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gesellschaften eine schwache Reaction entgegen; die Dichter der ersten schlesischen Schule schließen sich wieder der Antike als Muster an; die zweite schlesische Schule gefällt sich in breiter Ausmalung und in Uebertreibung des Pathos; die Pegnißschäfer ahmen die italiänische Schäfer-Poesie nach u. s. w. Das zerfahrene Wesen der deutschen Poesie in dieser Periode ist ein Spiegelbild der Zerrissenheit Deutschlands. Statt eines pofitiven Ideals tritt uns überall nur eine rührend erscheinende Sehnsucht nach deutscher Nationalität entgegen.

"In England ist die Reaction gegen den römischen Katholizismus politisch eine noch entschiedenere als in Deutschland, kirchlich aber eine den Schein des Romanismus erhaltende. Die Elemente des Mittelalters werden formell noch konservirt, und in dieser zwischen Mittelalter und Neuzeit schwebenden Periode kömmt es zu jener wunderbaren Poesie des Shakespearefchen Dramas, in welchem die sittliche Weltordnung nach dem Begriffe des Protestantismus noch in den Farben der reinsten Romantik sich darstellt. Das protestantische Prinzip reagirt gegen diese Romantik, in welcher es noch den Katho, Lizismus verborgen fürchtet. Der Puritanismus in Schottland erhob fich gegen die anglikanische Hochkirche, um eine theokratische Republik zu begründen und alle Romantik, alle Poesie überhaupt, mit Ausnahme der Pfalmen, zu vertilgen. Als dieses Nivellement vorüberging, wandte sich die Poesie zunächst auch dem novantiken Ideal der Franzosen zu. Dryden und Pope wurden die Dichter der formalen Korrektheit."

,,Bei den Franzosen hatte der Protestantismus ebenfalls den Verfuch der Reform gemacht; aber der Romanismus reagirte in den blutigsten Kriegen und Meuchelmorden gegen dieselbe und siegte äußer lich. Innerhalb aber erhielt sie sich als eine Polemik der Aufklärung gegen den jesuitisch gewordenen Katholizismus; eine Polemik, die von Katholiken ausging und in ihrer Gereiztheit den römischen Katholizismus mit dem Christenthum selbst verwechselte. Voltaire, Rousseau, Diderot wurden die Träger dieser antijesuitischen Richtung, welche troß ihrer irreligiös erscheinenden Leidenschaftlichkeit thatsächlich dem wahren Evangelium oft viel näher stand, als das offizielle Kirchenthum. Dem Inhalte nach sympathisirte mit ihnen der englische Humor und die deutsche Humanität. Die leßtere ging auch auf ben Hellenismus zurück und erreichte in Verbindung mit ihm ein viel höheres und reineres Kunft-Ideal, als das novantike der Franzosen gewesen war. Bei den Franzosen trat dann im Gegenkampf des Humanismus gegen den monarchischen Abfolutismus und kirchlichen Jesuitismus der Bruch der Revolution ein, der aber bei ihnen, weil sie immer noch die kirchliche Reform ausschließen, troß aller blutigen Erneuerungen, stets wieder in den Absolutismus des römischen Cäsarenthums zurückschlägt. Sozialismus und Kommunismus Sozialismus und Kommunismus Find verlarvte Formen des Bedürfniffes nach wahrem Gemeindeleben und nach evangelischer Freiheit des Gewiffens. Die Extreme der" Revolution haben aber auch jedesmal die Neaction der mittelalterigen Romantik zur Folge gehabt, die als eine forcirte wiederum die Polemik der Aufklärung in der potenzirten Gestalt der blasirten Ironie nach sich zog. Die moderne Romantik proklamirt den Glauben an die Wahrheit des mittelalterigen Ideals, hat ihn aber entweder felbst nicht mehr, oder steht mit ihm unserer rationellen Gegenwart als ein Don Quixote gegenüber. Sie wird daher, um sich selbst zu täuschen, fanatisch und träumt sich aus den Widersprüchen der Wirklichkeit in die mondbeglänzte Zaubernacht der märchenhaften Illufionen hinüber. Die blasirte Ironie aber, die als ihr eigenes Resultat aus ihr hervorgeht und in den Formen daher oft noch ganz romantisch erscheint, entbehrt des sittlichen Ernstes eben so sehr, spielt mit dem Weltschmerz, zerrt an den heiligen Banden der Familie, verspottet den Patriotismus und versinkt in die Koketterie mit den Phantomen ihres Egoismus, die nicht weniger hohl find, als der groteste Spuk der feudal-hierarchischen Romantik."

,,Schon die französische Romantik (V. Hugo, Balzac, Chateaubriand, Delavigne, Lamartine, A. de Vigny, G. Sand) verfolgt wieder positive ernstere Zwecke. Das sogenannte junge Deutschland bemühte fich in seinen Verirrungen ebenfalls um einen tieferen Gehalt. Unsere heutigen Dichter suchen nach einem Ideal, welches wieder einen affirmativen Muth in die Seele flöße und die Freiheit mit der Schönheit im Leben der Völker vermähle. Schönheit ohne Freiheit ist das alte, todte, höfifche, pseudoklaffische Ideal; Freiheit ohne Schönheit ist das Nachtbild einer rohen, ungefügen, genußlosen, düsteren Macht. Unsere Dichter wollen die Humanität als die ihnen selbstbewußte und in ihrer Erscheinung schöne Gestaltung der Freiheit. Das Bewußtsein einer ethisch-religiösen Wiedergeburt der Menschheit durch die solidarische Verbundenheit der Völker, durch die Versittlichung des Staatslebens, durch die Emancipation der Religion von Aberglauben und Pfaffenthum (und seßen wir hinzu von politischer Bevormundung), durch die Ehre der Arbeit, durch die Freilassung der Jn. dividualität und durch Bildung fängt an, als die Morgenröthe eines neuen, schöneren Ideals am Himmel der Poesie aufzugehen.“

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Alle die hier zuleßt angedeuteten Phasen in der EntwickelungsGeschichte des modernen Ideals der Freiheit und Selbstgewißheit, überhaupt die gesammte Poefie des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, hat der Verfasser in dem vorliegenden Werke nur skizziren wollen, „da diefelbe von Schloffer, Gervinus, Mundt, Scherr, Hille. brand, Gelzer, Menzel, A. Jung, Pruß, Marggraf, Taillandier, namentlich aber von Julian Schmidt und so eben von Rudolph Gottschall, sehr ausführlich dargestellt ist."

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Wir müssen gestehen, daß eine Geschichte gerade dieser Periode der Poesie, von des Verfassers Meisterhand dargestellt, uns sehr willkommen gewesen und keinesweges als ein Lurus erschienen wäre. Der hochgeschäßte Herr Verfaffer hätte, nachdem er uns so viel nachdem er uns beinahe die ganze Welt der Poesie als einen „Kosmos" in seiner Art gegeben, uns auch den Reft dieses Kosmos, so weit derselbe schon wirklich da ist, wenigstens doch in einem vollständigen Entwurf geben sollen! Es wird gewiß einen jeden Leser, der dieses Buch zu würdigen vermag, unangenehm berühren, ein Werk von so allgemein literarischer Bedeutung, im Uebrigen durchweg so schön geordnet und so sauber ausgeführt, in seinem leßten Theile noch so chaotisch, so bruchstückartig, so unvollendet zu sehen.

