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lungen und Ereignissen hat eine reale Bedeutung, sondern schon die Spannung der Kräfte an sich zeigt dieselbe Bedeutung. Diese Spannung hängt stets von einer grösseren oder geringeren Erregung des Nervensystems der zur Gesellschaft gehörenden Persönlichkeiten ab; und schon allein diese Erregung, wie jede offenbare Kraftäusserung, wirkt ihrerseits gleichfalls real auf die physische und geistige Entwickelung der Gesellschaftsglieder. So wie der noch nicht vom mütterlichen Körper getrennte Keim sich unter dem steten Einfluss der inneren Spannung der organischen Kräfte der Mutter befindet, ein Einfluss, der auch nach Trennung des Keimes vom mütterlichen Organismus dessen nachfolgende Entwickelung bedingt - so steht auch jedes Glied der Gesellschaft von Kindheit an unter dem Einfluss der Spannung, welche die sociale Umgebung auf dasselbe ausübt, und die mehr oder weniger seine physische und geistige Ausbildung, seine körperliche oder psychische Thätigkeit bestimmt.

Dieser latente Einfluss der Gesellschaft auf einzelne Persönlichkeiten, obgleich er grossentheils in unendlich kleinen, unbedeutenden, aber beständig wiederkehrenden und sich wiederholenden Wirkungen sich äussert, wirkt nichtsdestoweniger unausgesetzt auf Gedanken und Gefühle Aller, und folglich auch auf das Nervensystem eines jeden Individuums, vollständig real, indem dasselbe in dieser oder jener Richtung, unter diesen oder jenen Bedingungen angeregt und entwickelt wird, indem die Eigenschaften, Fähigkeiten, Bedürfnisse und Bestrebungen, welche von Generation auf Generation sich fortpflanzen, die Eigenthümlichkeiten darstellen, durch welche sich einzelne Racen, Volksstämme und Nationalitäten unterscheiden, und auf diesem Wege erweckt und ausgeprägt werden. Nach Erlangung einer gewissen Selbstständigkeit kann natürlich die einzelne Persönlichkeit sich von der Gesellschaft, in deren Mitte sie geboren und erzogen worden, trennen und einer anderen socialen Gruppe anschliessen, oder sich mehr oder weniger dem Einfluss einer jeden gesellschaftlichen Umgebung entziehen. Der Mensch ist nicht durch Abkunft und Erziehung so fest gebunden und hinsichtlich seiner weiteren Entwickelung in so genau vorher bestimmte Grenzen eingeschlossen, wie die Entwickelung des thierischen oder pflanzlichen Keimes. Wiederum ein Zeugniss für die höhere Entwickelungsstufe der Gesellschaft als Organismus. Aber dessenungeachtet ist der Einfluss der socialen

Umgebung auf die Persönlichkeit des Menschen um Vieles mächtiger, als man überhaupt vorauszusetzen pflegt, namentlich wenn man in Betracht zieht, dass die Gesellschaft nicht nur sondern vorzugsweise sittlich und geistig auf ihn

physisch,

einwirkt.

Wie in den Naturorganismen sich einzelne Arten von Reflexen in bestimmten Theilen des Nervensystems stärker reflektiren oder concentriren und dieselben in dieser oder jener Beziehung mehr entwickeln und specialisiren, so vereinigen und concentriren sich auch im gesellschaftlichen Organismus die Reflexe einzelner Persönlichkeiten stärker in diesen oder anderen Personen und regen sie zu vielseitigerer und lebhafterer Thätigkeit an. Diese Concentration der Reflexe in einer oder mehren Persönlichkeiten kann von Seiten letzterer eine Gegenwirkung erhöhter Energie und Vielseitigkeit zur Folge haben und auf andere Persönlichkeiten und Gesellschaftsgruppen, oft gegen Wunsch und Willen derselben, einwirken. Das ist der Weg, auf welchem die innere Spannung der socialen Kräfte eine immer höhere Kapitalisation und Specialisirung erlangt. Der Schriftsteller, der Künstler, der Staatsmann wirken auf diesem Wege durch besondere Begabungen und geleistete Dienste auf die Gesellschaft und werden selbst von letzterer beeinflusst. In den Naturorganismen sind die verschiedenen Theile des Nervensystems mehr oder weniger unbeweglich, und die Concentration der Reflexe in diesem oder jenem Abschnitt desselben giebt daher diesem, indem die Reflexe an bestimmte Lokalitäten gebunden und in bestimmte Grenzen eingeschlossen werden, eine besondere Ausbildung, Form und Fügung. Da aber das Nervensystem der Gesellschaft, nicht nur im Ganzen, sondern auch in seinen Theilen, ein bewegliches, selbstthätiges und bewusstes ist, so kann unter solchen Umständen die Concentration der Reflexe nicht an bestimmte Lokalitäten gebunden, durch bestimmte äussere Contouren begrenzt sein. Im Wesentlichen wird aber die Spannung der Kräfte und werden die Resultate derselben durch dieselben Naturgesetze in socialen, wie auch in den Naturorganismen bedingt.

