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Wer hier zu etwas gelangen will, muß den lieben Gott nicht allein walten lassen. Die Gegensäße sind hier so groß, so stark, daß Alles strebt, vorwärts zu kommen, und dazu reichen Kenntnisse und Bildung allein nicht hin; man muß Bekanntschaften, Verbindungen, man muß vor allen Dingen Gönner haben, und ich rathe Ihnen, vor Allem, Ihr deutsches empfindsames Gemüth mit dem leichten Sinne der Ruffen zu vertauschen, die keine Sache so ernstlich nehmen, als der Deutsche. Der Deutsche hat oft etwas Hartnäckiges, Unbeholfenes in seinem Unternehmen; der Ruffe beginnt Alles mit leichtem Blute, und geht die Sache nicht rechts, so versucht er es links, und geht es auf beiden Seiten nicht, so ruft er aus:,,Ich gedeihe hierin nicht!" und fängt eben so leichten Muthes etwas Anderes an. Ich will Ihnen eine anziehende Beschäftigung geben. Sie finden in mehreren Straßen stattliche Paläste, die von mehr als zwanzig Miethern bewohnt sind, und der jeßige Eigenthümer derfelben war vor dreißig Jahren der Hausmann, der seine Lebensbahn im schmußigen Kellerloch begann. Forschen Sie nun nach, wie aus einem armen, zerlumpten Teufel, in deffen Wohnung nie die Sonne geschienen hat, ein vornehmer, angesehener Mann geworden ist. Ich werde nicht jedes Mal die Mittel, die Jeder anwandte, billigen, aber Sie werden sich überzeugen, daß ein so kühner Sprung doch manches Nachahmungswürdige und Anwend. bare hat. Diese Stadt ändert sich im Laufe von zehn Jahren in ihrer Gesellschaft mehr, als jede andere europäische Stadt. Ich empfehle Ihnen also ein raftloses Streben nach einem bestimmten Ziele; die Kräfte des Menschen entwickeln sich dabei in größerer Fülle, als man `ihnen zugetraut hat, und jedem redlichen Streben, das durch Kenntniß und Bildung unterstügt wird, steht ein sicherer Erfolg früher oder später bevor. Der gute deutsche Mittelstand, die goldene Mittelstraße, fehlt hier durch und durch; die gemüthliche Ruhe eines deutschen Beamten, der stille Lebensgenuß, die lang hergebrachte Ordnung der Dinge, in der sie sich langsam und deutsch-phlegmatisch fortbewegen, ist hier unmöglich. Stillstand ist hier nicht einmal Rückgang, sondern Untergang. Sie werden im Laufe der Zeit sich das Alles noch besser erklären, als ich es kann; die Verhältnisse des Landes, der Geschichte, der Religion, der Gesellschaft sind nun einmal von Haus aus anders gestaltet, und der Einzelne thut am besten, gleich mit dem Strome zu schwimmen und mit den Wölfen zu heulen, als durch ein falsches System unterzugehen."

.... „Er hatte übrigens recht wohl bemerkt, daß der Ton sämmt licher Dienstboten im Hause des Generals gegen ihn sich sichtlich verändert hatte, und das Gespräch mit dem Oberst, wie mit dem Baron stellten ihm die Nothwendigkeit dar, in Rußland den Kronsrock zu tragen, um nicht mit dem Pöbel verwechselt zu werden. Am anderen Am anderen Morgen trug er darum seine Absicht dem General vor, und dieser freute sich theilnehmend darüber.

,,Die Vortheile, die Sie dadurch erlangen, sind unendlich," sprach er,,,und wer das Kreuz in den Händen hat, segnet sich zuerst.“ Theodor verstand den Sinn dieses für ihn ganz neuen Sprüchwortes nicht vollkommen; der General bemerkte dies und gab unaufgefordert selbst folgende Erklärung: „Wem sich eine gute Gelegenheit darbietet, der darf sie nicht unbenugt vorübergehen lassen und zuerst die HauptVortheile für sich daraus ziehen. Mein Haus, meine Verbindungen, meine Verwandtschaften fordern Sie gleichsam auf, in Staats- oder Krondienste zu treten, und nach dieser Auszeichnung geht das Streben des ganzen Landes. Alles dient, Alles sucht zu dienen, und wer dadurch auch nicht gerade dem Vaterlande nüßlich wird, der fördert sich selbst um so mehr. Die Verfassung unseres Kaiserreiches ist der Art, daß die Geburt wenig Vortheil darbietet, durch den Staatsdienst aber selbst von dem Geburtslosen sich Alles erreichen läßt. Der geborene Fürst und der Sohn eines Kaufmannes treten zusammen in eine Schule, in eine Militairerziehungs-Anstalt, und der Staat erkennt in Beiden nur das größere Talent, die größere Tüchtigkeit an. Dagegen ist nicht zu vergessen, daß die Söhne wohlverdienter Männer besonders für ihre Väter berücksichtigt werden. Mit Einem Worte, in Rußland gilt nur der Rang, den sich Jeder selbst erwirbt, nur das Ansehen, das sich Jeder persönlich durch seine Dienstleistungen erworben hat; daher in den Augen des gemeinen Volkes Niemand etwas gilt, der nicht einen bestimmten Rang und folglich keine Stellung in der Gesellschaft einnimmt. Der Soldät ist ursprünglich leibeigener Bauer, wie jeder andere; sobald ihn aber die Uniform schmückt, trift Jeder ihm aus dem Wege. Glauben Sie aber nicht, daß der Staat ihn dazu verdammt, Zeitlebens dem Stocke des Unteroffiziers und den Vorwürfen des Hauptmanns zu gehorchen; keinesweges; sobald er sich auszeichnet, sei es durch Lesen, Schreiben und Rechnen, sei es durch Kriegsmuth im Feuer der Schlacht, so führen ihn seine Verdienste weiter; er trägt zuleht die Epauletten des Offizieres, und ich könnte Ihnen eine ganze Reihe Männer anführen, die leibeigen geboren wurden, als Ober-, als Stabsoffiziere, ja als Generale endigten. An demselben Tage, wo ich Offizier wurde, trat einer meiner Bauern als Soldat in ein Feldregiment, und in demselben Jahre, wo ich den Rang eines General-Majors erhielt, stellte sich Jener bei mir als

