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des staatlichen und geselligen Lebens bereits zugänglicher, als dem Griechen. Der Römer stand zu seiner Staatseinrichtung zum Theil schon in demselben Verhältniss, wie gegenwärtig der Engländer zu seiner Constitution: er achtete sie hoch, aber unterwarf sie fortgehenden Umänderungen, entsprechend den Anforderungen der Zeit und den Verhältnissen des Lebens. Deshalb war auch die römische Welt, dem Mittelalter sowohl, als der neueren Zeit leichter verständlich, als die der alten Griechen. Die ästhetisch - ideale Weltanschauung dieser ist erst in der letzten Zeit theilweise gewürdigt worden und selbst bis heute nur von Wenigen genügend ergründet.

Das Mittelalter bildet die Periode des Dogmatisirens und speculativen Philosophirens nicht nur in der religiösen Sphäre, sondern auch in Bezug auf die Naturforschung und die socialen Fragen. Für die Menschheit verlief diese Periode in gewissen Beziehungen, so zu sagen, in Selbstübung des Denkens und Wollens. Aber nach dieser speculativen religiös - ascetischen Periode wandte sich der menschliche Geist, in frischer Kraft aufspriessend, zur Erforschung der Natur als der ihm am nächsten liegenden und am leichtesten zugänglicheu Wirklichkeit. In diesem belebenden Quell bemühte er sich seine in den leblosen Formen falsch verstandener Aristotelischer Logik erstarrten, von religiösem Aberglauben und religiöser Verfolgung ertödteten Kräfte von Neuem zu wecken und zu beleben. Am deutlichsten prägte sich dieser Wechsel in der Richtung des menschlichen Geistes zu Ende des 16. Jahrhunderts in der Person des grossen englischen Philosophen Bacon aus. Er zuerst wies allseitig und folgerecht auf die Natur als auf die einzig reale Grundlage alles Wissens hin, und von dieser Zeit an nahm die Naturforschung einen Aufschwung, der unzweifelhaft Bacon selbst in Erstaunen versetzt haben würde, wenn er ihn und seine Erfolge hätte voraussehen können.

Die menschliche Gesellschaft und ihre Offenbarungen aber wurden Gegenstände der Wissenschaft, in der weitesten Bedeutung des Wortes, allererst in neuester Zeit. Die Gesetzgebung der Inder, Perser, Egypter, Juden basirte auf Glaubenslehren; die Politik der Griechen war eine Kunst; die Römer verhielten sich wissenschaftlich reflectirend nur zur juridischen Seite des socialen Lebens. Das Mittelalter speculirte auf scholastischer Grundlage. Die Aufgabe der gegenwärtigen Generation besteht

offenbar in der wissenschaftlichen Erforschung des gesammten socialen Gebietes.

Die sociale Bewegung der Neuzeit ergreift die Geister bedeutend in- und extensiver, als es im Alterthum und im Mittelalter der Fall war. Sie durchdringt das gesellige Leben bis in seine verborgensten Winkel; sie verlangt Antwort auf Fragen, die früher gar nicht aufgeworfen wurden, sie drängt zur Entscheidung über Widersprüche im Leben, die bisher für unauflösbar gehalten wurden. Zwischen der socialen Bewegung des Alterthums und der heutigen Gesellschaft ist deshalb ein eben solcher Unterschied, wie zwischen den religiösen Anschauungen der Alten und der Jetztzeit, wie überhaupt zwischen der gesammten alten und neuen Civilisation. Was im Alterthum unfolgerecht, fragmentarisch, gleichsam zufällig erscheint, wird durch die neuere Civilisation ungleich tiefer, folgerechter, bewusster hingestellt, was im Alterthum halbbewusst, von der ästhetischidealen Seite empfunden wurde, wird jetzt von dem Verstande analytisch - bewusst zergliedert und an seinen Platz gestellt.

