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England.

Berlin, Dienstag den 31. Auguft.

Edmund Spenser und seine lezten Lebenstage.*) Die kürzlich von Markham J. Thorpe herausgegebene, in diesen Blättern (Nr. 99) bereits erwähnte Sammlung von archivalischen Iftenstücken zur Geschichte Großbritanniens im sechzehnten Jahrhun ert) bringt unter vielem anderen Interessanten auch neue Auf chlüsse über das tragische Geschick Edmund Spenser's, des Dichters er „Fairy Queen", deffen legte Lebenstage bis jezt in ein höchst mysteriöses Dunkel gehüllt waren.

Edmund Spenser, der.poetische Vorgänger und Zeitgenoffe Shak-' peare's, war der gefeierte Hofdichter Elisabeth's, und sein Ruhm bei der Mitwelt überstrahlte weit den des großen Dramatikers, der erst bei der Nachwelt seine volle Anerkennung finden sollte. Aber fast noch weniger, als von dem Leben und der Person Shakspeare's, ift uns über die Lebensmomente Spenser's bekannt, obwohl dieser nicht von niederer Herkunft, kein bloßer Schauspieler und kleinstädtischer Bürger, sondern von vornehmer Familie und der Freund bekannter, hoher Personen war. Nur durch Ben Jonson's Unterhaltungen mit Drummond von Hawthornden wußte man bisher, daß ein schmerzliches, tragisches Geschick die lezten Tage Spenser's heiingesucht und daß er im tiefsten Elend gestorben fei. Bis etwa zwei Jahre vor feinem Tode hatte er im Sonnenschein des Hofes als ein Gentleman gelebt, der von seiner Königin ausgezeichnet, von Sydney und Raleigh mit ihrer Freundschaft beehrt und von Jedermann geachtet wurde. Er bezog als poeta laureatus einen Jahrgehalt, welchen die Königin durch eine neue Gnade vermehrte, indem sie ihm eine länd liche Besizung zu Kilcolman in Irland schenkte, deren Schönheiten sein Genius unsterblich gemacht hat. Er wurde demnächst zum Sheriff von Cork ernannt. Damit scheint aber auch sein Glück den Höhepunkt erreicht zu haben, denn es tritt nun in seinem Leben ein jäher Wechsel ein, und die Lage, in welcher er sich jezt befindet, kontrastirt mit der früheren in ebenso auffallender, als unerklärlicher Weise. Wir finden ihn nämlich in London vor Hunger sterbend. Sein Kind war ermordet, sein Haus niedergebrannt und sein Besigthum in Kilcolman von den irischen Rebellen zerstört worden. "

Das Auffallendste bei diesem Schicksalswechsel ist, daß mit dem Eintritte deffelben Spenser alle seine bisherigen zahlreichen Freunde und Bewunderer verloren zu haben scheint. Die königliche Pension, die er früher bezogen, wird ihm nicht mehr gezahlt. In einem elenden Hause der King Street, Westminster, siecht er etwa zwei Monat hin,bis er im fünfundfunfzigsten Jahre seines Alters, wie Ben Jonson zu Drummond sagte, im wahren Sinne des Wortes vor Hunger stirbt. Wie ist dieser plögliche Wechsel, dieses tragische Ende des Dichters, das fast noch erschütternder, als das seines italiänischen Sanges genossen Tasso war, zu erklären? In den jest gedruckten State-Papers wird uns ein Schlüssel zur Lösung dieses Räthsels geliefert: Edmund Spenser ist ein Opfer der Politik Elisabeth's gewesen und als eine Sühne für die Hinrichtung Maria Stuart's ge= fallen.

Es war zu Kilcolman, wo der Dichter seinem Freunde und Gönner, Sir Walter Raleigh, der ihn dort aufgesucht hatte, die ersten Gefänge der Fairy Queen" im Manuskripte vorlas. Raleigh war davon so entzückt, daß er den Dichter drängte, nach London zu kommen, um hier auch der Königin die Feen-Dichtung vorzutragen. In der That wurde Spenser bald darauf der Königin vorgestellt, und die ersten drei Bücher des großen allegorischen Gedichts erschienen nunmehr unter höchster Protection im Druck. Nun ist bisher nicht bekannt gewesen, was jezt aus den veröffentlichten State-Papers her vorgeht, daß fünf Jahre nach der Publication des zweiten Theiles „Fairy Queen" König Jakob von Schottland, der Sohn Maria Stuart's, sich über eine empfindliche Verlegung beklagte, die er durch

der

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1858.

diese Dichtung erfahren habe, welche, wie er meinte, unter schlecht verhüllten Allegorieen feine Mutter und ihn der Verhöhnung der Welt preisgegeben.

In der That war nicht blos König Jakob der Ansicht, daß unter den Namen,, Belphoebe“ und „Marcilla" Niemand anders, als die Königin Elisabeth gemeint sei, deren Tugenden unter diesen beiden Namen gefeiert waren, während dagegen die schottische Maria unter dem Namen,,Duessa", und zwar in einer nichts weniger als schmeichelhaften Gestalt, dargestellt war. Sowohl die Verfe, welche Elisabeth verherrlichten, als die, welche seine Mutter herabseßten, erregten den Mißmuth und den Zorn des Königs, der sich in keiner anderen Weise, als durch die Bestrafung des Dichters, wollte beschwichtigen lassen.

