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wenn der den Stoss ertheilende und der ihn empfangende Körper sich unter gleichen Bedingungen befinden.

Dasselbe findet in Wirklichkeit, nur unter complicirteren Verhältnissen, unter den einzelnen Menschen in der Gesellschaft statt. Angeregt durch die Worte meines Gesellschafters, das Gehörte überlegend und zu einer Erwiederung mich entschliessend, setze ich zur Antwort die entsprechenden Muskeln in Thätigkeit. Angeregt von dem Verlangen nach Nahrung, oder einem anLehmbaren Vorschlag zur Ausführung einer Arbeit, zur Theilahme an einer industriellen Unternehmung, stelle ich mir die, zur Erlangung des Zweckes geeigneten Mittel vor und versetze, indem ich die Arbeit vornehme oder den geforderten Dienst leiste, meine Muskeln wiederum eben so in Thätigkeit. In allen diesen Fällen findet nur eine complicirtere Umsetzung der Kraft statt, eine Umsetzung, die mit der Aufnahme des Eindruckes von aussen beginnt und mit der Rückwirkung auf die Aussenwelt endigt. Die in dem Festhalten, der Verstärkung, Abschwächung oder Abänderung der äusseren Bewegung bestehende Thätigkeit des Nervensystems zeigt nur eine relative Differenz im Vergleich zu dem, was zwischen allen organischen und unorganischen Naturkörpern vor sich geht. Analysiren wir in solcher Weise die concrete und collective Thätigkeit aller Glieder der Gesellschaft, so kommen wir zum Schlusse, dass diese Thätigkeit der Wechselwirkung zwischen den einzelnen Nervencentren in jedem Nervensystem vollständig homolog ist.

Als bester Beweis dafür, dass Nervenreflexe nur eine ModiEation des einfachen mechanischen Stosses, eine complicirtere Bewegung darstellen, dient die Bildung der Nerven selbst.

Herbert Spencer in seinen >Grundzügen der Biologie‹ schildert sie folgendermassen:

>Nehmen wir an, der organische Urstoff, das Protoplasma, enthalte zwei oder mehr Colloidsubstanzen in Mengung oder sehr lockerer Verbindung, so lässt sich folgern, dass jede durch inen sogenannten Stimulus erzeugte, noch so kleine Aufhebung des Gleichgewichts sich, wenn die das Protoplasma zusammenetzenden Theile nicht gleichmässig vertheilt sind und einzelne Tn ihnen leichter oder mit geringerem Bewegungsverlust, als die übrigen, einer isomeren Umgestaltung unterliegen, in einzelnen

Richtungen weiter differenzirt werde, als in den übrigen; besonders aber wird sie sich nach den Stellen hin, wenn solche überhaupt vorhanden sind, fortpflanzen, die vorzugsweise Theilchen enthalten, welche ohnehin schon zur Zeit ihrer Metamorphose in theilweiser Bewegung begriffen sind. Nun fragt es sich, welche Strukturveränderungen hat jene durch die Gleichgewichtsstörung der kleinsten Theile erzeugte Welle zur Folge? Wie aus den mit so grosser Schnelligkeit sich in den Colloidsubstanzen verbreitenden Umwandlungen ersichtlich, sind die einer gewissen Veränderung ihrer Form unterlegenen Theilchen fähig, den benachbarten Theilchen gleicher Art eine ähnliche Formveränderung mitzutheilen; die Ursache, die eine jede Aenderung in der Vertheilung bewirkt, pflanzt sich fort und ruft eine neue Aenderung der Vertheilung hervor.<

>Angenommen, die Nervencolloidsubstanz sei eine solche, deren Theilchen beim Durchgange einer Welle von starker Hebung ihre Form verändern, nach dem Durchgange derselben aber zu ihrer früheren Form zurückkehren, so dass diese den neu auftretenden Verhältnissen gegenüber eine grössere Widerstandsfähigkeit zeigt. Was wird die Folge sein? Offenbar, dass die Theilchen von Neuem bereit sein werden, sich isomerisch umzugestalten, wenn ein neuer Stimulus einwirkt; wie vorher werden sie ihre Umgestaltung vorzugsweise dahin verbreiten, wo sie zahlreicher angehäuft sind; wie früher, werden sie nach Bildung neuer Theilchen von ihrem eigenen Typus streben; wie früher, werden sie zu der Linie zurückkehren, die sie einnahmen, zu der Linie, auf der die Fortpflanzung der Gleichgewichtsstörung am leichtesten stattfindet. Eine jede Wiederholung dieses Vorgangs wird, indem sie den Endpunkt des Weges, auf dem die Bewegung der kleinsten Theilchen einherschreitet, weiter wegrückt und den Anfangspunkt deutlicher hervortreten lässt, die Vergrösserung, Integrirung, die genaue Bestimmung dieses Weges, d. i. sie wird die Bildung einer Leitungslinie, einer Linie, auf der Eindrücke den Nerven durchlaufen, befördern.<<