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Amerikanisches Urtheil über die europäischen Heere.

Das amerikanische Putnam's Monthly bringt in seinen drei legten Heften einen umfaffenden Artikel über die Verfassung und die Zuftände der europäischen Heere. Es giebt also doch ein Publikum in der Union, das sich nicht immer und ewig nur um business, Geldmachen und Uebervortheilen der Anderen, sondern das sich auch um politische und sonstige Verhältnisse des Auslandes kümmert. Die Möglichkeit, jemals mit europäischen Heeren, das englische ausgenommen, in thätliche Berührung zu kommen, liegt so fern, daß es eben nur ein wissenschaftliches, ethnographisches Intereffe sein kann, was diese Artikel hervorgerufen. Sie sind von einem Amerikaner abgefaßt, dem vielleicht die im vorigen Jahre von einem deutschen Offizier herausgegebene Schrift über die europäischen Heere vorgelegen, der jedoch dabei ganz selbständig geurtheilt und gearbeitet hat und dem neben eigener Beobachtung auch noch andere Quellen zu Gebote geftanden haben müssen. Namentlich vermuthen wir, daß einer der in den Jahren 1848-1849 aus dem preußischen Heere geschiedenen, mißmuthigen Offiziere etwa Herr Wilhelm Rüßtow in der Schweiz dem Amerikaner Mittheilungen gemacht habe, denn dieser Mißmuth tritt an einer Stelle, wo es heißt, daß junge Artillerie- und IngenieurOffiziere, welche neue Vorschläge zu machen haben, in der russischen Armee eher Gehör und Avancement finden, als in der preußischen, deutlich genug hervor. Gleichwohl läßt der Berichterstatter dem preußischen Heere, an dem er hauptsächlich nur die kurze, dreijährige Dienstzeit tadelt, Gerechtigkeit widerfahren, indem er die hohe Bildung feines Offizier-Corps und den auch unter den gemeinen Soldaten herrschenden verständigen Sinn rühmt.

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Von den Franzosen sagt er unter Anderem: Die Militairschulen Frankreichs find als Muster ihrer Art zu betrachten. Der französische Offizier braucht nicht eine so allgemeine Bildung zu be fißen, wie man sie von dem preußischen verlangt, aber die Schulen, die er durchzumachen hat, statten ihn mit einer tüchtigen militairischen Bildung, so wie mit einer genügenden Kenntniß der Hülfswissenschaften und einer gewissen Fertigkeit in mindestens Einer lebenden Sprache, aus. Es giebt jedoch noch eine zweite Klasse von Offizieren in der französischen Armee, diejenigen nämlich, die aus gedienten Unteroffizieren gewählt worden. Diese Leßteren avanciren selten höher, als bis zum Capitain, so daß man bei den Franzosen oft junge Generale und ganz alte Hauptleute sieht, welches System übrigens vom besten Erfolg ist. Im Ganzen zeigt die französische Armee in allen ihren Eigenthümlichkeiten, daß sie einer kriegerischen, regsamen Nation angehört, welche auf ihre Vertheidiger stolz ist. Daß die Disciplin und Wirksamkeit dieser Armee den Verführungen zu widerstehen ver. mochte, die ihr vom Präsidenten Louis Bonaparte geboten wurden; daß die Prätorianer vom Dezember 1851 so bald die Helden der Krim werden konnten, spricht gewiß ungemein zu ihrem Ruhme. Niemals wurde eine Armee so schmeichlerisch behandelt, niemals von der

eigenen Landesregierung so verhätschelt und niemals so unumwunden zu allen Arten von Exzeffen aufgefordert, als die französische im Herbste 1851. Ganz besonders war den Truppen während des Dezember-Bürgerkrieges alle mögliche Freiheit gelassen worden. Gleichwohl kehrten sie sehr bald und ohne Ausnahme wieder zur alten Manns zucht und zu ihrer Pflicht zurück. Allerdings ist auch in der Krim das Prätorianer-Element einige Mal an die Oberfläche getreten, doch Canrobert hat es immer sehr rasch wieder zu unterdrücken gewußt." Das, was der amerikanische Reviewer von der englischen Armee berichtet, ist ganz besonders prägnant; wir werden es darum nächstens vollständig mittheilen. Einstweilen lassen wir hier einige seiner Be merkungen über die russische Armee folgen.

Nachdem der Verfaffer der Tapferkeit, der Disziplin und der Genügsamkeit des russischen Soldaten volle Gerechtigkeit hat wider fahren laffen, geht er zu einer Charakteristik der nationalen Besonderheiten der Armee über, wobei er keinesweges, wie es in den legten Jahren unter den Yankee - Publizisten Mode geworden, vor Ruffomanie die in die Augen fallenden Fehler der Russen, dieses asiatisch-slavischen Volksstammes, übersieht. „Im Ganzen“, sagt der Amerikaner,,,trägt die ruffische Armee den Stempel einer Institution, die weit voraus ist gegen den allgemeinen Civilisations-Zustand des Landes und die daher auch alle Nachtheile und Unzuträglichkeiten einer solchen Treibhaus-Kultur zeigt. Im kleinen Kriege sind die Kosaken die einzige, wegen ihrer Thätigkeit und Unermüdlichkeit, wirksame Truppengattung, aber ihre Liebe zu Trunk und Plünderung macht sie ihrem Befehls. haber sehr unzuverlässig: Im großen Kriege trägt die Langsamkeit, mit der sich die Ruffsen bewegen, dazu bei, daß ihre strategischen Manöver nicht leicht Besorgniß erregen, sie müßten es denn mit einem so nachlässigen Feinde zu thun haben, wie die Engländer im vorjährigen Herbste. In einer geordneten Schlacht sind sie dem Soldaten gegenüber unerschütterliche Gegner, doch den Generalen, die fie angreifen, weniger furchtbar. Ihre Dispositionen sind im Allgemeinen sehr einfach, auf die ihnen vorgeschriebenen Normalregeln gegründet und leicht von dem Feinde zu errathen. Darum und weil es den meisten ihrer Offiziere an der nöthigen Ausbildung und Einsicht fehlt, während der russische Soldat schwer von der Stelle zu bringen ist, unternehmen sie auch nicht leicht große Manöver auf offenem Schlachtfelde."