Lieutenant ein. Sie werden allmählich selbst alle Vortheile einsehen die Ihnen daraus entspringen, wenn Sie einen Kronsrock tragen. Sie gerathen über kurz oder lang auf der Straße, an einem öffentlichen Orte, bei einer Parade doch einmal mit der Polizei zusammen; diese sieht in Ihrer Person zuerst einen Tschinownik, Staatsdiener, ode: keinen; im ersten Falle wird sie Ihnen mit einer gewissen Höflichkeit begegnen, Sie bitten, sich von da oder dort zu entfernen; im zweiten Falle wird es viel Schonung von ihr sein, wenn Sie nur durch Schimpfworte und Drohungen entfernt werden, aber sie kann auch das mittel alterliche Fauftrecht zu Hülfe rufen, und gegen dieses schütt Sie einzig der Kronsrock. Sobald Ihre Prüfung überstanden ist, werde ich durch meinen Freund, den Minister Dmitri Wasilewitsch, dafür sorgen, daß Sie eine Stelle als Arzt oder Gehülfe in seinem Minifterium einehmen, die Ihnen freilich keinen Gehalt einbringt, aber auch nur geringe Verpflichtungen auferlegt, zulegt aber den unberechen. baren Vortheil darbietet, daß Sie Krondiener, Tschinownik, geworden find. In dies Verhältniß treten eine Menge junger, reicher, felbfi vornehmer Leute. Sie sind wenig oder gar nicht beschäftigt, rücken aber allmählich doch vorwärts im Range, und die Nacheiferung spornt dieselben sehr häufig, sich wirklich auszuzeichnen, um nicht einen zu großen Abstand hinter ihren Kameraden zu erleben. Wer auf diesem geraden Wege nicht gedeiht, der sucht den der Fürsprache, der Gunst, der Protection, und am wichtigsten ist es, dieser zweiten nicht ganz aus den Augen zu verlieren. Auf diesem Felde sind die Frauen noch mächtiger und einflußreicher, als die Männer, und wer solche Stimmen nicht gerade für sich haben kann, der thut sehr weise, fie sich nicht zu offenbaren Feinden zu machen. Verbindungen und ausgebreitete Bekanntschaften sind schon deshalb nöthig, daß der junge Tschinownik erfährt, wo er nüßen kann. Bisweilen fehlt eine Stelle für den Mann, bisweilen der Mann für die Stelle, und man muß sehr oft die lettere mit Günstlingen besehen, weil der Würdige nicht gefunden oder durch fremden, mächtigen Einfluß zurückgedrängt wird. Viele Steller in unserem Lande werden freilich nach den Kenntnissen und Talenten befeht, andere nach dem Range, manche nur durch Gunst. Ihr Stand als Arzt ist in Rußland der einzige, in den sich keine fremden Elemente eindrängen, in allen anderen Ministerien sehen Sie aber einen beständigen Wechsel. Heute beginnt Einer seine Laufbahn als Militair; er zeichnet sich aus im Felde, kommt zurück, und nach einiger Zeit sehen Sie ihn in diplomatischen Geschäften; wieder nach einigen Jahren begegnen Sie ihm als Sectionschef im Finanzministerium; hier wird er nach Ihrer Meinung seine Laufbahn beschließen. Sie reisen in das Innere und sehen ihn als Civilgouverneur einer Provinz; dor langweilt sich der Mann, der an das Leben der Residenz gewöhnt if, obgleich er mit der Macht eines persischen Satrapen dort verfährt. Unter dem Vorwande, seine zerrüttete Gesundheit zu stärken, reist a in's Ausland, wo er einen hoch emporgestiegenen Freund findet, dem er seine Wünsche mittheilt. Dieser beruft ihn nach der Residenz zurüd und stellt ihn in seinem Ministerium für besondere Aufträge an und wäre es nur, mit dem Minister Karten zu spielen, dessen HausAngelegenheiten zu übernehmen. Er führt aber dabei den stolzen Rang eines Geheimen Rathes, den Titel eines Kanzlei-Direktors, oder eines Beamten für besondere Aufträge. Unsere Ministerien wimmeln von Beamten, und der Gang der Geschäfte wird zehnfach dadurch gelähmt, statt gefördert. Und doch hat dieser Mißbrauch, dieser scheinbare Unsinn, für die Verhältnisse unseres Reiches seine guten, ja seine wichtigen Seiten und Folgen. Das Uebermaß der gleichstehenden Beamten in den niederen Rangklaffen bewirkt, daß Jeder streben muß, eine Linie vor den Anderen vorwärts zu kommen; Auszeichnung, wahrer Diensteifer, erworbene Geschäftskenntnisse, Ordnungsliebe, Gewiffenhaftigkeit sind allein im Stande, den Tschinownik der lehten, d. H der vierzehnten Klasse aus dem Staube herauszuheben, und went das Ministerium aus zehn gewöhnlichen Schreibern nur einen tüchtigen Beamten zum Tischvorsigerden herausbildet, so ist das für den Staat ein reiner Gewinn. Sie werden fragen: Was wird denn aus den Anderen? Auch diese sind noch zu verwenden. Der Russe hat eine sehr schnelle Fassungskraft, er eignet sich mit größter Leichtigkeit das Neue, das Fremde an; in gewisser Zeit befizt er sicher eine gewisse Geschäftskenntniß, und wenn er in der Residenz nicht weiter kommer kann, so schickt ihn die Regierung in eine Kreisverwaltung, oder sie ertheilt ihm eine der tausend Stellen, die unser Reich darbietet und in allen anderen Staaten unbekannt sind. Er wird verwaltender Dekonom einer Erziehungs-Anstalt oder eines Departements; der ganze materielle Theil der Hausbesorgung ist ihm überlassen, und es ist nicht zu leugnen, daß der Mann, der einige Jahre in der Haurtstadt zubrachte, doch gewisse Formen, ja ein gewisses Ehrgefühl mit in die Proving bringt. Unsere Ministerien sind mit ihren unzähligen Beamten gleichsam eine Bildungsschule für das Innere des Reiches unt die ganz entlegenen asiatischen Provinzen. Ein Beamter, der slefen | schreiben und rechnen kann, im Stande ist, einen kleinen Bericht u einfache Verhältnisse abzustatten, ist in der Kirgisen-Steppe gestauntes Wesen, und hat er in Petersburg gelernt zu gehoden