Man braucht nur die Ausdrücke: Stimulus durch Stoss und Reflex; Gleichgewichtsstörung durch Bewegung und Erregung zu ersetzen, und das Band ist gefunden, das die Wechselwirkung zwischen Menschen in der Gesellschaft und die mechanische

Triebkraft oder den Zusammenstoss unorganischer Körper zu einem Ganzen verbindet.

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Durch die Annahme von Nervenreflexen wird die merkwürdige Erscheinung sittlicher Epidemien, an denen alle Epochen der Entwickelungsgeschichte der Menschheit so reich sind, erklärlich. Mackay in seinen Extr. popular Delusions< lässt sich über dieselben folgendermassen aus: >Ganze Gesellschaftsgruppen ergreift plötzlich irgend eine Manie, und Millionen von Menschen unterliegen ihrem Einfluss: bei einem Volke erscheint sie als eine alle Klassen, von den niedrigsten bis zu den höchsten ergreifende Begier nach Kriegsruhm; ein anderes verliert plötzlich in Folge eines religiösen Wahns gleichsam alle vernünftige Ueberlegung, und beide kehren zum Normalzustande erst wieder zurück, nachdem Ströme von Blut vergossen sind und eine reiche Ernte von Seufzern und Thränen ausgesäet worden, deren Einsammlung den Enkeln zufällt.<

Ganz besonders bemerkbar machen sich solche krankhafte Erscheinungen beim Auftreten neuer religiöser Ideen. So ziehen. die Sekten der Gnostiker im zweiten, und der Manichäer im dritten Jahrhundert n. Chr. die Aufmerksamkeit auf sich durch ihre schnelle Verbreitung und die Hartnäckigkeit, mit der ihre Anhänger alle Verfolgungen und Martern ertrugen. Im vierten Jahrhundert entstand das Mönchswesen und artete in kurzer Zeit in ascetische, von einem an Wahnsinn grenzenden Fanatismus begleitete Selbstquälerei aus. Im siebenten Jahrhundert erscheint der, ganz Central- und West - Asien und einen Theil Europas in seinen Strudel hineinreissende MuhaLedanismus.

Einen noch ausgesprocheneren pathologischen Charakter haben einzelne sittliche Epidemien des Mittelalters.

Im zehnten Jahrhundert bemächtigte sich eine sonderbare Panik von den verderblichsten Folgen der Geister der Menschen. Es verbreitete sich nämlich die Ueberzeugung von dem nahe bevorstehenden Ende der Welt und, alle bürgerlichen und verwandtschaftlichen Bande zerreissend, übergaben Tausende alle ihre Habe der Kirche und machten sich nach Palästina auf den Weg, wo sie sich für weniger gefährdet, als an anderen Orten, wähnten. Sonnen- und Mondfinsternisse wurden für unmittelbare Verkündiger des allem Lebenden bevorstehenden Verderbens angesehen, die Städte verlassen, und in Höhlen oder zwischen

Felsen verbargen sich die unglücklichen Bewohner. Die Einen bemühten sich, die Gottheit durch reiche, der Kirche dargebrachte Spenden, zu versöhnen, Andere zerstörten Paläste und Tempel, weil sie ihrer nicht mehr zu bedürfen vorgaben.

Die im vierzehnten Jahrhundert auftretende Epidemie des >schwarzen Todes, die in Europa allein gegen 25 Millionen hinraffte, gab Veranlassung zum Entstehen der Sekte der Selbstgeissler oder Geisselbrüder. Nicht nur einzelne Gegenden und Länder unterlagen dem Einflusse dieser Manie, sondern ganz Deutschland, Ungarn, Polen, Böhmen, Schlesien und Flandern zahlten ihr ihren Tribut. Mächtig und schrecklich zugleich, bemerkt Hecker in seinem Werke: die grossen Volkskrankheiten des Mittelalters, war die Wirkung dieses Fanatismus, der die Gemüther in eine eben solche Aufregung versetzte, wie die war, unter deren Einfluss 250 Jahre früher die Bewohner Europas schaarenweise in die Wüsten Syriens und Palästinas getrieben wurden.