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Der Uebergang vom Christenthum zum Koran. Ein französischer Geistlicher, Herr Abbé Bourgade, der früher in Algerien als Priester fungirte und jest als „Aumonier" bei der Kapelle des heiligen Ludwig im alten Karthago angestellt ist, hat an der Stelle, wo einst der heilige Auguftinus gewirkt, mehrere Schriften über den Islam in seinen Beziehungen zum Christenthum herausgegeben, die im französischen Afrika viel gelesen werden.") Als die bemerkens werthefte unter diesen Schriften wird die leßte genannt, die unter dem Titel „Der Uebergang vom Koran zum Evangelium“ erschienen ift, und worin der Verfaffer in der Form von Dialogen einen Mufti, einen Kadi und einen katholischen Priester, zu denen später noch einige Muhammedaner treten, über den relativen Werth des Islams und des Christenthums sich unterhalten läßt. Man rühmt an diesen Dialogen ihr vollständiges Eingehen in den Geist des Orients, dessen Sprachen, namentlich die semitischen, der Verfasser von Grund aus studirt hat, weshalb er auch den Koran beffer und genauer als die meisten muhammedanischen Laien kennt. Es sind diese Dialoge dazu bestimmt, die jezt unter französischem Scepter lebenden, afrikanischen Araber nicht blos mit dem Geiste des Christenthumes bekannt zu machen, sondern auch, wo möglich, dem leßteren zuzuführen. Um nicht von vorn herein sein muhammedanisches Publikum gegen sich einzunehmen, ift Herr Bourgade klug genug, den Koran gar nicht anzugreifen, sondern ihn vielmehr als eine für die Araber nothwendig gewesene Vorstufe zur Erkenntniß des Evangeliums darzustellen. Als einer der Interlokutoren des Dialogs, ein Algerier, über die Wahrhaftigkeit des Korans wankend zu werden anfängt und die Erklärung abgiebt, er werde fortan nur an einen Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde, glauben, ohne Rücksicht auf irgend ein geoffenbartes und niedergeschriebenes Wort, ermahnt ihn der katholische Priester, Achtung vor dem heiligen Buche des Islams zu behalten, das er gegen die Angriffe des Unmuthes vertheidigt. Als Diener Jesu", sagt er zu den Muhammedanern, „kann ich Euch nur das wiederholen, was er selbst zu den Kindern Israel's sagte: Ich bin nicht gekommen, Euer Gefeß zu zerstören, sondern um es zu erfüllen." — Ein junger Mann, der voll Eifer gegen das Evangelium ist und sich in dieser Weise ausspricht,

*) La Clef du Coran; Les Soirées de Carthage und Le Passage du Coran à l'Evangile.

wird von dem Priester durch Citate aus dem Koran selbst widerlegt. "Dadurch", sagt er ihm,,,daß Du Muselmann bist, bist Du schon ein halber Christ. Der Koran ist die Vorrede des Evangeliums, und wem die Vorrede nicht genügt, den bin ich bereit, in die frohe Botschaft des Buches selbst einzuführen."

Mis Aguilar. Herr Profeffor Lelio della Torre in Padua, deffen Rede über Moses Mendelssohn und seinen Einfluß auf die deutschen Juden in unseren Literaturberichten aus Italien (Nr. 53) erwähnt wurde, hat kürzlich der früh verstorbenen, besonders von ihren Glaubensgenoffen sehr betrauerten, englischen Schriftstellerin, Mig Grace Aguilar, Verfasserin der ,,Women of Israel" und vieler anderen auf die Bildung und Veredelung des weiblichen Geschlechts berechneten Werke, ein biographisches Denkmal gefeßt.") Grace Aguilar, von spanischer Abstammung, in England geboren, ruht in deutscher Erde, bei Frankfurt a. M., wo sie im Jahre 1849 im dreiunddreißigsten Jahre ihres Alters verstarb, nachdem besonders von ihren Glaubensgenoffen in Amerika ihre Schriften mit großem Enthusiasmus waren aufgenommen worden. Einzelne ihrer Arbeiten sind auch ins Deutsche überseßt, doch verdienten sie es sämmtlich, denn sie tragen alle den Stempel eines edeln weiblichen Herzens und sind mit Begeisterung nicht blos für die Religion, zu welcher die Verfasserin fich bekannte, sondern auch für alles Göttliche und Erhabene, für Alles, was den Menschen heiligen und beseligen kann, geschrieben. Es ist interessant, daß der in Deutschland ruhenden Engländerin von spanisch-jüdischer Abkunft nunmehr auch ein italiänisches Denkmal gesezt ist. Herr Professor Lelio della Torre hat diese Schrift mit gewohnter südlicher Wärme, aber auch mit klassischer Eleganz abgefaßt.

Die angeblichen Nachkommen Luther's in Amerika betreffend, hat die Redaction völlig Recht, ihrer Mittheilung in Nr. 107 hinzuzufügen, daß anderen Nachrichten zufolge die männliche Nachkommenschaft des deutschen Reformators mit Martin Gottlob, der 1759 als Rechtskonsulent in Dresden starb, erloschen sei." Dieser Martin Gottlob, geb. 1707 in Wurzen, stammte von des Reformators älterem Enkel, Johann Ernst, ab im fünften Geschlecht und blieb unverehelicht. Er hatte noch einen älteren Bruder, Friedrich Martin, Bürgermeister in Zeiß, der bei seinem Ableben 1742 nur zwei Töchter hinterlassen hatte. Der Vater dieser zwei Brüder, Johann Martin, der 1756 als Senior des Stiftes Zeiß, 94 Jahr alt und erblindet, ftarb, beklagte in seinen leßten Tagen schmerzlich, daß mit seinen Söhnen der Mannsstamm und Name D. Martin Luther's ausgehen sollte. Denn auch sein Vetter, Martin Luther, Kürschner in Pegau, der einzige noch übrige männliche Sproß des Reformators, von dessen jüngerem Enkel, Johann Friedrich, war bereits 1743 mit Hinterlaffung von nur drei Töchtern mit Tode abgegangen. Wir entlehnen diese Angaben einer wichtigen und intereffanten Schrift des Rektors und Professors Nobbe in Leipzig, **) selbst eines Descendenten des großen Mannes, aus welcher fattsam hervorgeht, daß von „direkten Nachkommen Luther's in Amerika" nicht die Rede sein kann. E. R-r.

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Das

Berichtigung zum Conversations-Lexikon. Brockhaussche Conversations - Lexikon, 10te Auflage, ist, wie bekannt, vor wenigen Monaten in funfzehn Bänden und einem Registerbande, wie vor ihr die achte, und mit einem ausführlichen, ungemein intereffanten Bericht über Entstehen und Fortgang des Werks zum Schluß gekommen. Der wachsende Beifall, womit das Werk mit jeder neuen Ausgabe aufgenommen worden ist, überhebt mich der Mühe, das über den spezifischen Werth deffelben in diesen Blättern (1852, Nr. 145) von mir Gesagte zu wiederholen. Sei mir dagegen eine persönliche Rechtfertigung, vielmehr Verwahrung gestattet. Unter den Artikeln im Buchstaben A und B befinden sich mehrere von mir theils umgearbeitete und fortgeführte, theils völlig neue, unter leßteren der Artikel „Barberini“. Dieser ist jedoch so voll grober Errata, die einzig auf Rechnung des Sezers und Korrektors kommen, daß ich besorgen muß, von dem dereinstigen Revisor oder Umarbeiter des Artikels in der eilften Auflage der Unwissenheit oder Leichtfertigkeit bezüchtigt zu werden, falls ich solchem Vorwurf nicht in Zeiten begegne, und demzufolge die Besiger der zehnten Auflage geziemend ersuche, folgende Berichtigungen in ihrem Exemplare vorzunehmen: Zeile 5 lies 1679 ftatt 1697, 3.15 lies Antonio IV. statt Antonio III., — Zeile 21 lies 1671 ftatt 1677, 3eile 23 lies Taddeo's statt Laddeus, Zeile 38 lies erbauten, den größten statt erbauten, der größte. E. K-r.