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beobachten, so wird er dort als Polizeimeister gebieten und herrschen und, wenn er ein ehrlicher Mann ist, dem Lande wie der Regierung nüßen. Es wird Ihnen oft begegnen, daß einer Ihrer Bekannten einmal plößlich verschwunden ist; in Ihrem Gedächtnisse wird er durch neue verdrängt. Nach zehn Jahren sehen Sie denselben flüchtig wieder. Woher? wohin, mein Freund? Wo hast Du gesteckt? Wie? ruft Jener, hast Du nichts von meiner Carrière gehört? Vor zehn Jahren wurde ich plöglich in das Gouvernement Simbirsk oder Perm als Gouvernements-Secretair geschickt. Der Gouverneur zeichnete mich aus; nach drei Jahren schon leitete ich einen großen Theil seiner Geschäfte, wurde belohnt, stieg im Range und bin in diesem Augenblicke Vicegouverneur, und das nur, weil ich erst Kollegienrath bin. Stirbt aber mein Chef, so werde ich selbst Gouverneur, und meine Laufbahn ist gemacht. Ich bin nach Petersburg gekommen, um mich schnell zu verheiraten. Lebe wohl, alter Freund. Es vergehen wieder fünf Jahre. Ein Geschäft führt Sie in irgend ein Departement; der Direktor selbst wird einstweilen durch den Vice-Direktor vertreten. Sie lassen sich anmelden. Wer kommt Ihnen entgegen? Ihr Freund, den Sie schon lange als Gouverneur in Simbirsk geglaubt haben. Wie so, alter Freund? Nun, antwortet Jener, sieh, ich war mit meiner Stellung zwar ganz zufrieden, aber meine Frau langweilte sich, konnte sich auch nicht besonders gut mit der Gemahlin des Gouverneurs zurecht finden; dann ist die Provinz auch aller Unterhaltung beraubt. Meine Frau schrieb ohne mein Wissen an ihren Vater und bat ihn um eine Stelle für mich in der Residenz. Zulezt ist es hier angenehmer und zugleich mehr Aussicht. Ein anderes Mal werden Sie unter Ihren Freunden einen jungen Garde-Offizier vermissen, einen Hauptmann; Sie finden ihn nach fünf Jahren wieder als GeneralMajor. Er kommt vom Kaukasus zurück, hat zwar den Schamyl nicht gefangen genommen, ist aber nahe daran gewesen, und ihn schmückt jezt das Georgenkreuz. Sie kennen einen Marine-Offizier, der neun, ja zehn Jahre lang nur Lieutenant geblieben. Nach drei Jahren begegnen Sie ihm als Capitain ersten Ranges und mit dem Georgen- Orden. Wo warst Du denn so lange unsichtbar? Ich habe eine Reise um die Welt gemacht, und diese hatte Alles nachgeholt, was das Schicksal früher an mir versäumt hatte; ich kommandire jegt das Linienschiff, wo ich zuvor nur ältester Lieutenant war. Einer seiner Kameraden ist gleichzeitig spurlos verschwunden; nach einigen Jahren finden Sie seine und seiner Gemahlin Visitenkarte, und er ladet Sie zu einem Balle und Abendessen ein. Wie kann ein Schiffslieutenant das möglich machen? Der Gehalt ist zum Erbarmen! Ich war während der Zeit, antwortet er mit einem gewissen Selbstgefühle, Gouverneur auf der Insel Sitka oder den Aleutischen Inseln, habe die Reise zu Lande, und noch dazu mit einer jungen Frau, durch Sibirien gemacht, bin aber zur See um das Kap Horn zurückgekommen, habe meinen ganzen Gehalt als Pension und während meiner Dienstzeit mir dort ein kleines Vermögen erworben; auch meine Frau ist nicht unbemittelt; das Schiff, auf dem ich zurückkam, trug außerdem viel fremde, echte Waaren, die ich hier mit großem Gewinn abgesezt habe.

,,Ich überlasse es Ihrer eigenen Beobachtung, diese Beispiele zu verhundertfachen; es wird dazu keiner großen Mühe bedürfen. So wie das Reich seit zweihundert Jahren beständig gewachsen ist und sich nach allen Seiten hin ausdehnt, so fühlt der Einzelne einen Drang in sich, seine Kräfte zu vervielfältigen und seinen Wirkungsfreis zu erweitern. Jede nächste Generation bringt nicht allein neue Gesinnungen und Ansichten, sondern neue Geschlechter, neue Familien, neue Männer, neue Charaktere hervor, und selbst in dem Bürgerstande, der eben erst bei uns anfängt, sich zu bilden, werden Sie oft in Vater, Sohn und Enkel nicht drei Menschenalter allein, sondern nach europäischen Ansichten drei Jahrhunderte entwickelt fehen. Steigen ind Fallen geschieht mit derselben Schnelligkeit, und selten ist es, daß rei Generationen einer Familie ähnliche Männer, ähnliche Gesinnung ufzuweisen haben. Das Dauernde, das Bleibende, das langsam durch Jahrhunderte Herangebildete fehlt uns ganz.

„Es bleibt Ihnen. überlassen, ob Sie nach stiller deutscher Art in den bisherigen Verhältnissen in meinem Hause bleiben wollen oder geneigt find, von dem kleinen Teiche meiner Behausung aus sich hinaus zu wagen in das Meer unseres Reiches. Alle Bedingungen, die Sie an meine Person knüpfen, bleiben darum immer dieselben und helfen Ihre Schifffahrt auf der offenen See des Lebens nur lenken und steuern, und so weit, hoff ich, werden Sie sich nicht wagen, daß vir uns aus dem Gesichte verlieren."

Theodor war der Mittheilung des sonst verschlossenen Generals Schritt für Schritt gefolgt; sie war von einer Gutmüthigkeit begleitet, die an das Väterliche gränzte, und er fühlte einen Muth, einen Drang in sich, den er jedenfalls zuvor nicht gekannt hatte. „In vier Wochen“, prach er,,,ftelle ich mich mit dem Doktordiplom der hiesigen Universiät ein." ,, Und vier Wochen später“, fiel der General ein, „ercheinen Sie im Kronsrocke; aber ich wiederhole es, wir bleiben gute Freunde, so lange Sie sich nicht durch eine Heirat bethören lassen. affen Sie sich es auch am Herzen liegen, die beiden Sprachen in

kurzer Zeit zu erlernen, wenigstens bis dahin, daß man Sie in keiner verkaufen kann."

Aegypten.

Rene Entdeckungen in Aegypten.
(Schluß.)

Die zweite Werkstätte, die Herr Mariette zu Sakkarah errichtet, hat den Eingang in die bisher uneröffnete Pyramide mit abgeftugtem Gipfel, welche unter dem Namen Mastabatt-el-Pharaun bekannt ist, erzwungen. Die englische Expedition unter Wyse, welche die Pyramidenfelder untersuchte, hatte sie bei Seite gelaffen; 150 Arbeiter mußten 66 Tage arbeiten, um den Eingang zu dem Denkmale frei zu machen, der, wie bei allen anderen, gegen Norden gelegen ist. Das Innere der Pyramide gleicht ganz dem der Mykerinuspyramide (der dritten bei Gizeh), nur ist erstere noch sorgfältiger gearbeitet; der Eintrittsgang, die inneren Gänge, die Kammern, Decken, Alles ohne Ausnahme, besteht aus rosenfarbenem, in ungeheuren Blöcken ausgehauenem Granit, der meisterhaft zugerichtet ist. Das Bruchstück einer Inschrift, roth auf Blöcke im Innern gezeichnet, gab als Gründer des Monumentes den König Unas, den legten König der fünften elephantinischen Dynastie (Onnos), zu erkennen.