Zur Entscheidung der socialen Fragen schlug die heutige Gesellschaft, entsprechend der menschlichen Doppelnatur, zwei Wege ein auf einer Seite verfolgt sie den Weg der Erfahrung und des Lebens, auf der andern den der Speculation und Theorie. Im socialen Leben rief, wie schon gesagt, diese Richtung nicht nur sociale und politische Umgestaltungen und Umwälzungen hervor, sondern führte auch gleichzeitig zum Aufschwung der Industrie und zur Verbesserung des materiellen und sittlichen Lebens der Volksmassen. Auf geistigem Gebiet erzeugte diese Bewegung eine Menge verschiedener socialer, politischer und ökonomischer Schulen, Sekten und Parteien, und legte den Grund zur Lehre vom Volkswohlstand, der politischen Oekonomie. Die wissenschaftliche Betrachtung der Gesellschaft ist die Frucht der gegenwärtigen socialen Bewegung, eben so wie das Erwachen der Naturwissenschaften als Frucht der geistigen Bewegung zu Ende des 16. und zu Anfang des 17. Jahrhunderts erscheint. Und um wie viel die speculativen Natur-Theorien des Demokrit, Pythagoras und Aristoteles niedriger stehen, als die Naturphilosophie Bacons, um so viel sind auch auf ökonomischem und politischem Gebiete die schriftstellerischen Versuche und Abhandlungen des Aristoteles und Plato unvollkommener, als die Erzeugnisse eines Adam Smith, Ricardo und Malthus.

Schon in den Chroniken der alten persischen Herrscher finden sich die Vortheile und Nachtheile, die Vorzüge und Mängel der beiden Hauptformen des Staats auseinandergesetzt, zwischen denen auch heute noch das Staatsrecht der verschiedenen Völker hin- und herschwankt, d. i. eine selbst erwählte oder erblichmonarchische Regierung. Doch von einer derartigen oberflächlichen Betrachtung des Gegenstandes bis zur wissenschaftlichen Begründung ist es eben so weit, wie von der zufälligen Beobachtung der Naturerscheinungen bis zu dem mit aller wissenschaftlichen Genauigkeit zu einem wissenschaftlichen Zweck angestellten Experiment des Physikers oder Chemikers.

Fortgerissen von einem zwiefachen Strome in's geistige Gebiet und in das reale Leben hinein, stösst das jetzt lebende Geschlecht bei jedem Schritte auf sociale Fragen, auf welche es oft genug keine Antwort findet, oder welche Theorie und Praxis, Wissenschaft und Leben entgegengesetzt beantworten; bei jedem Schritte stösst der Denker auf Zweifel und Widersprüche, die weder von der Wissenschaft noch vom Leben bestimmt und befriedigend gelöst werden.

Dass das sociale Leben überhaupt solche Widersprüche ent

denen die Bemühungen noch vieler Generationen scheitern können, das bezeugt die ganze geschichtliche Entwickelung der Menschheit. Ist doch das ganze Leben des einzelnen Menschen wie der Gesammtheit ein beständiges Ringen mit diesen Widersprüchen. Die menschliche Gesellschaft birgt, gleich der ganzen grossen Natur, in ihrem Schoosse so viele unbezwingbare Kräfte, welche der menschliche Wille zu überwältigen nicht im Stande ist.

Etwas ganz anderes bilden Widersprüche im Gebiet der Wissenschaft selbt, deren Aufgabe doch speciell in der Lösung jener Widersprüche, in dem Suchen nach Antwort auf die aufgeworfenen Fragen besteht. Verwickelt sie sich selbst in Widersprüche, dann liegt alle Schuld an der Wissenschaft, dann irrt die Wissenschaft entweder durch Zugrundlegung und Anwendung einer falschen Methode, oder durch Einseitigkeit des Gesichtspunktes, oder durch Unvollständigkeit und Unrichtigkeit der Beobachtung und fehlerhafte Schlussfolgerung.

Die socialen Erscheinungen, wie die der Natur, sind freilich aus so viel unendlich kleinen Factoren zusammengesetzt, dass die Ursache in der Ohnmacht des Menschen ihnen gegenüber, in

ihrer Unerkennbarkeit und in der Unmöglichkeit sie einer genauen Beobachtung und gründlichen Prüfung zu unterziehen liegen kann. Der menschliche Verstand kann bei der unendlichen Complicirtheit der Erscheinungen, auf die er in der Gesellschaft wie in der Natur stösst, sich leicht verirren und verwickeln. Doch daraus würden nur Schwierigkeiten und Hindernisse entspringen, welche die Wissenschaft nach Massgabe ihrer Entwickelung zu überwinden haben wird. Hat doch die Naturwissenschaft schon die Gesetze der Wirkungen von Kräften ergründet, deren Beobachtung noch bis vor Kurzem für unzugänglich und unmöglich gehalten wurde.