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*) Miss Aguilar. Schizzo biografico. Padova, 1855. **) Stammbaum der Familie des D. Martin Luther zur dritten Säkularfeier seines Todestages, des 18. Februar 1846. Mit vielen Beilagen, Stamms register und lithographirtem Stammbaum. Grimma, 1846. 144 GG.

Wöchentlich erscheinen 3 Nummern. Breie jährlich 3 Thlr. 10 Egr., halbjöhrlich Ebir. 20 Sgr. und vierteljährlich 25 Sgr., wofür tas Blatt im Inlande portofrei und in Berlin frei ins Haus geliefert wird.

No 121.

für die

Beftellungen werden von jeder beutschen Buchhandlung (in Berlin bei Beit u. Comp., Jägerftt. Nr. 25, und beim Spediteur Reumann, Niederwallfir. Nr. 21), so wie von allen lönigl. Post-Uemtern angenommen.

Literatur des Auslandes.

Frankreich.

Berlin, Dienstag den 9. Oktober

Jules Simon's philosophisch- ethischer Standpunkt. Nach seinem Buche über die Pflicht". Durch einen ausführlichen Artikel (Jahrgang 1854, Nr. 59) haben wir unsere Leser auf ein im vorigen Jahre von Jules Simon ver. öffentlichtes Buch aufmerksam gemacht, in welchem unter dem schlichten Titel: „Die Pflicht" die Moral in ihrem ganzen Umfange abgehandelt wird. Der erwähnte Artikel wird nicht verfehlt haben, unsere Leser von dem hohen wissenschaftlichen Werth dieses Buches und von der großen praktischen Bedeutung, die dem Erscheinen einer solchen Darstellung der Moral in unserer Welt und besonders in Frankreich zuzuschreiben ist, zu überzeugen. Dem Buche ist von der französischen Akademie der Preis ertheilt worden; die Aufnahme, welche daffelbe beim Publikum gefunden, hat die Erwartungen des Verfaffers, wie die fer selbst gesteht, bedeutend übertroffen; das Buch liegt uns bereits in einer dritten Ausgabe vor. Der Standpunkt, den der Verfaffer dieser in der wissenschaftlichen Welt Frankreichs mit so allgemeinem Beifall aufgenommenen Ethik einnimmt, wird von ihm selbst als der Standpunkt der Philosophie bezeichnet: er erklärt in der Vorrede zur dritten Ausgabe, daß die günstige Aufnahme, die sein Buch gefunden, ihm darum besonders werthvoll erscheine, weil sie beweist, daß es eine Uebereilung gewesen, wenn man zu behaupten gewagt, daß es mit der Philosophie vorbei sei“. Es wird dem Zwecke dieser Blätter durchaus entsprechend sein, wenn wir durch einige Mittheilungen aus dem gediegenen Werke Jules Simon's den philosophisch - ethischen Standpunkt darlegen, der sich gegenwärtig eines so allgemeinen Beifalls in der äußerlich noch der römisch-katholischen Kirche angehörigen gebildeten Welt Frankreichs zu erfreuen hat. Die Mittheilungen, die wir hier geben wollen, beziehen sich auf folgende Gegenstände: 1) die Nothwendigkeit der Philosophie; 2) das Verhältniß der Philosophie und des Philosophen zur Religion; 3) die menschliche Glückseligkeit.

Ueber den ersten Gegenstand spricht der Verfasser sich in der Vorrede zur dritten Ausgabe seines Buches aus; den zweiten finden wir in einem Abschnitt seines Buches behandelt, der die Ueberschrift hat: „Ueber das Recht Gottes auf seine Geschöpfe und über die für den Menschen daraus hervorgehenden Pflichten"; die Idee der menschlichen Glückseligkeit hat der Verfasser im Schlußkapitel seines Buches über ,,die Pflicht" entwickelt.

1. Die Nothwendigkeit der Philosophie. Man fängt wieder an, Geschmack an philosophischen Studien zu finden, nachdem lange Zeit die Feinde der Denkfreiheit das Wort geführt. Die neuesten philosophischen Werke von Cousin, von Jean Reynaud, von Eugène Pelletan haben die Beschäftigung mit der Politik in den Hintergrund gedrängt: fie haben in allen Klaffen die regste Theilnahme erweckt. Es ist das Privilegium der Philosophie, Croft und Stärkung zu geben. Wenn die Erde uns nichts mehr zu sagen hat, erheben wir uns mit um so größerer Kraft in unsere ewige geis ftige Heimat; wenn das Gegenwärtige uns schwindet, flüchten wir uns in die Welt des Gedankens, in der uns die Zukunft entgegenstrahlt. Nur Dunkel und Täuschung giebt es in der Welt der Thatsachen; Licht und Zuverlässigkeit haben wir nur in der Welt der Prinzipien.

Die Philosophie hat drei Arten von Gegnern: die Einen verwerfen sie als unnüg, oder als ohumächtig; die Anderen verdammen sie als gefährlich.

Mit den Ersten habe ich nichts zu schaffen; es sind Menschen, Deren ganze geistige Thätigkeit sich nur auf die materiellen Lebensfragen bezieht; welche die Wissenschaft nur in dem Maße, in welchem Production und Handel dadurch gefördert werden, die Künfte nur in Bezug auf den Lurus und den Comfort des Lebens, die Tugend nur um der Ehre oder der Vortheile willen, welche sie einbringt, für etwas werth halten.

Was die rechtschaffenen Geißter betrifft, welche die Größe der philosophischen Probleme wohl begreifen, aber sich von der Philosophie

1855.

wegwenden, weil dieselbe diese Probleme doch nicht zu lösen vermag, so gestehe ich, daß ich sie nicht ohne tiefen Schmerz habe anhören können; denn ihre Besorgnisse und ihre Leiden sind mir nicht fremd. Bei jedem Schritte, den man vorwärts macht, findet man Dunkelheiten neben dem Licht. Die menschliche Wissenschaft ist von Schranken umgeben, über welche unsere Wißbegierde hinauswill. Wir möchten alle Ursachen ergründen, und ergründen nur so wenige; wir möchten die legte Ursache erkennen, und wir müssen gestehen, daß sie unerkennbar ist; wir möchten alle Pflichten des Lebens in bestimmte Formeln bringen, und wir gelangen nur zu einigen allgemeinen Regeln.