Onnos ist ein Elephantiner. Wie dessen Grab in die Nähe von Memphis kommen könne, darüber muß ich gleichfalls auf meine oben berührte Schrift verweisen, wo über diese elephantinische Dynastie ausführlicher die Rede ist. Schon Bunsen hat erkannt, daß dieser Onnos gleich ist mit dem ersten Könige der sechsten (memphit. oder herakleopol.) Dynastie, dem Othres. Seine Regierung, welche Epoche macht (409 Jahre vor dem Auszuge unter Thutmoses), fällt von 1984 bis 1954 v. Chr. Er war ein den Aegyptern im höchsten Grade verhaßter Tyrann, der durch eine Revolution gestürzt wurde. Plinius nennt ihn Tithres, und macht ihn zum ersten Erbauer des Labyrinthes. Die Nachgrabungen von Sakkarah haben außer Anderem einige Denkmäler aus der sechsten Dynastie (eben dieses Othres) zu Tage gebracht, die sonst nicht sehr stark vertreten ist. Wahrscheinlich nahm der Bau des Labyrinthes, das ganz zerstört ist, die Kräfte zu sehr in Anspruch, denn dieses fällt unzweifelhaft unter Othres und seinen Nachfolger Phiops Marros.

Zu Karnak (Theben) hat man das vortrefflich gearbeitete Bruchstück einer Statue von Amenenche 1. zu Tage gebracht. Der Granit scheint hier fein wie Elfenbein geschnitten. Ebenso fand man daselbst eine Statue des Ammon aus der achtzehnten Dynastie.

Die Nachgrabungen zu Abydos, der Stätte des ältesten Osiris. Dienstes, namentlich in der alten berühmten Nekropole, haben noch nicht den Erwartungen entsprochen; indessen steht Bedeutendes in Aussicht, da Herr Mariette vom Vicekönig den Befehl erhalten, die vollständige Abräumung um den großen von Sethos I. und Ramses II. erbauten Tempel zu bewirken, derselbe ist nämlich bis an die Säulenknaufe vom Sande bedeckt.

Zu Gurna, in dem ebenen Theile von Theben, der an das libysche Gebirge gränzt, wurde ein interessantes Denkmal entdeckt, und zwar an einer Stelle, wo man früher bereits die Sarkophage von Königen der elften Dynastie entdeckt hatte.

,,Die Herrscher, welche dieser Familie angehören, besaßen allem Anscheine nach nur die Thebaïs; ihre Gräber waren von der größten Einfachheit und nichts zeigt bei ihnen weder Reichthum noch eine ausgedehnte Macht an. Der Stil ihrer Monumente ist roh, aber von einer gewissen Großartigkeit.“

Herr Mariette fand also den Sarkophag eines Königs mit der Mumie selbst in etwas gestörter Lage, aber sonst unverlegt. Am linken Oberarm bis theilweise über die Schultern hing, wie eine Art Ring, eine schön geflochtene Schnur von Papyrus, an welcher nach nubischer Art ein schöner Dolch mit eherner Klinge und gold- und filbergeschmücktem Griffe befestigt war. Im Innern der Mumie fand sich ein Skarabäus und mehrere Amulette; in der Brusthöhle zwei kleine goldene Löwen in liegender Stellung mit geschlossenem Rachen und bei denselben ein königliches Namenschild, worauf der Titel aus sehr verkrufteten Goldfäden zusammengefeßt war. Die Mumie gehörte danach einem Könige, der, wie der Stifter der achtzehnten Dynastie, den Namen Aahmes trug. Die Form des Sarges ist dieselbe wie bei dem des Königs Antef (Nentef) der elften Dynastie; sein Schmuck besteht aus zwei großen Flügeln, welche den Leib ganz einhüllen. — Diese Form, ebenso wie die Lage des Grabes, lassen Herrn Mariette keinen Zweifel, daß dieser neue König Aahmes zu dem Könige Nentef zu stellen sei und in dieselbe Zeit gehöre.

Dies ist abermals ein Punkt, wo die Monumente unsere Aufstellungen wider Erwarten bestätigen. Man vergleiche S. 97 (,,System der ägyptischen Chronologie“), so wird man die Dynastie Amesses (schon nach Böckh statt Ramesses verbessert) mit der Denkmaldynastie der Antef oder Nentef gleichgesezt finden. Nach einer Beweisführung wird auch diese angebliche elfte Dynastie, welche mindestens 800 Jahr vor dem Anfange der Herrschaft Thebens und der achtzehnten Dynastie

regiert haben müßte, zur siebzehnten, d. h. zu der, welche der AmosesDynastie unmittelbar vorherging. Damit begreift sich nun sehr ein fach, wie schon der Stammvater des Vertreibers der Hyksos, Amoses ebenfalls Amoses hieß (Amesses beim Syncellus) und wie dieselben Könige vor dem Sturze der unterägyptischen Könige aus der AmenencheDynastie nur in der Thebaïs herrschten. Was Mariette hier auf Grund der Denkmäler behauptet, habe ich bereits nach den Folgerungen meines chronologischen Systemes annehmen müssen. Einen früheren König Aahmes, unterschieden von dem gleichnamigen Haupte der achtzehnten Dynastie, erschloß ich schon aus einer am selben Orte (zu Gurna) gefundenen Inschrift (Bunsen,,,Aegypt. Stell.", II, S. 258). In einem Grabe daselbst wird in Namenschildern eine Doppelreihe von Fürsten gegeben:

Obere Reihe: Amenatep I. und seine Gemahlin.
S. kennen Ra.

Untere Reihe: Tu-neb-ra

Aahmes.

Da Sekennen Ra (der Soikunios des Eratosthenes) unzweifelhaft ein Vorgänger des Amenophis (achtzehnten Dynastie) ist, Tu-neb-ra aber wieder ein Vorgänger des Sekennen Ra (Tafel von Karnak), fo kann der lezte Aahmes nicht der Vater Amenoph's I., sondern nur sein weit älterer Ahnherr, der Stifter der Dynastie Aahmes-Rentef sein. Wir haben also diesen neuentdeckten König, der etwa 1850 vor Christo anzusehen ist, nicht nur doppelt als anderweitig bekannt nachgewiesen, sondern auch seinen Zusammenhang mit der Nentef-Dynastie näher begründet.

Die chronologische Bestimmung ist bei gesicherter Grundlage nicht mehr besonderem Zweifel unterworfen. Daß die achtzehnte Dynastie 1607 v. Chr. 345 Jahre vor der sothischen Periode begann, geben die bewährtesten Forscher auf die Autorität des Clemens von Alexandrien zu; da diese Amessesdynastie (beim Syncellus) 190 Jahre dauernd, unmittelbar vorangeht, so fällt ihr Anfang 1857 v. Chr.

So weit die Entdeckungen Mariette's.

Außerdem erfahren wir, daß der Herzog d'Aumont Villequier während des legten Winters abermalige Abdrücke von dem berühmten Thierkreise zu Denderah genommen hat. Der arabische Schriftsteller Makizi erzählt:,,Zu den Wundern Aegyptens gehört der Tempel von Denderah. Es ist ein erstaunlicher Tempel. Er hat 180 Deffnungen. Die Sonne tritt jeden Tag durch eine dieser Deffnungen, dann durch die zweite, bis sie zu der legten kommt. Dann kommt sie wieder zurück bis zur ersten, wo sie angefangen." Also eine Art Sonnen

Uhr. Der Herzog hat diesen (pyramidalen) Deffnungen, die dazu dienten, den genauen Eintritt des Mittags anzuzeigen, sein vorzügliches Augenmerk zugewendet. Aehnliche Pyramidal-Deffnungen findet man auch am Ramesseum zu Theben.

