2. Sehen wir von den einleitenden Versen 1-8 zunächst ganz ab, so zeigt sich, dass Vergil zur Einkleidung für Gallus' Liebesklagen das, wir können wohl sagen berühmteste, bukolische Gedicht gewählt hat: die Situation des liebeskranken Gallus ist, zum Teil in genauer Übersetzung, geschildert wie die des liebeskranken Daphnis in dem ersten Gedicht der theokriteischen Sammlung; ich werde die einzelnen Entsprechungen, die ja in allen Kommentaren angegeben sind, nicht erst aufzuzählen brauchen. Aber ein Unterschied ist im Lokal: so sicher wie Daphnis in Sicilien1), so sicher liegt Gallus in Arkadien. Zwar den arkadischen Pan, der den Gallus zu trösten kommt (V. 26), ruft auch Daphnis nach Sicilien (Theokr. 123 ff.). Aber Maenalus und Lycaeum, die bei Theokrit nur in der Anrufung Pans erscheinen, beweinen bei Vergil den Gallus sola sub rupe iacentem (V. 14), auf dem Maenalus will sich Gallus mit den Nymphen ergehen, in den Schluchten des Parthenius der Jagd obliegen (V. 55 ff.). Und so sollen denn die Arkader (V. 31 ff.) jedenfalls seine Liebe und sein Leid nicht blofs darum singen, weil bei ihnen der Hirtengesang blüht, sondern weil er selbst unter ihnen lebt und leidet. Mit dieser so bestimmt bezeichneten Örtlichkeit setzen sich aber die Klagen des Gallus bisweilen in einen unbestreitbaren Widerspruch. Noch V. 42 f. hic gelidi fontes, hic mollia prata, hic tecum consumerer aevo muss nach dem Zusammenhang, wie ihn 1) Theokrit I 124 f., 68 f., 117; Oúμßpic 118 ist der Ätna, Bücheler Rhein. Mus. 48, 86. die Überlieferung giebt, auf Arkadien gehen1). Aber im folgenden Verse heisst es auf einmal: nunc insanus Amor duri me Martis in armis tela inter media atque adversos detinet hostes. Ja, ist denn Krieg in Arkadien? Und wie kommt Gallus plötzlich in Waffen und unter Feinde, er, den noch eben die friedlichen Schafe umstanden, wie er sola sub rupe lag, wo nur Schaf- und Schweinehirten, nur Silvanus und Pan ihn besuchten (V. 14, 16, 19f., 24 ff.)? Weiter aber: wenn er in Arkadien ist, warum beklagt er sich denn in V. 46, dass Lycoris procul a patria lebt? Was würde es ihm denn helfen, wenn sie im Vaterland wäre, da er ja selbst fern von Italien weilt? In V. 52-54 fafst dann Gallus den Entschluss sich in eine andere Umgebung zu versetzen: certumst in silvis, inter spelaea ferarum malle pati. Gewifs sind die Schafe, unter denen wir ihn in V. 17 fanden, keine ferae, aber die beabsichtigte Veränderung der Situation ist doch nicht wesentlich genug, um die Emphase gerechtfertigt erscheinen zu lassen, mit der jener Entschluss ausgesprochen wird. Sola sub rupe 'unter einsamem Felsen'), nur von Schafen umgeben, nur gelegentlich (vergl. Daphnis) von den andern Hirten, von Silvanus und Pan besucht, hat Gallus eigentlich schon so viel Einsamkeit, als er sich 1) Ribbeck setzt freilich vor V. 42 eine Lücke an. Sein Bedenken war zwar hier einmal gerechtfertigt, wie wir gleich sehen werden, sein Heilungsmittel aber so wenig glücklich wie sonst. 2) Über diese Bedeutung der Worte vergl. W. Schulze Quaestiones epicae S. 251. nur wünschen kann. Weit begreiflicher wäre jedenfalls seine Absicht, wenn er sie als Gegensatz zum Lärm der Stadt oder zum Tosen der Schlacht (V. 45) falste. Aus all diesen Schwierigkeiten helfen wir uns mit der Wendung: „,der Dichter hat sich die Örtlichkeit nicht bestimmt genug vorgestellt" nicht heraus. Denn er hat sie sich vielmehr vollkommen bestimmt vorgestellt; so bestimmt, wie an andern Stellen Arkadien bezeichnet ist, so bestimmt in V. 44 ein Kriegsschauplatz und in V. 46, wie ich oben richtig erschlossen zu haben meine, das Vaterland. Ist Vergil wirklich so wenig Herr seiner Gedanken gewesen, dass er nach zehn oder zwanzig Versen sich nicht mehr erinnerte, seinen Helden nach Arkadien in eine ganz scharf gezeichnete Situation des Hirtenlebens versetzt zu haben? Dazu kann doch wohl selbst eine so scharfe Kritik, wie man sie jetzt an des Dichters Denkkraft zu üben anfängt, nicht ja sagen. Um so weniger, als abermals zehn Verse weiter Vergil ja offenbar wieder ganz gut weifs, dafs Gallus im arkadischen Gebirge weilt (V. 55 ff.)1). 