Es ist ein peinvoller Zustand, wozu sollten wir es leugnen? Aber unsere Gegner begehen ein Unrecht, indem sie das, was wir haben, verwerfen, weil sie haben wollen, was wir nicht haben können. Wohin sich flüchten, wenn man die Philosophie verläßt? — In den Skeptizismus? Das ist der Tod. Wie? weil das göttliche Wesen uns unbegreiflich ist, sollen wir die Beweise für das Dasein Gottes verwerfen? - Sollen wir den Glauben an die Vorsehung aufgeben, weil die Wege der Vorsehung uns zum Theil verborgen find? Wenn wir nicht im Stande sind, den Menschen eine feste Regel für alle Verhältnisse des Lebens zu geben, folgt daraus, daß die Stimme des Gewiffens es nicht verdient, gehört zu werden? — Erkennen wir die Schranken der menschlichen Erkenntniß an, nicht um uns über Gott zu beklagen um dessen willen, was er uns vorenthält, sondern um ihm zu danken für das, was er uns giebt!

Die am meisten zu fürchtenden Gegner der Philosophie sind diejenigen, welche zugleich Gegner der Freiheit sind, welche die Freiheit in ihrem Quellpunkt: in dem Gewissen, ersticken möchten. Ihre Polemik gegen uns nimmt eine doppelte Gestalt an: bald werfen fie der Freiheit ihre Verirrungen vor; bald faffen sie den freien Gedanken in seinen edelsten Speculationen und machen ihm sogar das Gute, welches er hervorbringen kann, zum Vorwurf. Daß man die Freiheit *hat_verantwortlich machen können für die unsittlichen und irreligiösen Lehren, welche die Welt schon so oft in Schranken gefeßt, das begreifen wir allenfalls, wir, die wir die Freiheit anbeten, die wir sie bewahren troß aller Gefahren, die wir ihr treu bleiben unter allen Schicksalen; aber wie sollen wir es uns erklären, daß man, im Namen einer spiritualistischen Glaubenslehre, die Philosophie des Geistes und die Moral der Pflicht kann angreifen wollen?! Was will man? Was hat diese blinde Intoleranz, die in unserer Zeit schon aufgehört hatte, zu bedeuten? Es hat für diese Finsterlinge nichts zu bedeuten, daß die Wissenschaft die Grundwahrheiten ins hellfte Licht seßt, daß sie die Freiheit des Menschen außer Zweifel seßt, daß fie die Gefeße der ewigen Moral deduzirt, daß sie die Existenz eines Gottes, der Schöpfer und Belohner ist, unwiderleglich beweist, daß sie die Geister mit der Hoffnung, ja, mit der Gewißheit der Unsterblichkeit erfüllt; je zuverlässiger die Wissenschaft diese Wahrheiten begründet, desto heftiger bekämpft man sie, als ob man das Monopol des Guten haben wollte, als ob die Tugend aufhörte, anlebenswerth zu sein, wenn sie sich mit der Freiheit verträgt und wenn man im Namen der Vernunft sie lehrt!

Wir haben, Gott sei Dank, nicht mehr nöthig, solche Gegner zu bekämpfen; fie finden neben sich, in ihrer eigenen Partei, genug rechtschaffene Männer, durch die sie an die Gerechtigkeit, an die Wirklichkeit erinnert werden. Nach den Anstrengungen, die der freie Gedanke im sechzehnten Jahrhundert gemacht; nach dem Einfluß, den die Schule des Descartes ausgeübt; nach der französischen Revolution, deren ewiges Verdienst dies ist, daß sie überall die Freiheit in die Stelle des Privilegiums und die Vernunft in die Stelle der Tradition gesezt, hat die Philosophie nicht mehr die Aufgabe, sich vor der Welt zu rechtfertigen.

Was ihr vielleicht Noth thut, ist dies, daß sie sich der Welt mehr in der Nähe zeigt, daß sie sich zugänglicher macht, daß sie durch ihre Verbreitung jeden Anlaß zu ihrer Verleumdung beseitigt. Sie kann nur gewinnen, wenn sie aus den Schranken der Schule heraustritt und auf die Leitung der Geister den Einfluß auszuüben anfängt, welcher ihr zukömmt.

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später muß man sich ihr doch ergeben; da dieses Leben in jedem Augenblick ein Ende nehmen kann, ist es unmöglich, daß man sich nicht fragen sollten: Was ist der Tod?

Bei einem religiösen Volk könnte man allenfalls die Gleichgültig keit in Bezug auf die Philosophie begreiflich finden, weil alle Religion eine Lösung der Fragen über den Ursprung, die Bestimmung, den Endzweck des Menschen enthält; in unserer modernen Welt kann diese Gleichgültigkeit immer nur eine, so zu sagen, auf der Oberfläche erscheinende und scheinbare sein. Der Lärm, den diese Welt in uns verursacht, ist immer nicht stark genug, um die andere Welt bei uns ganz in Vergessenheit zu bringen.

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Ist die Welt ewig? Und wenn sie es nicht ist, was ist Gott? Bekümmert sich Gott um die Angelegenheiten der Erde? Wirkt er nur in den großen Ereignissen mit, welche die Menschheit interessiren? Oder, wenn er seine Geschöpfe in allen Einzelnheiten ihrer Existenz regiert sind wir frei? werden wir von einer Nothwendigkeit beherrscht? Hängen wir von unseren Trieben und Leidenschaften ab? Ist das Gesez der Pflicht eine Täuschung oder eine Wahrheit? eine Erfindung der Menschen oder die Offenbarung des göttlichen Willens? Was ist die Seele, deren Regungen wir in uns fühlen? Ist sie ein vergänglicher Funke, den der Tod erlöschen soll, oder ein unsterbliches Wesen, dessen wahre Zukunft jenseits des Grabes liegt? Das sind die Probleme, welche die Philosophie aufstellt und für welche im Leben eines jeden Menschen die Stunde kömmt. Dem entschiedensten Skeptiker dringen fie sich auf dem Sterbebett wieder auf, zu seinem Troft oder zu seiner Verzweiflung, je nach dem Gebrauche, welche er von dem Leben gemacht. Man sage nicht: diese Fragen sind freilich die wichtigsten von allen; aber man muß sie zurückweisen, weil der menschliche Geist außer Stande ist, sie zu beantworten. Man muß wahrlich sehr leichtsinnig sein, um ohne Beweise und ohne vorangegangenes Nachdenken der menschlichen Wissenschaft alle Bedeutung absprechen zu können; und wenn man es übernommen hat, zu beweisen, daß der Mensch zu einer unüberwindlichen Ignoranz verurtheilt ist, so muß man ein sehr verhärtetes Gemüth haben, um sich dabei beruhigen zu können.