Nord-Amerika.

Amerikanische Miscellen. *)

III. Ausgaben der Stadt New-York.

Kn.

In einem früheren Artikel habe ich einige Mittheilungen über den Betrug und die Unordnungen gemacht, welche in der StadtVerwaltung von New-York vorgekommen sind, sowie über den geringen Eindruck, dea dergleichen Enthüllungen auf das Publikum machen, indem sie in dem Geschrei und Jagen der Individuen nach Gelderwerb fast spurlos vorübergehen. Es wird daher nicht uninteressant sein, hier eine kurze Specification der sämmtlichen Ausgaben der Stadt New-York im Jahre 1857 mitzutheilen, welche der New-York Herald vom 12. Juli unter der Ueberschrift: „, Our Municipal Extravagance", nach Valentine's „Manual“ veröffentlicht.

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Die Einwohnerzahl wird auf 700,000 Seelen angenommen, sowie ich fie früher einmal in diesen Blättern angegeben habe, indeß will ich nicht unbemerkt lassen, daß ich dieselbe im vergangenen Frühjahr anderwärts auf mehr als 800,000 Seelen angegeben fand. Bei der Unficherheit amerikanischer Statistik mag hier die Erörterung darüber dahingestellt bleiben. Die Gesammt-Ausgaben in allen Branchen werden für das genannte Jahr auf sechzehn Millionen 280,538 Doll. 69 Cents angegeben. Hierunter sind über sechs Millionen für Einlösung ftädtischer Scheine und vier Millionen für den (noch in der Anlage begriffenen) Central-Park und andere Kosten ausgegeben worden. Sechs Millionen 855,326 Doll. 11 Cents wurden durch direkte Besteuerung aufgebracht. Im Allgemeinen rechnet man auf jeden Kopf der Einwohner, Männer, Weiber und Kinder, eine BeSteuerung von ungefähr 10 Doll.

Die für den Staat New-York mit einer Bevölkerung von viertehalb Millionen Einwohnern in demselben Jahre erhobene Steuer

*) Vgl. Nr. 107 und 113 des,,Magazin“.

betrug nur drei Millionen 224,946 Doll. 68 Cents, oder weniger einen Doll. auf den Kopf, so daß also die Kosten der Staatsregienverhältnißmäßig nur ein Zehntel der Kosten der Stadtverwaltung trugen. Zu diesen Staatssteuern trug die Stadt New-York e Million 171,226 Doll. 88 Cents, also beträchtlich mehr als . Drittel bei, und außerdem 390,408 Doll. 96 Cents als Beitrag der Schulsteuer, abgesehen von Erhaltung der öffentlichen Schr der Stadt.

Es unterliegt keinem Zweifel, bemerkt der Herald", das en großer Theil der städtischen Einkünfte in die Taschen ser Beamten verschwindet. Jahre hindurch, fährt er fort, hata uns bemüht, die Aufmerksamkeit der Bürger von New-York azi schamlose Verschleuderung und Beraubung zu lenken, welche von f. schen Beamten aller Grade verübt wird. Aber dies wird so wc: wie andere dergleichen Artikel Eindruck machen, Plünderung u Corruption nehmen ihren unabänderlichen Lauf.

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Die,,New-Yorker Staats-Zeitung" ist ein demokratisches Part blatt und macht auch Opposition gegen die jeßige Polizei, die re möge Einrichtungen angestellt ward, die von der republikaniste Partei veranlaßt wurden; gleichwohl scheinen die obigen Angaben m unrichtig zu sein und mit anderen übereinzustimmen, die früher it die Ausgaben für die Polizei veröffentlicht wurden. Man wird zugle bemerken, daß die Polizei zu schwach ist, besonders wenn man erwär daß sich Tausende von gefährlichen Individuen in der Stadt umhe treiben.

Mannigfaltiges.

-Führer in Norwegen. Mehr, als in früheren Jahre.. haben sich in diesem Sommer die deutschen Touristen den skandinavischen Ländern zugewandt, in dieser Beziehung dem Vorgange von Engländern und Amerikanern folgend, die bereits seit längerer Zei auch die nordischen Länder aufsuchten, wo bisher nur selten Ve gnügungsreisende aus Deutschland gesehen worden. Namentlich ist: Norwegen, welches durch seine in Düsseldorf und München studire Maler auch unter uns populär zu werden anfängt. Damit sich m deutsche Touristen dort bald orientiren können, hat ein Schlefiet, Herr Fr. Mehwald, der auf drei Reisen, in den Jahren 1855, 185 und 1857, mannigfache Erfahrungen in Norwegen gesammelt, jeg: einen,, Wegweiser für Reisende" und zugleich eine Schilderung der Einwohner, Thiere und Pflanzen, ferner des Klima's, der politischer und kirchlichen Verhältnisse, sowie der Wissenschaft und Kunst in Nor wegen herausgegeben.") Das Büchlein erfüllt seinen Zweck vollständ und ist dabei so billig im Preise, wie nicht leicht ein Reiseführer ve ähnlichem Umfang und Inhalt.

*),, Nach Norwegen". Von Fr. Mehwald. 184 S. in 12. Leirzi C. B. Lord, 1858. (Lord's Eisenbahnbücher Nr. 28. Pr. 10 Sgr.)

Das mit dem 30ften d. M. zu Ende gehende Abonnemen wird Denjenigen in Erinnerung gebracht, die im regelmäßiger Empfange dieser Blätter keine Unterbrechung erleiden wollen.

Böchentlich erscheinen 3 Kummern. Preis jährlich 3 Thlr. 10 gr., halbfährlich 1 Thlr. 20 Sgr. und vierteljährlich 25 Sgr., wofür Das Blatt im Inlande portofrei und in Berlin frei ine Haus geliefert wird.

No 116.

für die

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Literatur des Auslandes.

England.

Ein englisches Gymnasium.

Berlin, Dienstag den 28. September.

Erinnerungen eines Schülers von Rugby.") Will man wissen, wie tief das self-government in die englischen Sitten gedrungen, muß man das englische Erziehungssystem befragen, und wenn Wordsworth recht hat, daß das Kind der Vater des Mannes ist, so wird das Schauspiel des freien England nichts Räthselhaftes mehr für uns haben, wenn wir diese Republik im Kleinen, eine öffentliche englische Schule, betrachten.