1) Ein Anstofs, der vermutlich wirklich nur aus Ungeschicklichkeit des Dichters sich erklärt, liegt, wie nebenbei bemerkt sei, in V. II: Wo wart Ihr, Naiden, als Gallus dahinschwand? Denn auf dem Parnass oder Pindus oder an der Aganippe wart Ihr nicht." Erstaunt fragen wir, woher der Dichter das weifs und was es denn für Gallus ausgemacht hätte, wenn sie dort gewesen wären. Gallus liegt ja in Arkadien; was konnte ihm also die Anwesenheit der Naiden in Nordgriechenland nützen? Offenbar hat der römische Dichter sehr wenig glücklich die Verse Theokrits I 66-69 kontaminiert": πᾷ ποκ ̓ ἄρ ̓ ἦσθ ̓, ὅκα Δάφνις ετάκετο, πᾷ ποκα Νύμφαι; 3. Nicht bloss in dem auffälligen Wechsel des Lokals zeigt sich eine zunächst unerklärliche Disharmonie in der Anlage des Gedichtes. Von V. 35 an erscheint Gallus und seine Lycoris in einer Reihe wechselnder Situationen: erst er als arkadischer Schäfer, dann als Krieger, den auch im Schlachtgewühl Amor nicht verlässt (V. 44f.), hernach sie im Schnee der Alpen (V. 46 ff.), darauf wieder er, dem Walde sein Leid klagend (V. 52—54), im Parthenischen Gebirge jagend (V. 55 ff.), endlich verzweifelnd an der Heilbarkeit seiner Liebe (V. 60 ff.). Diese Bilder, einzeln für sich genommen, sind makelfrei, ja zum Teil vortrefflich gelungen. Aber untereinander sind sie nur notdürftig, bisweilen nur recht äufserlich verknüpft. „Wäre ich doch ein arkadischer Hirt gewesen", hebt Gallus seine Klagen an (V. 35 ff.), „,dann würde meine Phyllis oder οὐ γὰρ δὴ ποταμοιο μέγαν ρόον εἴχετ ̓ Ἀνάπω Hier ist alles in schönster Ordnung:,,Ihr müsst wohl am Peneios oder Pindos gewesen sein; denn da, wo Ihr hättet helfen sollen, bei Daphnis in Sicilien, wart Ihr nicht." Der Römer, der die ganze Situation nach Arkadien versetzt hatte, konnte die sicilischen Namen in V. 68 f. nicht gebrauchen. Er musste andere einsetzen, versuchte aber zugleich sich möglichst der Form des Originals zu nähern. So hat er denn nicht nur die Konstruktion von V. 68 f. beibehalten (nam neque Parnasi vobis iuga . moram fecere II ~ οὐ γὰρ δὴ ποταμοῖο μέγαν ῥόον εἴχετ ̓ Ἀνάπω), sondern auch noch die elegante Anapher aus V. 67 hineingenommen (nam neque nam neque Pindi ~ Kαtà...ǹkatà πívdw). Über all dem scheint er übersehen zu haben, dass in diesem negativen Satze, wie bei Theokrit nur sicilische, so bei ihm nur arkadische Namen einen Sinn geben konnten, und dafs er nicht-arkadische, wie Theokrit 67 die nicht-sicilischen, nur in Form eines Fragesatzes hätte bringen dürfen. mein Amyntas hier mit mir im Gebüsche liegen, mir Kränze winden, mir singen." Dieser Wunsch stimmt mit der Situation, in der uns die Einleitung den Gallus gezeigt hat, recht schlecht zusammen. Wie kommt er denn nach Arkadien, wie kommt er unter die Hirten und die Schafe (V. 17), wenn er nicht selber Hirt ist? Wenn er aber ein arkadischer Hirt ist, wozu dann der Wunsch utinam ex vobis unus vestrique fuissem custos gregis? Man wird sagen: das ist der Zwiespalt, in den der Dichter so häufig dadurch gerät, dafs er die Maske vergisst, die er seinen Personen angezogen hatte, der Zwiespalt, den ja aus der ersten Ekloge keine Interpretationskünste hinausdeuten können. Aber es folgt nun auf den ersten Wunsch des Gallus ein zweiter, der nicht sowohl mit der ganzen Situation als mit dem ersten nicht recht harmoniert: „Hier sind kalte Quellen, hier weiche Wiesen, hier Haine, Lycoris; hier möcht' ich mit dir mein Leben ausleben.") Wir sind überrascht, wie plötzlich hier Lycoris erscheint. Bisher hiefs es ja, dafs ein Amyntas, eine Phyllis in Arkadien dem Gallus das Dasein versüfst haben würden. Die irreale Form des Bedingungssatzes, in dem die beiden Liebchen erscheinen, darf daran nicht irre machen. Der Dichter will mit dieser Satzform nicht etwa sagen: „Wenn ich Phyllis oder Amyntas hätte, die würden mir gefällig sein; nun ist aber diese Möglichkeit durch mein Verhältnis zu Lycoris ausgeschlossen." 1) hic ipso tecum consumerer aevo. Wie ich, gewiss überflüssigerweise, hinzusetzen will, steht ipsum aevum im Gegensatze zu den Waffen und dem Eis, den Gefahren, die in der rauhen Wirklichkeit ihr Leben bedrohen; dort in Arkadien würden eben nur die Jahre selbst allmählich ihr Leben beenden. |