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weit schwächer in den Willen, als die ihnen widerstehende Neigung. Die Tugend ist freilich eine Wissenschaft und kann erlernt werden, aber wenn sie in Ausübung gebracht werden soll, erfordert sie nicht bloss wissenschaftliche Ueberzeugung, sondern auch kunstmässige Uebung und Fertigkeit. Ja wer nach der höchsten Stufe der sittlichen Vollkommenheit ringt, wer nach der Seligkeit strebt, seine untern Seelenkräfte mit den obern in eine vollkommene Harmonie zu bringen, der muss es mit den Gesetzen der Natur wie der Künstler mit den Regeln seiner Kunst machen. Er muss so lange mit der Uebung fortfahren, bis er sich, in währender Ausübung, seiner Regeln nicht mehr bewusst ist*, bis sich seine Grundsätze in Neigungen verwandelt haben, und seine Tugend mehr Naturtrieb, als Vernunft zu sein scheint. Alsdann hat er die heroische Gröfse erreicht, die über den Kampf gemeiner Leidenschaften hinweg ist, und ohne Eitelkeit die bewundernswürdigsten Tugenden ausübt. Wer bei jeder guten Handlung seine Grundsätze im Munde führt, bei dem ist die Tugend noch nicht zur zweiten Natur geworden, dem fehlt noch ein wichtiger Schritt zur sittlichen Vollkommenheit.

Das zweite Mittel zur Vermehrung der Geschwindigkeit war die anschauende Erkenntniss. Wir erlangen diese, wenn wir die abgesonderten Begriffe auf einzelne, bestimmte und wirkliche Begebenheiten zurückführen und die Anwendung derselben aufmerksam beobachten. Wie durch diesen Kunstgriff das Leben der Erkenntniss vermehrt werde, ist leicht zu begreifen. In der Anwendung der allgemeinen Schlüsse auf besondere Fälle übersehen wir alle Verbindungen und Folgen der allgemeinen Begriffe gleichsam mit einem Blicke, die wir in der Absonderung nur nach und nach überdenken konnten. Wir vermindern also die Zeit, die zum Ueberdenken des moralischen Schlusses erfordert wird, wodurch abermals die Wirksamkeit, das Leben der Erkenntniss, vermehrt werden muss.

Hier zeigt sich der unschätzbare Nutzen der schönen Wissenschaften in der Sittenlehre, nicht nur für gemeine Köpfe, die für die Tiefe der Demonstration zu seicht sind, sondern sogar für den Weltweisen selbst, wenn er kein Mittel versäumen will, die todte Erkenntniss der Vernunft zum wahren sittlichen Leben zu erwecken. Die göttliche Be

*Siehe den ersten Theil.

redtsamkeit weils nicht nur eine gröfsere Menge von Beweggründen an's Licht zu bringen, sondern sie verwandelt alle Triebfedern in durchdringende Pfeile und taucht sie in den bezaubernden Nektar, den die Göttin Suada, wenn ich mich so poetisch ausdrücken darf, von ihrer Mutter, der Venus, empfangen. Die Geschichte verwandelt die allgemeinen Grundsätze in Beispiele, und zeigt uns die Anwendung der abgesonderten Begriffe auf wahrhafte Begebenheiten der Natur. Denn da man nicht immer Gelegenheit hat, seine Grundsätze selbst auszuüben und dadurch die symbolische Erkenntniss in eine anschauende zu verwandeln, so helfen uns die Beispiele anderer, die Folgen, den Nutzen und den Gebrauch der allgemeinen Gesetze der Natur in einzelnen Fällen zu erkennen, und zu einer Fertigkeit zu gelangen, die wir sonst nicht anders, als durch eine mit Gefahr verknüpfte Uebung erhalten können. Endlich die Dichtkunst, die Malerei und Bildhauerkunst, wenn sie der Künstler nicht zu einem unendlen Zwecke missbraucht, zeigen uns die Regeln der Sittenlehre in erdichteten und durch die Kunst verschönerten Beispielen, wodurch abermals die Erkenntniss belebt, und jede trockene Wahrheit in eine feurige und sinnliche Anschauung verwandelt wird. Ja, die erdichteten Beispiele sind in gewissen Fällen den wahren, aus der Geschichte entlehnten Beispielen vorzuziehen, wie LESSING in seinen Abhandlungen von der Fabel deutlich genug gezeigt hat.

Sie wenig aber der Tugendbegierige sich mit der symbolischen Erkenntniss begnügen kann, eben so wenig kann er durch den Weg der anschauenden Erkenntniss allein zu seinem Ziele gelangen. Da sie nur überredet, nicht überzeugt, so kann sie für's erste die Gewissheit nicht geben, die den Tugendhaften tenacem propositi macht und durch keine Widerwärtigkeiten von seinem Vorsatze abbringen lässt.

Sie ist auch überdem trüglich, indem unsere Urtheilskraft leicht verführt werden kann, wenn sie sich mit Beispielen ohne Beweise begnügt. Endlich kommen die Beispiele so leicht nicht in's Gedächniss zurück, um, so oft es nöthig ist, in den Willen wirken zu können. Wenn unsere Seele von dem Besondern auf das ähnliche Besondere kommen will, so nimmt sie ihren Weg durch das Allgemeine. Denn da die beiden besondern Fälle nur in dem Allgemeinen übereinkommen, so findet unsere Einbildungskraft keinen andern Uebergang, als von dem Besondern auf's Allgemeine, und sodann vom Allgemeinen auf einen andern ähnlichen

Fall, der von jenem das Beispiel sein soll. Wer sich also die Fertigkeit nicht erworben, jeden gegenwärtigen Fall auf einen allgemeinen Grundsatz zurückzuführen, der wird am Ufer der Gefahr stehen bleiben, und zu den Beispielen, die ihn retten sollen, keinen Uebergang finden. Wer aber beide Arten der Erkenntniss verbindet, giebt seinem praktischen Urtheile durch die Gewalt der Demonstration den Charakter der Festigkeit. Die allgemeinen Grundsätze kommen bei jedem Vorfalle in das Gedächtniss zurück. Die Einbildungskraft schweift auf alle besonderen Fälle herum, in welchen wir diese allgemeinen Grundsätze selbst angewandt, oder von andern haben anwenden sehen. Je gröfser die Geschwindigkeit ist, mit welcher dieses geschieht, desto lebhafter wird unsere Erkenntniss. Die Wirksamkeit der Triebfedern nimmt zu, und bringt den feurigen und standhaften Entschluss hervor, der die allerheftigsten Leidenschaften im Zügel zu halten vermag; alsdann erreicht der Tugendhafte den wolkenfreien Gipfel, WO er kein Ungewitter mehr fürchtet. Nihil est tam difficile et arduum, quod non humana mens vincat, et in familiaritatem perducat assidua meditatio; nullique sunt tam feri et sui juris affectus, ut non disciplina perdomentur. SENECAE de Ira L. II. C. XII.

III.

ÜBER DIE HAUPTGRUNDSÄTZE

DER

SCHÖNEN KÜNSTE UND WISSENSCHAFTEN.

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