Von dieser Unvollkommenheit und Machtlosigkeit des menschlichen Geistes einzelnen Erscheinungen gegenüber ist es noch weit bis zum inneren Widerspruche im Gebiete der Wissenschaft selbst und zum Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wissenschaft und Leben.

Dass ein Zwiespalt zwischen der Wissenschaft und dem Leben auf socialem Gebiete und in der socialen Wissenschaft selbst bis zum heutigen Tage herrscht, unterliegt keinem Zweifel. Das Unpraktische, die Unanwendbarkeit der von verschiedenen Wortführern der socialen Wissenschaft verkündigten Principien für Leben und Wirklichkeit, endlose Streitigkeiten und Debatten, die bis heute selbst unter den Wortführenden in Bezug auf viele wissenschaftliche Grundprincipien fortdauern, die beständig von Neuem auftauchenden Systeme und Theorien zeugen von diesem innern Zwiespalt, sie bezeugen auf wie schwankendem Boden die sociale Wissenschaft steht.

Auf welche Weise sie nun aber aus dieser Lage herausgebracht, auf welche Weise sie auf einen festen Boden, der ihr als unerschütterliche Grundlage zu dienen im Stande ist, verpflanzt werden kann, das ist die Aufgabe, die wir uns gestellt haben und die wir in den folgenden Kapiteln zu beantworten versuchen werden.

II.

Die Socialwissenschaft.

Für den menschlichen Geist giebt es überhaupt nur zwei Gegenstände der Erkenntniss. Er kann sich in sich selbst versenken, sein eigenes Ich zum Gegenstande seiner Betrachtungen und Forschungen machen, und dann verharrt er im Gebiet der Speculation, zu dem alle sogenannten speculativen Wissenschaften, wie die Mathematik, Logik, Psychologie, Metaphysik etc. gehören - oder er wendet seine Forschungen der ihn umgebenden Natur zu, deren Erscheinungen er durch Vermittelung der Sinne wahrnimmt, und hieraus entspringt die Naturforschung mit allen ihren Unterabtheilungen: Naturgeschichte, Chemie, Physik, Medicin, Astronomie, Geologie u. s. w.

Wir sind nicht gesonnen uns hier in metaphysische Untersuchungen und Discussionen darüber einzulassen, ob der menschliche Geist, vollständig unabhängig von äussern Wahrnehmungen, als selbstständige Quelle der Erkenntniss aufzufassen ist, oder nur als Spiegel, auf dem sich die Naturerscheinungen in anderer Gestalt und Anordnung abprägen, d. h. mit andern Worten: ob dem menschlichen Geiste angeborene Vorstellungen und Anschauungen innewohnen, oder ob es unzweifelhaft feststeht, dass eine jede Vorstellung mit Nothwendigkeit in irgend einer sinnlichen Wahrnehmung von Naturerscheinungen ihren Ursprung hat. Eins ist klar: ohne geistige Anschauung und Vernunftschluss its keine Erkenntniss der Natur für uns möglich. Von der andern Seite aber stützt sich jede geistige Anschauung, selbst in den höchsten Sphären, auf irgend etwas zu Grunde liegendes Reales. Bei dem einfachsten physikalischen Experiment sind wir genöthigt die Ursache mit der Wirkung in Verbindung zu bringen, den Unterschied oder die Analogie zwischen Dem, was der beobachteten Erscheinung und was andern Naturkörpern eigenthümlich, festzustellen, d. h. geistig anzuschauen, vernunftgemäss zu schliessen. Andrerseits giebt es keinen allgemeinen Begriff von Zeit, Raum, Dasein, dem nicht irgend etwas Reales entspräche. Daher giebt es auch weder reine Vernunft wissenschaften, noch rein reale Wissenschaften. Wir geben der Wissenschaft diesen

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