stimmung ist also eben so wohl eine moralische, wie eine intellektuelle; das Mittelalter hat die erstere Seite betont, die Neuzeit betont die letztere. Eine wirkliche Kultur aber werden wir nur erreichen, wenn wir beide Seiten als berechtigt und untrennbar anerkennen und von ihrer einseitigen Betonung befreien, d. h. wenn wir einsehen lernen, dass der scheinbare Ablösungsprozess der Religion durch die Wissenschaft nur ein Differenzierungsprozess, eine Teilung der Arbeit ist. Man kann zwei Wege einschlagen, um das Rätsel der Dinge zu erklären. Entweder geht man von der Welt aus, um den Menschen, oder vom Menschen, um die Welt zu erklären. Im bisherigen Entwicklungsgang der Wissenschaften ist viel zu sehr der erstere Weg eingeschlagen und der letztere vernachlässigt worden. Die Wahrheit ist allerdings auf beiden Wegen zu finden, aber beide müssen betreten werden, um ihre Übereinstimmung zu konstatieren. Man kann es dem einseitigen Ausgangspunkt, der in der Betrachtung der objektiven Dinge liegt, nicht bestreiten, dass er uns zu den Idealen der Religion, Philosophie und Kunst führen kann; aber es lässt sich nicht leugnen, dass die Betrachtung der objektiven Dinge uns leicht auf Abwege führt. So sehen wir, dass gerade in unserer Zeit trotz der erstaunlichen Fortschritte der Naturwissenschaften der Respekt vor dem grossen Welträtsel beständig abgenommen hat, und doch können nur auf dem Boden dieses Respektes Religion, Philosophie und Kunst gedeihen. Immer wunderbarere Seiten der sinnlichen Natur sind uns aufgeschlossen worden, aber den Blick für die andere Seite der Dinge haben wir darüber so sehr verloren, dass vielleicht noch in keinem historischen Jahrhundert die metaphysische Bedürfnislosigkeit der Massen so gross war, als heute. Die Verbreitung der materialistischen Weltanschauung ist nur ein anderer Ausdruck für diese metaphysische Bedürfnislosigkeit. Wir haben aufgehört, gross von der Welt und dem Menschen zu denken, und darum fehlen uns grosse und ideale Ideen. Wenn man in der Welt nur einen Haufen von Chemikalien und Scherben sieht, auf dem auch der Mensch ein bloss chemisches Dasein führt, lassen sich grosse Ideen nicht anknüpfen. Der moderne Mensch, wenn er am nächtlichen Himmel sieht: ,,Wie das Übermass der Sterne Prächtig uns zu Häupten glüht“1) wird von diesem Gewirre flammender Welten nicht mehr metaphysisch angeregt, sondern nur naturwissenschaftlich; er sieht nur die eine Seite der Dinge, das Gesetz der Mechanik, nach dem sich alles bewegt, wie er auf unserem Sterne nur die Gesetze der Physik und Chemie erkennt. Er gleicht einem Menschen, dem der Vortrag einer Symphonie nur Anlass gäbe zu Spekulationen über Schwingungen der Luftwellen. Der Respekt vor der Natur ist uns verloren gegangen, und in eitler Selbstüberhebung bringen wir es besten Falls noch zum Respekt vor den Auslegern der Natur, wie es drastisch genug Comte ausgedrückt hat: „Aujourdhui pour les esprits familiarisés de bonne heure avec la vraie philosophie astronomique les cieux ne raccontent plus d'autre gloire que celle d'Hipparque, de Kepler, de Newton et de tous ceux qui ont concouru à en établir les lois." 2) Dabei ist nur merkwürdig und für Comte ein unlöslicher Widerspruch, dass gerade die von ihm genannten Geistesheroen nicht so gedacht haben, wie er. Wir haben also Bewunderung für den Geist, der die Natur ergründet, aber keine Verwunderung mehr vor dieser Natur selbst, von der doch unser Geist nur ein Stück ist. Und doch müssen Geist und Natur gleichwertig sein, weil nur so viel Geist auf die Natur verwendet werden kann, als latent in ihr selber steckt, und zwar um so mehr, wenn sie sich nach ewigen Gesetzen offenbart. So wenig als eine Landschaft dadurch aufhört, schön zu sein, dass sie gemalt wird, weil wie Skakespeare sagt ,,die Kunst selbst Natur ist, so wenig hört die Natur auf, unseren Respekt zu verdienen, wenn es uns gelingt, sie zu erklären. Die Arbeiten des Genies degradieren nicht die Natur, sondern erheben sie, weil das Genie selbst Naturarbeit ist. Grösser als Newton erscheint. die Welt der Gestirne, die er erklärt und in die er einbegriffen. ist; grösser als Linné ist die wunderbare Pflanzenwelt, und höher, als die Wissenschaft der Psychologie, steht ihr Objekt: der Mensch; 1) Goethe: Der Bräutigam. 2) Aug. Comte: Philosophie positive. II, 25. du Prel, Philosophie der Mystik. 