Aber im Grunde beruhigt sich Niemand dabei, die weisen Skeptiker prahlen mehr mit dem Skeptizismus, als daß sie wirkliche Skep. tiker sind. Auch wenn wir es dahin bringen könnten, den Gedanken des Todes loszuwerden, könnten wir doch der Philosophie nicht aus dem Wege gehen; sie drängt sich uns mit Nothwendigkeit in der Praxis des Lebens auf; was sie uns zu einer Nothwendigkeit macht, das ist die Pflicht.

Im Augenblick, wo es gilt, sich zum Handeln zu bestimmen, hören wir zwei Stimmen in unserem Innern: die Stimme des Eigennußes, welche uns das anweist, was uns Ruhe, Gefahrlosigkeit, Reichthum, Ruhm oder Macht zu geben verspricht, und die andere Stimme, welche alle Menschen als die Stimme der Pflicht bezeichnen, welche uns zuruft: Vergiß Dich selbst, gieb Dich hin, opfere Dich!

Mögen die Ungläubigen der Stimme des Eigennuges Gehör geben; wer die Pflicht erwählt, mag er sie kennen oder nicht, hat den philosophischen Glauben. Man kann an die Pflicht nicht glauben, ohne an Gott, an die Freiheit, an die Unsterblichkeit zu glauben.

Niemand würde sich der Pflicht opfern, wenn die Pflicht mensch lichen Ursprungs wäre. Man opfert ihr seine Ruhe, sein Vermögen, sein Leben, weil man erkennt, daß sie von Gott kömmt. Der unwiderleglichste Beweis vom Dasein Gottes ist das Leben und der Tod eines Gerechten. Diese Gedanken haben mich bewogen, eine Abhandlung über Moral zu schreiben für die Weltmenschen und besonders für die Aufgeklärten, welche sich zur Philosophie hingezogen fühlen, ohne philosophische Studien gemacht zu haben. Der Titel meines Buches hat das Buch gerettet. Der große und religiöse Name der Pflicht hat es in Schuß genommen gegen die Feinde der Philosophie und gegen meine eigene Schwäche.

Vielleicht ist es an der Zeit, zu den Menschen von ihren Pflich. ten zu sprechen, gerade jeßt, wo die meisten nur mit ihren Rechten beschäftigt erscheinen und sich dazu fortreißen laffen, ihr Recht mit ihrem Intereffe zu verwechseln. Die Charaktere find selten, die Begierden find vorherrschend, die Nachsicht im Hinblick auf den glücklichen Erfolg ist maßlos; dazu kömmt noch, daß Theorieen aufgestellt werden, welche dazu bestimmt find, in den Augen der Menschen Alles zu recht fertigen, was von der Pflicht verurtheilt wird. Die Gewalt wird verherrlicht; eine hohe Moral und eine niedrige werden unterschieden; von der Freiheit wird mit Verachtung gesprochen; die Philosophie wird im Vaterlande Abélard's und Descartes' verdammt; die Revolution von 1789 wird verflucht in dem Lande, welches durch sie gerettet und geschüßt worden ist.

II. Das Verhältniß der Philosophie und des Philosophen zur Religion.

Die erste unserer Pflichten ist die, Gott, der die Vollkommenheit

die, daß man dem Moralgefeß gehorsam ist, d. h. daß man aufrichtig, gerecht, wohlthätig ist, daß man sein Wort hält, daß man ohne Bedenken sein Intereffe der Pflicht zum Opfer bringt, daß man nicht in fich durch Niederträchtigkeiten den edlen Charakter der Menschlichkeit entwürdigt, daß man mit der strengsten Gewissenhaftigkeit es unterläßt, die Rechte der Anderen zu verleßen, daß man die Gelegenheit sucht, zum Glück der Mitmenschen beizutragen, und daß man, sein Herz mit Wohlwollen für alle Geschöpfe Gottes erfüllt.

Aber es ist genug, um Gott zu ehren, daß man sich treu seinem Geseze zeigt?

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Die Dankbarkeit soll nicht stumm sein; sie soll sich auch äußerlich zu erkennen geben. Kinder Gottes, sollen wir unseren Vater auch preisen. Man wende nicht ein, daß Gott unserer EhrfurchtsBezeigungen nicht bedarf; die Größe des Wohlthäters enthebe uns nicht unserer Pflicht, ihm zu danken. Unsere Dankbarkeit, unnüß für Gott, ist nüßlich für uns. Die dankbare Liebe zu Gott giebt uns einen neuen Antrieb, das Gute zu lieben und auszuüben. — Welches ist nun die rechte Art der Gottesverehrung, die zu der Befolgung des Moralgefeßes noch hinzukommen foll? Es ist dies schwer zu be= stimmen. Zeigen wir zunächst, daß die philosophischen Forderungen fast nichts gemein haben mit den Vorschriften der positiven Religionen. Die Philosophie und die Religion berühren sich nothwendig in mehreren Punkten, da fie beide zum Zweck haben, die Pflichten des Menschen in diesem Leben zu regeln und ihm zu zeigen, welche Zukunft in jenem Leben sein wird. Sie unterscheiden sich hauptsächlich darin, daß die Philosophie sich die Mühe giebt, die Lehren, welche wir glauben sollen, wissenschaftlich zu begründen, während die Religion sie im Namen Gottes aufstellt. Es folgt hieraus, daß die Autorität in der Philosophie Nichts, in der Religion Alles gilt. Die Philosophie fordert uns auf, zu untersuchen und zu urtheilen; die Religion verbietet es uns. Eine philosophische Lehre hat für den, welcher sie vernimmt, nur die Geltung, welche er ihr zuerkennen will, nachdem er die Gründe erwogen, auf welche sie sich stüßt. Ein religiöses Drama muß ohne Weiteres angenommen werden von einem Jeden, der die Autorität anerkennt, in deren Namen es verkündet wird. Die Religion hat eine Abneigung gegen alle Fragen von rein wissenschaftlichem Interesse und regelt mit Genauigkeit Alles, was sich auf das Heil des Menschen bezieht. Die Philosophie erforscht alle Thatsachen, erläutert alle Prinzipien, läßt keinen Umstand unberücksichtigt; aber in Bezug auf viele wesentliche Punkte gesteht sie zu, noch unvollendet, noch schwankend, noch unvollständig zu sein.

In der Religion giebt es nothwendig ein fest bestimmtes Bekenntniß für den Glauben, eine organisirte mächtige Kirche für die Disziplin, einen geregelten Kultus für das religiöse Leben. In der Philosophie giebt es so viele Bekenntnisse als Schulen, und diese Bekenntnisse ermangeln allzu oft noch der Bestimmtheit und Klarheit. Es giebt in der Philosophie weder eine Kirche, noch eine Hierarchie, noch eine Disziplin; es kann in ihr auch keine bestimmten Kultusvorschriften geben; denn es fehlen in ihr die Bedingungen zur Aufstellung derselben, und zur Aufrechthaltung derselben würde die Autorität fehlen.