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In England hat die Individualität das Uebergewicht in der Erziehung wie in der Gesellschaft. Außer der gefeßmäßigen Ueberwachung in den Unterrichtsstunden, regiert sich der Knabe selbst: er wehrt sich gegen An- und Eingriffe seiner Schulgenossen, bildet Bündnisse, veranstaltet Raufereien, schließt Verträge, kurz, versucht den Kampf des wirklichen Lebens nach verjüngtem Maßstabe. Die Schule, wie der Staat, hat ihre parlamentarischen Debatten, Parteikämpfe, MeinungsKonflikte, meetings und Tischreden. Die Sitten der Schule sind ein treuer Abklatsch der Sitten der englischen Gesellschaft: heftig, lärmend, etwas brutal hier siehst du als Skizze den künftigen Fuchsjäger; den künftigen Sportsman, der einst auf dem turf durch die Trefflichkeit seiner Renner und die Geschicklichkeit seines Jockey berühmt sein wird; den künftigen kosmopolitischen Gentleman, der nach starken phy, fischen Aufregungen durch die Welt rennen, der unter allen Genüssen diejenigen vorziehen wird, denen sich das Gefühl der Gefahr beimischt. Zu der Vorliebe des Engländers für körperliche Uebungen wird schon in der Schule der Grund gelegt, und weder die Ueberwachung der Lehrer, noch die Schulregeln greifen störend ein. Der Direktor steht den Aeltern weder für einen Beinbruch, noch für eine Brustkrankheit, die ein zu weiter Lauf oder ein zu higiges Ballspiel nach sich ziehen kann. Verrenkungen, aufgeschwollene Augen, eingeschlagene Zähne das sind gewöhnliche Vorfälle, um die fich kein Mensch kümmert; dem Frevler wird kein Vorwurf gemacht, dem, der den Schaden hat, kein Mitleid bezeigt; denn der Lehrer ist, so zu sagen, von der SchulPolizei ausgeschloffen. Die Schüler selbst versehen die Polizei und die erste Regel ist,. daß sie unter keinen Umständen zum Schuße des Lehrers Zuflucht nehmen. Die von Natur Feigen oder Scheinheiligen haben also von niedrigen Ränken und jesuitischen Anklagen nichts zu hoffen. Angeberei und Verrath_sind in einer englischen Schule unbekannte Lafter. Die Saat der Lüge hat hier keinen Boden, denn befreit von allem Spionirwesen und allem Zwang, haben die Kinder ihre Handlungen nur vor sich, oder vor Ihresgleichen zu vertreten, die sie zu scheuen keinen Grund haben. Die Seelen Energie entfaltet sich ungehindert, die Nerven erstarken, die dem Kinde von Natur anhaftende Schüchternheit weicht, um dem Geist des Widerstandes Plag zu machen. Dank dieser ungehemmten Freiheit, ermißt schon jeder Knabe seine moralischen Kräfte und macht den Anfang zu der Lebenserfahrung. Wie das self-government das unbedingte Vertrauen auf den Charakter des Mannes zur Grundlage hat, so ist die Stüße der englischen Erziehung das unbedingte Vertrauen auf die Instinkte des Kindes. Help thyself (hilf dir selbst) ist das Ariom, auf welchem die Erziehung, wie die Gesellschaft, in England beruht.

Doch es ist Zeit, unseren „alten Burschen“ aus der Schule von Rugby zu hören, der sich uns unter dem Namen Tom Brown vorftellt. Tom Brown ist aber der Name einer Gattung, ein Typus, der nicht etwa einen bestimmten Schüler, oder eine besondere Familie, sondern eine ganze Volksschicht, den thätigsten, derbsten Schlag der englischen Nation, die Mittelklasse, und namentlich die ländliche Bevölkerung der Grafschaften, bezeichnet. In einigen kräftigen und malerischen Strichen wirft der Verfasser das Bild der großen Familie hin, zu der er gehört. Alle gegenwärtig an den Universitäten imma. trikulirten jungen Gentlemen kennen die Brown's, die neulich durch die Feder Thackeray's und durch den Stift Doyle's berühmt geworden find. Troß aber des wohlverdienten, wenn auch verspäteten

*) Tom Brown's School Days, by an Old Boy. Cambridge: Macmillan & Co 1050

1858.

Rufes, den diese Familie erlangt hat, werden Alle, die sie genauer kennen, einsehen, daß in Wort und Schrift noch viel zu sagen ist, bevor die englische Nation wiffen wird, wieviel von ihrer Größe sie den Brown's zu danken habe. Jahrhunderte hindurch hatten sie in ihrem schweigsamen, beharrlichen, schlichten Humor damit zu thun, das Land in den englischen Grafschaften zu unterwerfen und die Spuren ihrer Thätigkeit in den Wäldern Amerika's und auf den HochEbenen Auftraliens zurückzulassen. Ueberall, wo die Flotten und Heere Englands Ruhm gewannen, konnte man sicher sein, tapferen Mitgliedern der Familie Brown zu begegnen. Ueberall thaten sie das Werk derber yeomen: zu Crécy und Azincourt mit dem Eibenbogen; unter dem braven Lord Willoughby, mit der Feldschlange und Halbschlange; gegen die Spanier und Holländer, mit Granate und Säbel, Muskete und Bajonnet unter Rodney und Saint-Vincent, Moore, Nelson und Wellington. Ueberall gab es derbe Püffe, und die härteste Arbeit zu der sie sich übrigens vorzugsweise drängten — wurde ihren breiten Schultern aufgelegt; dafür gewannen sie wenig Lohn und wenig Ruhm, woraus sich die meisten unter ihnen nicht viel machten. Die Talbot, die Saint-Maur, die Stanley und Ihresgleichen haben vor Jahrhunderten Heere kommandirt und Geseze gegeben; wollte man eine Waage aufstellen, so würden diese adligen Familien große Augen machen, wenn sie bemerken, wie leicht die Dienste, die sie England geleistet, gegen die Dienste wiegen, welche es den Brown's zu danken hat.