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XIX.

Die Entwickelung der höheren Nervenorgane.

Darwin weist in seinem epochemachenden Werke das Hervorgehen des Menschen aus niederen organischen Formen nach. Nichtsdestoweniger macht. er darauf aufmerksam, dass es dennoch, trotz der nahen Analogie in der Entwickelung, nicht nur der niederen Organe, sondern auch sogar des Nervensystems und Gehirns, unmöglich sei, den ungeheuren Unterschied in der Entwickelungsstufe zwischen den höheren Wirbelthieren und dem selbst am wenigsten ausgebildeten Menschen in Abrede zu stellen. Sich davon zu überzeugen, hatte Darwin selbst bei Umschiffung der Erde Gelegenheit, als er mit den wilden Bewohnern des Feuerlandes an der Südspitze Amerikas in Berührung kam, die, nachdem sie so viel englisch erlernt hatten, um Gedanken austauschen zu können, Begriffe und Gefühle ähnlich ausdrückten, wie jeder beliebige Europäer.

Auf welche Weise lässt sich dieser ungeheure Unterschied zwischen dem Menschen und den höheren Wirbelthieren erklären? Auf welchem Wege vermochte der Mensch ein Produkt in sich auszubilden, das einen so wichtigen Schritt auf der Bahn des Fortschritts bezeichnet? Mit Hilfe welcher Mittel entwickelte er sein Nervensystem, seine inneren Erkenntnissorgane zu einer so hohen Stufe der Vollkommenheit?

Der Weg, auf dem der Mensch diese Resultate erreichte, auf welchem er dieses Plus in sich ausbildete, ist in seinem socialen Leben zu suchen, ist darin begründet, dass der Mensch nicht bei den geschlechtlichen Beziehungen zu seines Gleichen stehen bleibt, sondern als Organ, als Zelle, einem höheren Organismus - der Gesellschaft angehört, die für jedes Individuum dieselbe Bedeutung hat, welche die Naturorganismen für die einzelnen Organe und Zellen, und die ganze physische Welt für die Entwickelung der einzelnen Individuen haben.

Schon Göthe sagte: >das Auge ist ein Produkt des Lichtes.< Die Wahrheit dieses Ausspruchs hinsichtlich aller pflanzlichen und thierischen Organe ist durch die Fortschritte der neueren Biologie vollständig dargethan. Mit gleicher Berechtigung lässt

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sich aber sagen: die höheren Nervenorgane des Menschen sind das Produkt der Gesellschaft. Wir ersuchen den Leser, sich in diese so wichtige Wahrheit hineinzudenken, um sich möglichst vollständig und von allen Seiten die völlig reale Analogie zwischen der Entwickelung der niederen Organe unter dem Einfluss der physischen, und der der höheren Organe des Menschen unter dem Einfluss der socialen Umgebung klar zu machen. Die aus dieser Wahrheit hervorgehenden Folgerungen sind für die Sociologie von der höchsten Bedeutung, indem sie den Platz bestimmen, der ihr im Gebiete der Naturkunde zukommt.