Es kann sein, daß ein Philosoph zugleich einer positiven Religion zugethan ist. Man kann diese Möglichkeit nicht leugnen, da man sonst auch leugnen müßte, daß Descartes römisch-katholisch, oder daß Malebranche ein Philosoph gewesen sei.

Wenn die religiöse Wahrheit und die philosophische Wahrheit sich widersprechen, so ist klar, daß man beide nicht zugleich annehmen kann; aber das Wesen der positiven Religion und das Wesen der Philosophie bringen es keinesweges mit sich, daß ihre beiderseitigen Lehren sich widersprechen müssen.

Der Philosoph, welcher mit seinen Ueberzeugungen keiner positiven Religion angehört, würde sich der Heuchelei schuldig machen, wenn er die Kultusformen einer positiven Religion mitmachte, um seine Ehrfurcht gegen Gott auszudrücken. Die Pflicht eines ungläubigen Philosophen gegen eine positive Religion fordert: 1) Duldsamkeit; 2) Ehrerbietung; 3) Festigkeit.

Er ist ihr Duldsamkeit schuldig, weil die Duldsamkeit eine der Gestalten der Freiheit ist, und weil die Philosophie, welche die Freiheit für sich in Anspruch nimmt, dieselbe den Anderen nicht mißgönnen darf. Der Unduldsame verlegt nicht blos feine Pflicht gegen seine Mitmenschen, indem er ihr Gewiffen unterdrückt, sondern auch seine Pflicht gegen Gott, indem er die Verehrung hindert, welche ein Theil der Menschheit ihm widmen will. Das Gesagte ist blos auf die bürgerliche Toleranz zu beziehen, d. h. auf die Toleranz des Staates und der Staatsbürger in Betreff religiöser oder philosophischer Anfichten. Weder eine Kirche, noch ein Einzelner, noch ein Staat können, ohne ein Verbrechen zu begehen, diese bürgerliche Toleranz beseitigen wollen; aber eine positive Religion, welche auf göttlicher Offenbarung zu beruhen glaubt, muß in Bezug auf ihre eigenen Bekenner nothwendig unduldsam sein; sie ist nothwendig mit der kirchlichen In

China.

Chinesischer Sozialismus und Kommunismus.

(Schluß.)

Eine so radikale Revolution durch das ganze himmlische Reich, welche alles Grundeigenthum aufhob, allem Reichthume den Krieg erklärte und allen Klassen uniform die Hände band, um sie, wie Beamte und Marionetten, an den Bändern zu dirigiren, ließ sich natürlich, troß der absoluten Gewalt, in deren Namen fie durchgeführt wird, nicht ohne Opposition geltend machen. Wir finden deshalb auch eine starke polemische Vertretung der Eigenthumsrechte in der Person des berühmten Dichters und Staatsmannes Sfe-ma-kuang, einem der berühmtesten Namen in der chinesischen Kulturgeschichte, in welchem fich alle gesunde Einsicht in die Bedingungen sozialen Gedeihens und der Muth des Kampfes gegen den absoluten Staatskommunismus vereinigten. Auf seiner Seite standen natürlich in ihrem Interesse alle Reichen und großen Grundeigenthümer, eben so die Gebildetften und Intelligenteften, die genug Adam Riese und Raison hatten, die Truggebilde Wang-gan-ché's zu durchschauen. Aber Leßterer hatte nicht nur den absoluten Herrscher, sondern auch die großen Massen für sich, so daß er feststand, so lange diese beiden Stüßen hielten. Auch war er feiner Sache gewiß, so daß er seine Macht nie dazu mißbrauchte, Angriffe, Satiren und Pasquille, die in Maffe gegen ihn geschleudert wurden, mit Untersuchungen und Strafen zu ahnden. In jener moralischen Ruhe und Würde gegen Opposition und Beleidigung zeigte der chinesische Kommunist eine staatsmännische Tugend, die man neuerdings gar nicht mehr findet oder höchstens in England. „Anfänge find immer schwer“, sagte er, „und erst nach Ueberwindung der Schwierigkeiten, welche Gewohnheit und Eigennuß jedem Fortschritte entgegenstellen, kann ein Mann der Reform auf die ersten Früchte seiner Arbeit rechnen. Minister, Adelige, Mandarinen - alle sind gegen mich aufgestanden. Das wundert mich nicht. Sie können das Hergebrachte nicht lassen, das sie so besonders begünstigt oder gar monopolifirt. Doch werden sie sich allmählich an meine Reformen gewöhnen; ihre natürliche Abneigung wird absterben und in Beifall für das, was sie jest haffen, übergehen."

Seine Reformen, seine Revolutionen waren die tiefe, feste Ueberzeugung eines langen Lebens voller Studium und Arbeit. Er glaubte an sie mit der Gluth eines neuen Religionsstifters, eines Erlösers. Deshalb fürchtete er sich vor keinem Feinde.

"

Wang-gan-ché behauptete sich und sein System während der ganzen Regierung Chen-tsung's und versuchte sogar auch, die heiligen und Nationalbücher im Sinne seiner Umgestaltungen zu kommentiren, be fonders durch den Befehl, daß alle Sprachzeichen genau den Sinn haben sollten, die er in seinem Lexikon zu Grunde gelegt. Kurz, Alles ward um- und neugeformt durch den Genius und die Willenskraft dieses einen Mannes, so daß China kurz vor dem Tode des Kaisers zu einem vollkommen ausgeföhnten und verwirklichten Ideale des kommunistischen Staates geworden war. Gleichzeitig hatten sich aber auch die Konsequenzen dieser Gewaltschöpfung, die der menschlichen Natur und Gesellschaft schärfer und schneidender widerspricht, als der fesfelndste Polizei-Staat (da leßterer wenigstens „Ruhe und Ordnung“ erzwingt und Eigenthum und Personen“ vor der Willkür Anderer, wenn nicht seiner selbst, schüßt) immer unerträglicher entwickelt. Viele von den arbeitenden Klassen sagten: Ich finde keine Arbeit, die mir schmeckt. Wozu soll ich mich überhaupt abstrapaziren? Lebe ich doch in einer Assekuranz für Fülle und Freude. Also rücke heraus, Assekuranz-Anstalt! Ich bin krank, Arbeit und Essen schmecken mir nicht. Staat, gieb mir meinen Antheil von Fülle und Freude. Ich habe das Fieber, obgleich ich mitten in China" fiße. Die Arbeit stört nur unsere Freude. Gieb also den Lohn ohne Arbeit. Man kann sich Man kann sich denken, daß es die „Chininer“ etwa eben so machten, wie die Berliner in den „Rehbergen" unter den Wang-gan-chés des Magistrats von 1848. Details über den Verfall des Kommunißten-Staates fehlen; wir erfahren nur, daß sofort nach dem Tode Chen-tsung's die Witwe desselben, welche während der Minderjährigkeit des Thronfolgers herrschte, alle die ungeheuren Schöpfungen Wang-gan-ché's unter dem Jauchzen des ganzen Landes über den Haufen warf, ihn abseßte und Sse-ma-kuang, seinen alten Feind, zum ersten Minister erhob, Wang-gan-ché starb an diesem Schicksale kurz nach seinem Sturze, aber auch Sse-ma-kuang lebte nicht lange. Sein Tod ward als das größte National-Unglück betrauert: überall waren die Läden geschlossen, die ganze Nation erschien weiß in allgemeiner Landestrauer, Weiber und Kinder, die nicht an seinem Sarge niederknieen konnten, als die Leiche nach chinesischer Sitte in den Geburtsort des Verstorbe nen gebracht ward, warfen sich in ihren Wohnungen vor seinem Bilde

nieder."