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Squire Brown, Vater unseres Schülers, war Grundherr und König eines Dörfchens in Berkshire, nahe dem Thale White-Horse, wo vor Zeiten zwischen dem König Alfred und den Dänen eine große Schlacht geliefert wurde, wo noch Ueberreste römischer Mauern, ein durchlöcherter und klingender Stein, der den alten Thalbewohnern ohne Zweifel als Sprachrohr diente, ihnen bei drohender Gefahr Warnungszeichen zu geben, und noch andere Wunder und Trümmer der Vergangenheit zu sehen sind. Squire Brown selbst war auch eine Ruine aus jüngerer Vergangenheit. Er war Tory bis aufs Mark, glaubte als Kavalier der Restauration an das göttliche Recht des Staats-Oberhauptes und an den blinden Gehorsam; allein diese politischen Vorurtheile waren harmlos, wie alle Vorurtheile, die aus einem reinen Gewissen und einem rechtschaffenen Herzen kommen. Denn, im Vorbeigehen gesagt, nur die Vorurtheile sind schädlich, die aus einem Querkopf erzeugt uns gegen die Wirklichkeit blind machen. Könnten politische Vorurtheile eine Nation tödten, England läge längst im Grabe; zum Glück aber für ihre Ruhe, haben die Engländer stets ihre Vorurtheile durch ihr praktisches Betragen berichtigt. Auch Squire Brown,,verband", wie sein Sohn sagt, mit seinen toryistischen Grundsäßen gewisse gesellschaftliche Prinzipien, die man allgemein mit einem reinen Toryismus nicht für verträglich hält. Zuvörderst behauptete er, ein Mensch sei nur nach dem zu schäßen, was er werth ist, und was er innerhalb seiner Mauern von Fleisch und Blut in sich hat, abgesehen von seinem Anzug, seinem Nang, seinem Vermögen und Allem, was darum und daran ist. Dieser GlaubensArtikel kann, denk ich, als heilsames Korrektiv aller politischen Meinungen gelten; er macht die Ansichten aller Farben unschädlich, seien sie blau, roth oder grün. Als nothwendigen Folgefaß dieser Meinung nahm der Squire an, daß es sehr wenig darauf ankomme, ob der Gespiele seines Sohnes ein Lords- oder Bauerssohn sei, vorausgefeßt, daß er brav und rechtschaffen ist. Er selbst hatte in seiner Jugend mit den Knaben der Pächter, und Landleute in der Parochie Ball gespielt und Vogelnester ausgehoben, und so hatten sein Vater und Großvater vor ihm gethan. Er ermunterte Tom zu vertraulichem Umgang mit den Dorfkindern, räumte ihnen einen Spielplag ein und lieferte ihnen reichen Vorrath an Bällen und Zubehör."

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Der junge Brown war der würdige Sohn des wackeren Squire. Ob sich der väterliche Toryismus, indem er durch seinen Kopf ging, so rein erhalten habe, soll nicht behauptet werden; dem Wesen nach aber ist er unverändert geblieben. Tom Brown ist ein Engländer aus der alten Schule, der die alten Sitten hochhält und seine Zeitgenoffen ermahnt, wenn ihnen ihr Heil werth ist, darauf zurückzu

Fammen Œr fühlt bad. oräfte Mitleid mit den inngen Gentlemen

die ihre Mußezeit auf dem Festlande verbringen, statt die Thäler und Berge ihrer Insel zu besuchen; die statt echte Engländer, schlechte Weltbürger werden; er blickt mit entschiedener Verachtung auf die englischen Misses, die,,elende ausländische Musik, statt guten englischen Käse machen." In dieser fortwährenden Verschiebung der Körper und der Seelen, in diesem weltbürgerlichen Treiben, in dieser angeblichen Verfeinerung der Erziehung, in diesem Hintansezen örtlicher Sitten und volksthümlicher Vergnügungen sieht er keinen Fortschritt, fondern den Verfall. Wenn die Reichen die Volkslust nicht mehr theilen, so verliert sich das Gefühl der wechselseitigen Verbind lichkeit, erweitert sich die Kluft zwischen den Klaffen, beginnt der gesellschaftliche Zwiespalt In diesen alten Sitten, die aus der Mode kommen, liebt Tom das Populäre und Trauliche, das Offene und Herzliche (hearty), das den Reichen dem Armen näher rückte, den Torysmus des Squires und folglich auch den Radikalismus Dick's, des Köhlers, wie den Chartismus Jack's, des Webers, unschädlich machte. In diesem Sinne des konservativen Radikalismus, der fast in allen Originalschriften, die uns jest aus England zukommen, vorherrscht, ist auch dieses Buch geschrieben....

Ein Erbstück der Familie, der alte Diener Benjamin, hatte seinen ganzen Sinn darauf gestellt, unserem Tom schon früh die verweichlichende Gesellschaft der Frauen zu verleiden, und es gelang ihm zu seiner großen Freude. Er führte den Knaben auf alle Jahrmärkte der Umgegend, zu allen Volksfesten des Kirchspiels, wo er den Schauspielen, die dem alten England so theuer sind, dem Ningen, Boren, Wettlaufen mit Luft zusah. Es kam indeß der Tag, wo der alte Benjamin den jungen Tom auf seinen Ausflügen nicht mehr so unausgefeßt begleiten konnte: das Rheuma lähmte die sonst, trog seiner Jahre, noch so gelenken Gliedmaßen und kein Wunderdoktor des Dorfes fonnte ihn heilen. Indeß hatte Tom unter seiner Leitung seine ländliche Erziehung vollendet, war in allen körperlichen Spielen gewandt, und mit Freuden nahm er die Nachricht auf, daß ihn sein Vater in die öffentliche Schule zu Rugby schicken wolle. Beim Abschiede aus dem Vaterhause redete der Squire seinen Sohn in den schlichten Worten an: „Mein Sohn, auf deinen Wunsch schicken wir dich früher, als wir die Absicht hatten, nach dieser großen Schule. Du wirst dort Niemanden haben, dich zu beschügen und mußt alle deine kleinen Sorgen auf dich allein nehmen. Wenn die Schulen find, wie sie zu meiner Zeit waren, dann wirst du viel Schlechtigkei ten, ja Grausamkeiten zu sehen, viel gemeine und schmuzige Reden zu hören bekommen; sei aber unbesorgt: Nede die Wahrheit, bewahre dir dein gutes und wackeres Herz; höre und sprich nichts, was du nicht möchtest, daß es deine Mutter und deine Schwester hören und du wirst dann niemals fürchten, nachhause zu kommen, sowie wir nicht fürchten würden, dich wiederzusehen."

Die Ermahnungen des Squire's waren nicht unnüt; denn die Sitten der englischen Schuljugend zeichneten sich nicht eben durch Milde und Zucht aus. Die heftige Energie, die jedem Engländer angeboren, giebt sich oft in wilden Ergöhungen kund, und die jungen Gentlemen sehen sich eine gute Prügelei mit demselben Vergnügen an, wie die Kärrner und Brauer.

Auf dem Kutschschemel des Postwagens, der ihn an den Be stimmungsort brachte, bekam unser Tom, Dank dem geschwägigen Conducteur, einen Vorschmack von den Sitten und Beluftigungen seiner künftigen Genossen. „Wackere und kecke Burschen, diese Gentlemen!" sagte er. Aber mit ihren langen Peitschen, ihren Blaserohren, ihrem Hallo, ihrer Lust, alle Vorbeikommenden zu necken, machen sie Unser einem viel zu schaffen. Sie laffen auf die Reisenden einen Hagel von trockenen Erbsen regnen, schlagen die Fenster ein, und Gott weiß, was noch. Lezten Juni kommen wir an einem Trupp armer Irländer vorbei, die auf der Straße Steine klopfen. —,,Ha, das ist prächtig!" ruft einer der jungen Leute, „die Paddies') wollen wir beschütten und schrauben!" „Um Gotteswillen, mein Herr“, schreit der Kutscher Bob,,, unterlassen Sie das, sie schlagen uns den Wagen zu Trümmern."Keine Furcht, Kutscher", ruft der junge Herr;,,Hurrah, Bursche, Feuer!" — Und Sie hätten gelacht, wenn sie die Gesichter der Paddies gesehen hätten, als sie den Erbsenregen spürten. Aber es war gar nicht zum Lachen; denn sie machten sich auf und verfolg, ten uns; Einer war schon auf den Wagentritt gesprungen, fehlte aber und fiel auf einen Haufen Steine, die Anderen warfen mit Steinen und der erfolgte Kampf schlug zu unserem großen Nachtheil aus. Bob bekam einen Stein an die Seite; Bor blutete am Kopfe und verlor seinen Hut, der meinige wurde mir eingedrückt; kurz, Jeder trug einen blauen oder schwarzen Fleck davon. Den Schaden, der sich auf zwei Pfund Sterling belief, erstatteten sie und gaben überdies mir und Bob einen halben Sovereign Extratrinkgeld; aber gleichviel, ich möchte nicht um zehn Sovereigns wieder einen solchen Spaß haben. Bisweilen kommen aber Sachen vor, die ein schlimmes Ende nehmen können. Neulich begegnet uns bei Bicester ein alter Herr zu Pferde.

