sizen, und ich habe mich nicht gescheut, ins Paradies zu klettern... Erinnerst du dich, Weib ?" stieß der Kaufmann seine Frau an.

O ja, ich erinnere mich," antwortete diese mit einem Lächeln. Man gab damals ein Ballet Das Donauweibchen' ein prachtvolles Ballet."

"Heutzutage gibt es sowas gar nicht mehr. Ach, was damals für eine Hiße im Paradiese herrschte! Entießlich! Fedjuschka!" wandte er sich an seinen Sohn, reiche mir die Früchte!"

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Papa, wer wird denn in der Oper Früchte effen?"
Nun, wir werden es tun."

Dann geht nach hinten und seßt euch auf den Divan, hier vorn in der Loge wäre es ein Skandal!"

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Was ist mit dir los, Naßtasja? Als du in der Butterwoche im Theater warst, hast du selbst Aepfel ge= geffen, und jezt findest du es unpassend ?"

„Das war ja zu einem Ballet, wo nur einfaches Volk zugegen war, und jetzt befinden wir uns in der Oper, wo das feinste Publikum ist."

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Das ist durchaus nicht der Fall. Zum Ballet war nur anständiges, gutgekleidetes Publikum da."

„Ach, ich meine das nicht in diesem Sinne, Papa... Dort ist gewöhnlich mehr ein Publikum, das Sonnenblumenkörner und Nüsse knackt, in der Oper findet man faft nur Leute, die Chokolade effen."

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