Natürlich theilten vorher die Rehberger" weder das Jauchzen, noch jezt das Wehklagen des Landes. Die Jünger Wang-gan-che's

Dafür

waren stark geblieben, so daß fie sofort bei Thronbēsteigung des jungen Kaisers, der in Wang-gan-ché's Theorieen auferzogen war, wieder zur Herrschaft kamen und den Kommunisten-Staat durchweg wiederherstellten. Eilf Jahre nach dem Tode Sfe-ma-kuang's war jede Restauration desselben vernichtet und der Wang-gan-chésche Staat wiederhergestellt. Sse - ma- kuang ward geächtet, aller seiner Titel beraubt, zum Feinde des Vaterlandes erklärt, sein Marmordenkmal zerstört und sein Grabhügel der Erde gleich gemacht. ward ein anderes Denkmal mit einem Sünden- und Schandregifter aufgerichtet, feine Schriften wurden verbrannt, sein Name zu einem Schimpfworte gestempelt. „Beim Lesen solcher Geschichte von plög. licher Umkehr öffentlicher Meinung", bemerkt Hue,,,kömmt es uns ganz so an, als hätten wir die Geschichte einer europäischen Nation vor uns", natürlich vor Allem Frankreichs, wo Hochverrath und Staatsrettung, Guillotine und güldener Thron sich oft brüderlich in einen und denselben Helden theilen.

Natürlich brach die kommunistische Schöpfung zum zweiten Male zusammen. Sie dauerte diesmal blos drei Jahre. Im Jahre 1129 ward Wang-gan-ché wieder zum Feinde des Vaterlandes u. s. w. degradirt und sein ganzer Anhang so grimmig verfolgt, daß die meisten fliehen mußten, um grausamen Marterungen zum Tode zu entgehen. Sie suchten in Maffen in den barbarischen Steppen des wilden DschingisChan Zuflucht, deffen grausame, erobernde und verwüstende Horden sehr bedeutend durch die flüchtigen chinesischen Kommunisten vermehrt wurden. Die rohen Mongolen wurden von dem Auswurfe chinesischer Civilisation beherrscht und als Verwüßter und Zerstörer durch ganz Asien bis Europa getrieben, vielleicht um die ganze Welt zu ihrem „Glauben“ zu befehren und Staaten zu erobern, die ihnen „Fülle und Freude“ garantiren müssen, gebratene Tauben, aber auch gespickt, tranchirt und mit dem Saucen-Napfe im Schnabel.

Verwüstung und Zerstörung, Tod und Verderben, Flüche und Verwünschung waren die praktischen Folgen des mit heiligstem Ernste, mit Gründlichkeit und Ausdauer, mit Ehrlichkeit und Begeisterung von einem großen Genius staatlich im großartigsten Maßstabe durchgeführten kommunistisch-sozialen Theorie. Was würde aus ihr werden, wenn man deren Verwirklichung den heutigen kleineren Heilanden übertrüge? Heilanden, deren zweites Wort Galgen und Mord, deren erster Grundsaß Befriedigung einer rohen, kleinlichen Eitelkeit, eines mongolischen Nachegefühls über ihre eigene Nichtswürdigkeit ist? Ich kenne einen solchen Kommunisten-Chef in London, der von dem „kommunistischen Arbeiter-Verein" mit Schimpf und Schande ausgestoßen wurde, nachdem er sich geweigert, über beinahe 600 Thaler, welche die Kommunisten in Deutschland nicht für ihn, fondern für die kommunistische Kommune gesammelt, Rechenschaft abzulegen. Er meinte, das Geld wäre für ihn gewesen, da er so berühmt und beliebt sei, daß man blos seinetwegen gesammelt und geschickt habe. Das war auch im Kleinen ein Beweis gegen die kommunistische Theorie, sehr niedlich und eng, aber praktisch, wie die beiden Beweise in China im Großen.

Man kann eher zehn Pudel dressiren, als einen Menschen aus seiner firen Idee, besonders wenn sie kommunistisch ist, herausschmelzen. Beweise und Adam Niese helfen nichts. Ich dächte aber, solche praktische, apagogische Beweise sind einer guten Wirkung fähig, wenig. stens auf die, welche ehrlich und mit Ernst irren, wie Wang-gan-ché.

Schweiz.

Jean de Charpentier.*)

-a.

Durch den neulich erfolgten Tod dieses trefflichen Mannes hat die Schweiz und vor allen der Kanton Waadt einen seiner ausgezeichnetsten Gelehrten verloren. Seit 1813 Direktor der Salinen von Ber oder Bevieur, damals noch der einzigen in der Schweiz, entsprach er aufs vollkommenste dem Vertrauen, welches ihn in diese Stellung gerufen hatte.") Er starb am 12. September an den Folgen einer Krankheit, die ihn schon vor mehreren Jahren und dann wiederholt befallen hatte. Sein Ende war fanft, und bis zum leßten Augenblick behielt er alle Geistesgegenwart, alle Ruhe und Heiterkeit seines Wesens.

Johann von Charpentier war 1786 zu Freiberg in Sachsen geboren und der jüngere von zwei Brüdern und vier Schwestern, sämmtlich hervorstechend durch ihre Geistes-Anlagen. ***) Nach Be

*) Die_nachstehenden Mittheilungen entnimmt Ginsender einem waadtländer Blatt, Le Pays, das ihm so eben von einem Freunde Charpentier's zugeschickt worden ist.

**) Als im Jahre 1845 die Radikalen im Kanton Waadt triumphirten und nebst ihrer bisherigen Regierung so ziemlich Alles, was zu ihr gehörte und hielt, selbst auch die Männer ernster Wissenschaft beseitigten, regte sich gegen den einen Charpentier nicht ein Lüftchen des Verdachts, nicht eine Stimme der Mißliebigkeit, nicht eine leise, vereinzelte Drohung, zum Beweise, daß er als ein über jedem Parteigetriebe stehender, selbst auch von der aura popularis getragener, den National-Wohlstand wahrhaft fördernder Mann anerkannt war. ***) Sein gleichfalls sehr berühmt gewordener Bater, Johann Friedrich Wilhelm, von Kaiser Joseph II. in den Reichs-Avelstand erhoben, war zuleßt Berg

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