Er erhebt den Kopf, eine Erbse trifft ihn auf der Nase und sein Pferd, hinten gepeitscht, bäumt sich. Der alte Herr sagt kein Wort, hält sich auf Schußweite und trabt hinter dem Wagen her, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Auf der Station sißt der Alte ab und bedeutet die beiden Jünglinge, die ihn verwundet haben, ihm vor die Behörde zu folgen. Die sämmtliche junge Gesellschaft erklärt ihm rundweg, sie würden ihm entweder Alle, oder Keiner folgen. Die Sache wurde ernst und der Volkshaufen fing an, Partei für den Alten zu nehmen, als ein kleiner Herr aus dem Wagen stieg. "Ich wohne nur drei Meilen von hier, der Name meines Vaters Davis ist bekannt; ich werde mit diesem Gentleman zum Bürgermeister gehen: lassen Sie den Wagen weiterfahren." ,,Bist du der Sohn des Pfarrers Davis?" fragte der Alte. Ja." -,,Gut,,es thut mir sehr leid, dich in so schlechter Gesellschaft so finden; aber aus Rücksicht auf deinen Vater will ich die Sache nicht weiter treis ben." Da klatschten alle jungen Leute Beifall, entschuldigten sich, baten ihn um Verzeihung, drückten ihm die Hände, besser aber wur den sie nicht; denn zehn Minuten darauf trieben sie es so verteufelt wie vorher."

Tom triumphirte bei dem Bericht dieser Heldenthaten, als hätte er selber sie vollbracht: es dünkt ihn, seinen eigenen Ruhm zu hören, er fühlt es mit Stolz, einer so stürmischen Körperschaft anzugehören; so langt er in Rugby an, träumend von Blaserohren, eingeschlagenen Fenstern, wüthenden Irländern und geneckten Reisenden.

An der Thüre des College empfängt ihn ein Schüler, an den er empfohlen worden und der ihn für die erste Zeit in Brauch und Sitte des Hauses einweihen sollte. lege nur bald die Müße ab und seße einen Hut auf! Die Schüler würden dich schön hänseln, wenn sie dich in einer Müße sähen!" Harry East, so heißt die erste Bekanntschaft, der es vielleicht aus Erfahrung weiß, wie sehr man das Lächerliche beim ersten Eindruck zu meiden habe, führt ihn dann ir seine Arbeitsstube, ein sauber gehaltenes, bequemes Zimmer, wie es immer an zwei Schüler vermiethet wird, die dann in dem Schulrathwälsch_chums (Stubenburschen) heißen. Hier lernen die Schüler ohne Zwang, bereiten sich ohne Zwang auf ihre Lectionen vor, plaudern ohne Zwang. Schon im College find die Engländer an den Comfort gewöhnt und umgeben sich mit allen Lebens-Behaglichkeiten. Die Studirstube Harry East's kann ein Bild davon abgeben. Die Wände waren getäfelt, tapezirt und mit Kupferstichen geschmüät, welche die jedem Engländer befreundeten Gegenstände darstellten: steeple - chases, Hundeköpfe, Borer. Sie enthielt einen großen, mi einem Teppich bedeckten Tisch, ein breites Sopha, einen Stuhl; ferner Leuchter, einige Hausgeräthe, eine Rattenfalle, eiserne Zuftrumente zum Erklettern der Bäume, Bälle, Ballschlägel, Angelschnüre.

,,Du kommst gerade zurecht, um ein famoses Schauspiel mit anzusehen“, sagte East zu Tom.,,Heute ist eine große Ballpartie, an welcher die ganze Schule Theil nimmt. Du brauchst aber nur den Zuschauer zu machen und kannst dich von der thätigen Theilnahme lossagen, da du noch nicht alle Regeln kennst." Tom bestand aber darauf, mitzuspielen. „Ei, das ist aber kein Spaß, wie du meinst“, sagte East.,,Das ist ein ganz anderes Spiel als in euren Privatschulen. Im Semester kamen zwei Schlüsselbein-Verrenkungen und ein halbes Dußend Lähmungen vor; voriges Jahr hat ein Schüler das Bein gebrochen.“ Und es ist in der That kein Spaß, dieses Ballspiel, das Tom Brown mit Homerischer Umständlichkeit beschreibt, es gemahnt an die Beluftigungen junger skandinavischer Berserker: man drängt, stößt, zerquetscht einander. So mochten sich die Helden der Nibelungen, Siegfried der Unüberwindliche und Hagen der Raschblickende, in ihrer Kindheit erlustigt haben. So gefährlich aber auch das Spiel ist, Keiner, auch der Kleinste nicht, entzieht sich der Theilnahme, obgleich die praeposters (die Schüler der höheren Klassen, welche die Schulpolizei versehen) es Jedem freistellen, rach Belieben zu gehen und zu kommen.,,Sie vertrauen auf unsere Ehre“, erklärt East. „Sie sind sicher, daß Keiner den Kampf im Stich laffen wird. Wer es thäte, würde der Schul-Acht verfallen.“ Er mag nun wollen, oder nicht, ist der Knabe genöthigt, seine Nerven zu spannen und Proben von Muth zu geben, bei Strafe, ein Gegenstand des Hohnes zu sein, und wie ein Paria in Verachtung, Einsamkeit und Unehre zu leben. Feigheit ist ein unsühnbares Verbrechen, das in dem traditionellen Koder der öffentlichen Schulen Englands keine Entschuldigung gestattet. Der Brutale, obgleich gehaßt, wird nicht so verabscheut, wie der Feige. Gern Fauftschläge geben, geht hin; aber keine nehmen wollen!... (Fortseßung folgt.) Nord-Amerika.

Amerikanische Miscellen. *)

IV. Das neue Goldfieber in Kalifornien.

In diesen Tagen (Mitte Juli) war in New-York viel die Rede von den neuen Goldminen von Fraser River, indem der am 14. Juli

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