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Zu Ende des vierzehnten Jahrhunderts brach eine Tanzwuth aus. Das schnelle Anwachsen der Zahl dieser Fanatiker, äussert sich Hecker, gab zu ernsten Befürchtungen Anlass. Sie bemächtigten sich der Kirchen, veranstalteten Prozessionen, hielten Messen ab; und diese Krankheit, an deren dämonischem Ursprunge Niemand zweifelte, erregte überall Staunen und Schrecken. Beim Anblick lebhafter Farben geriethen sie in Wuth, und lässt sich daraus auf eine nahe Beziehung dieser Krankheit zu dem Zustande schliessen, den wir bei wüthenden Thieren beobachten. Die Springer, Shakers, Spiriten sind directe Nachkommen der Tänzer des Mittelalters.

Einen gleichen epidemischen Charakter nehmen auch viele Verbrechen an. Der epidemische Selbstmord stellt, wie Esquirol*) sich darüber auslässt, eine höchst merkmürdige Erscheinung dar. Wir wissen nicht, wodurch er bedingt wird: ob durch eine besondere Beschaffenheit der Atmosphäre, ob durch Nachahmungstrieb, politische, ein Land erschütternde Ereignisse, oder durch das Vorherrschen irgend einer seiner Entwickelung günstigen Idee; so viel jedoch ist unzweifelhaft, dass dieser plötzliche und zu Zeiten gewissermassen epidemische Selbstmordtrieb von sehr verschiedenen Ursachen abhängt. W. Lecky in

*) Die Geisteskrankheiten. E. Esquirol.

seiner

Sittengeschichte Europa's spricht von einer fürchterlichen Manie, die vom Ende des fünfzehnten bis Ende des siebenzehnten Jahrhunderts im Neapolitanischen herrschte, und als deren Ursache man den Biss der Tarantel bezeichnete. >Die von dieser Manie Ergriffenen gingen schaarenweise zum Meer und Viele von ihnen, beim Anblick der vor ihren Augen ausgebreiteten blauen Wasserfläche wilde Begrüssungshymnen anstimmend, stürzten sich, von einer wüthenden Leidenschaft fortgerissen, in die Fluthen.< >Im sechszehnten Jahrhundert fingen, wie Macaulay mittheilt, die Fälle von Vergiftungen sich beständig zu mehren an, so dass im siebenzehnten Jahrhundert sich dieses Verbrechen in Europa gleich einer Pest verbreitete.< Lebret erzählt, im Jahre 1659 sei der Papst Alexander VII. Ton vielen Geistlichen davon in Kenntniss gesetzt worden, dass mehre Weiber in der Beichte sich der Vergiftung ihrer Männer schuldig bekannt hätten, was zur Entdeckung einer ganzen Gesellschaft junger Frauen führte, die Nachts zusammen kamen, um gemeinschaftlich über die beabsichtigten Verbrechen zu berathen. In den 1670 ger Jahren wurde ganz Paris durch den Prozess Brinvillier in Aufregung versetzt. >Alle Einzelnheiten ihrer Verbrechen wurden, wie Mackay mittheilt, veröffentlicht und mit Gier gelesen und auf diese Weise entstand zuerst der Gedanke heimlichen Giftmordes im Kopf einer Menge von Personen, die sich später dieses Verbrechens schuldig machten. Die Epidemie hörte nicht eher auf, als bis mehr denn hundert Menschen auf dem Scheiterhaufen und am Galgen umgekommen.<

Diese Erscheinungen liessen sich in folgender Weise erklären: der Irrthum oder die Verirrung eines Individuums wirkt ansteckend auf die Masse; diese wirkt wiederum auf das Individuum zurück, indem sie jeder Aufregung einen höheren Grad von Intensität ertheilt. Die Gedankenrichtung oder Aufregung, die stets jeder Verirrung vorhergeht, kann in der einzelnen Person einen geringen Grad haben, aber wenn sie mit einem Male sich Vieler bemächtigt, so handelt jedes Individuum gleichsam unter dem Einfluss der vereinten Kraft aller dieser Per

sonen.

Worin aber besteht diese Wechselwirkung, wenn nicht in Nervenreflexen? Und wodurch unterscheiden sich diese Nervenreflexe zwischen Individuen von den ähnlichen Reflexen zwischen den Nervenknoten und -Centren eines einzelnen Nervensystems,

Gedanken über die Socialwissenschaft der Zukunft. I.

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