So wie überhaupt die Naturorganismen das Resultat der Differenzirung und Integrirung der Kräfte unter dem Einfluss der physischen Umgebung sind, so erscheinen auch die höheren Nervenorgane des Menschen als Resultat der Differenzirung und Integrirung derselben Kräfte unter dem Einfluss der Gesellschaft. Die Beschaffenheit, Empfänglichkeit und innere Spannung, welche das Nervensystem eines jeden Menschen zum Behälter des Bewusstseins, des Gedächtnisses, des Gefühls, des Gewissens, der Wahrnehmung des Rechten und Guten machen, sind Resultate des socialen Lebens, ebenso wie das Auge ein Produkt des Lichtes, das Gehör ein Produkt des Schalles, der Geruch ein Produkt riechbarer Stoffe ist. Wie die Ausbildung dieser Organe von unmessbaren geologischen und morphologischen Perioden des unorganischen und organischen Lebens auf der Erde bedingt wurde, so wurde die Ausbildung der höheren Nervenorgane des Menschen von unmessbaren historischen Perioden der socialen Entwickelung bedingt.

In der Geologie gab es Perioden des gasförmigen, des tropfbarflüssigen Zustandes, gab es Perioden, in denen Berge und Meere sich bildeten, vorzugsweise vulkanische, neptunische, Eisperioden u. s. w. Das organische Leben auf der Erde entwickelte sich vorzugsweise in diesem oder jenem wässrigen, erdigen oder luftigen Medium, unter diesem oder jenem Druck der Gewässer oder der Atmosphäre, bei dieser oder jener chemischen, elektrischen oder anderweitigen Beschaffenheit der physischen Umgebung. Dieser Umgebung verdankt das thierische Leben die. Beschaffenheit und Ausbildung der Nervenorgane, die auf Grund des Vererbungsgesetzes auf den Menschen übergingen. Der Mensch aber blieb bei dieser Erbschaft nicht stehen; er ver

mehrte sie und bildete sie weiter aus; er setzte die von der Natur begonnene Kapitalisation fort; er bildete in sich, indem er sich mit seines Gleichen in der Gesellschaft verband und zwischen ihm und anderen Menschen durch Nervenreflexe gegenseitige Wechselwirkungen stattfanden, höhere Nervenorgane aus. Diese höhere Ausbildung erfolgte auf derselben Grundlage und nach denselben Gesetzen, nach welchen auf niederen Stufen die Entwickelung des organischen Lebens in Folge der Wechselwirkung der Kräfte zwischen den einzelnen organischen Individuen und der Natur stattfand und noch jetzt vor sich geht. Wie jede geologische Periode eine Spur in der Gestalt verschiedener Gefüge, Formationen und Schichtungen der Erdrinde hinterliess; wie jede Periode organischer Entwickelung dem einen oder anderen Geschöpf, dieser oder jener Art von Pflanzen oder Thieren ihren Stempel aufdrückte, so hinterliess auch jede sociale Periode ihre Spuren am Menschen, indem sie ihm diese oder jene geistige oder sittliche Eigenschaft, dieses oder jenes Nervenorgan, diese oder jene Spannung oder Prädisposition des Nervensystems weckte, anregte und ausbildete.

Nach den letzten Ergebnissen der anthropologischen Psychologie unterliegt es wohl keinem Zweifel mehr, dass den geistigen, sittlichen und ästhetischen Strebungen, Bedürfnissen, Fähigkeiten und Neigungen eines jeden einzelnen Menschen und ganzer Familien, Völkerstämme und Racen eine bestimmte Organisation, Beschaffenheit, Spannung, bestimmte rhythmische Vibrationen und Schwingungen des Nervensystems entsprechen. Diese verschiedenen Strukturverhältnisse und Prädispositionen, diese ungleichförmigen Vibrationen, das Resultat vorhergegangener Bewegungen, entstanden, bildeten sich aus und concentrirten sich im Verlaufe des historischen und socialen Lebens des Menschen nach denselben Gesetzen, nach denen die Differenzirung und Integrirung der verschiedenen niederen pflanzlichen und thierischen Organe und die Entwickelung des Lebens überhaupt, im Laufe von Millionen, ja vielleicht von Milliarden von Jahrhunderten stattfand und noch gegenwärtig unter dem Einfluss der physischen Aussenwelt vor sich geht. In der socialen Sphäre, wie in der rein physischen Aussenwelt, geschah nichts und geschieht nichts durch plötzliche abgerissene schöpferische Akte. Die Entwickelung ging und geht noch jetzt langsam, Schritt vor Schritt, vor sich, neigt sich bald nach

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