35 denn selbst erklärt sich die Natur in aller geistigen Arbeit, wie sie nur selbst sich schmückt im Künstler, der sie gereinigt darstellt. Darum soll uns jede Anerkennung des Genies zur Anerkennung der Natur führen. Was wird erreicht sein, wenn einst die Naturwissenschaft ihre ganze Aufgabe erfüllt haben wird? Die eigentliche Bedeutung dieser Welt, uns selbst mit eingeschlossen, wird dadurch nicht geoffenbart sein, wie die Symphonie nicht erklärt wird aus den blossen Gesetzen der Akustik. Die Welt wird nach wie vor mit einem metaphysischen Fragezeichen beschwert sein; ja gerade eine naturwissenschaftlich ganz erklärte Welt wird dann nur um so klarer als ein unergründliches philosophisches Problem ercheinen. Darum liegt in der Naturwissenschaft selbst, welche die wahre Vorstellungsart eingeengt hat, vermöge ihrer Entwicklungsfähigkeit das Korrektiv, um diese Vorstellungsart wieder zu erweitern. Wenn sie einst ihr Ziel erreicht haben wird, wird sie eben dadurch sich auch klar sein darüber, dass sie nur die phänomenale Welt erklärt hat und keinen Aufschluss zu geben vermag über die Fragen, woher wir kommen, wohin wir gehen, wer wir sind? Wenn also die ersten Erfolge der Naturwissenschaft uns den Respekt vor dem Welträtsel genommen haben, so werden ihn die späteren Erfolge wieder steigern. Und schliesslich werden wir einsehen, dass wir im Irrtum waren, die Natur als etwas durchaus Vernunftloses und Totes zu betrachten, worin alles nach blinden Gesetzen sich verändert, dahingegen die Vernunft etwas bloss Subjektives wäre, ein Merkmal bloss jenes Stückes der Natur, das wir Mensch nennen. Die Betrachtung der objektiven Natur bringt also unser metaphysisches Bewusstsein und Bedürfnis nicht zum Schweigen; die Natur ist vielmehr ein höchst geeigneter Gegenstand, jenen Faustischen Wissensdrang in uns zu erzeugen, der nicht halt machen kann bei der blossen Aufdeckung der Gesetzmässigkeit der Erscheinungen. Darum kann auch dieser Faustische Drang nicht als ein innerer Widerspruch in uns gelegt sein; er muss bestimmt sein, sich auszuleben, er kann nicht zur Verkümmerung verurteilt sein, und wenn er in diesem Leben unbefriedigt bleibt, so liegt in ihm eine Gewähr für transcendentale Fortdauer; er kann nicht sub jektiv vorhanden sein, ohne einen objektiven, ihm korrespondierenden Gegenstand, und wir können aus diesem Faustischen Drang so sicher auf eine metaphysische Welt schliessen, als aus dem abnorm verlängerten Insektenrüssel a priori auf einen korrespondierenden Blumenkelch. Wenn aber die Betrachtung der objektiven Dinge es wohl vermag, uns zur Metaphysik und Ethik fortzuleiten, so erreichen wir doch schneller das Ziel, wenn wir den Ausgangspunkt der Philosophie wechseln und vom Menschen ausgehen, um dann aus ihm die Welt zu erklären. Je nach der Art, wie wir den Menschen auffassen, wird dann auch die Welt in einem besonderen Licht erscheinen eine andere Weltauffassung muss sich ergeben, wenn wir den Menschen nur nach seiner sinnlichen Natur betrachten, eine andere, wenn wir, wie es in der vorliegenden Schrift geschehen ist, vorzugsweise seine mystischen Eigenschaften betonen. Darin liegt aber nur eine Fortsetzung jener Aufgabe, zu welcher Kant die Grundlage gelegt hat. Er hat es uns zum unverlierbaren Bewusstsein gebracht, dass wir die Vernunft kritisieren müssen, bevor wir die Welt kritisieren. Wenn wir aber vom Menschen ausgehen, um die Welt zu erklären, so muss es auch der ganze Mensch sein; je tiefer wir diesen erforschen, desto tiefer wird uns auch die Bedeutung dieser Welt erscheinen, und wenn wir im Somnambulismus, als der Grundform aller Mystik, einen transcendentalen Wesenskern von uns finden, dann werden wir auch in die transcendentale Ordnung der Dinge eindringen. Wenn wir uns so, die äussere Erkenntnisaufgabe ergänzend, der Selbsterkenntnis befleissen, so ist dieses der kürzeste Weg, unser metaphysisches Bedürfnis wieder zu beleben, ohne welches keine Religion, keine Philosophie und keine wahre Kunst denkbar ist. Und stärker als je muss dieses Bedürfnis wieder aufleben, wenn wir einst die sichere Methode der Erkenntniswissenschaften auf die Selbsterkenntnis unseres mystischen Wesenskernes anwenden werden, ohne darüber die Betrachtung der objektiven Natur aus den Augen zu verlieren. Jene Generation aber, die diesen beiden Aufgaben zugleich gerecht sein wird, wird auch den Übergang gefunden haben von der blossen Civilisation zur wirklichen Kultur, und sie wird in jener Gemütsverfassung sich befinden, die der unsterbliche Kant mit den Worten kennzeichnet : ,,Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.“1) 1) Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Beschluss. |