Wir wollen einige dieser Verse hier mittheilen, die allerdings in ziemlich verständlichen Allegorieen sich bewegen. Der nachstehende Vers feiert die Königin Elisabeth unter dem Namen Marcilla: Thus she did sit in soveraine maiestie, Holding a scepter in her royall hand, The sacred pledge of peace and clemencie, With which high God had blest her happie land, Maugre so many foes which did withstand; But at her feet her sword was likewise layde, Whose long rest rusted the bright steely brand, Yet whenas foes enforst, or friends sought ayde,

She could it sternely draw, that all the world dismayde.

Dagegen wird die schöne, gefangene Königin Maria unter folgender Maske präsentirt:

Then was there brought as prisoner to the barre,

A ladie of great countenance and place,
But that she it with foule abuse did marre;
Yet did appeare rare beautie in her face,
But blotted with condition vile and base,
That all her other honour did obscure,
And titles of nobilitie deface;
Yet in that wretched semblant she did sure

The peoples great compassion unto her allure.

Und die nachstehende Schilderung der Angeklagten mit ihren Liebhabern und ihren Verschwörungen mußte den Sohn, der bekanntlich selbst Verse machte und es nachmals liebte, sich den „König der Dichter" nennen zu lassen, um so mehr schmerzen, als darin viel Wahres ist:

First gan he tell how this that seem'd so faire
And royally arayd, Duessa hight,

That false Duessa, which had wrought great care
And mickle mischiefe unto many a knight,
By her beguiled and confounded quight:
But not for those she now in question came,
Thought also those mote question'd be aright,
But for vyld treasons and outrageous shame,
Which she against the dred Marcilla oft did frame.
For she whylome (as ye mote yet right well
Remember) had her counsels false conspyred
With faithlesse Blaudamour and Paridell,

(Both two her paramours, both by her byred,
And both with hope of shadowes vaine inspired)
And with them practiz'd how for to depryve
Marcilla of her crowne, by her aspyred
That she might it unto herselfe deryve,
And tryumph in their blood whom she to death did dryve.

König Jakob, der die Hinrichtung seiner Mutter verschmerzt hatte, vermochte doch den angeblichen Schimpf nicht zu verschmerzen, den der Dichter Edmund Spenser ihrem Namen angethan, und er ver langte demnach von dem englischen Gesandten in Edinburg, Robert Bowes, die unnachsichtigste Bestrafung des verbrecherischen Poeten.

In einer Note von Robert Bowes an Lord Burleigh, d. d. Edinburg, 12. November 1596, liest man wörtlich Folgendes:

....,,Der König hat sich sehr beleidigt gefunden durch Edmund Spenser, der im zweiten Theile der „Fairy Queen" und im nonusau

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Kapitel einige ehrenrührige Sachen wie der König vermeint gegen ihn selbst und seine verstorbene Mutter drucken ließ und herausgegeben hat. Dabei ist der König der Ansicht, daß dieses Buch mif Privilegium Ihrer Majestät Kommiffarien für Durchsicht und Gestattung alles Schriftlichen, um gedruckt zu werden, herausgekommen fei. Aber was dies betrifft, so habe ich - wie ich glaube - ihn genügend überzeugt, daß es mit solchem Privilegium nicht ausgegeben worden. Gleichwohl bleibt er dabei, daß Edmund Spenser wegen dieses Vergehens vor Gericht gezogen und bestraft werde."

Lord Burleigh's (oder wie in den State-Papers der Name stets lautet: Burgleigh's) Erwiederung auf diese Note ist leider nicht vorhanden und sollte, wo möglich, noch ermittelt werden. Man weiß jedoch aus anderen Dellen, daß der Lord den Dichter hart behandelt habe und von der Volksstimme zur Zeit beschuldigt ward, ihm seine Pension entzogen zu haben. Fest steht, daß Spenser bald nach dem Jahre 1596 zu Kilcolman von irischen Raubmördern überfallen wurde, was den Tod seiner Tochter und seine Flucht nach London zur Folge hatte. Die Vermuthung liegt nahe, daß Jakob hierbei seine Hand im Spiele gehabt, indem Tyrone's schuftige Irländer aus religiösem Fanatismus - da sie den König Jakob noch für einen römischen Katholiken hielten Alles thaten, was diesem angenehm sein konnte. Und daß Jakob aus seinem Hasse Spenser's kein Geheimniß machte, geht schon daraus hervor, daß er wie ein Schreiben Nicholson's an Sir Robert Cecil in den State Papers befagt — einen irischen Lohnschreiber, Namens Quin, gedungen hatte, um den großen Dichter durch Spott-Reime zu verfolgen.

-

,,Antwort, rasch, ober wir werden dich zum Sprechen bringen!" Beharrliches Schweigen.

,,Es ist ein rechter Stock - bemerkt der Jsprawnik dem Beamten - wir haben ihm schon über eine halbe Stunde weidlich zugefeßt, es ist aber kein Wort aus ihm zu bringen."

"

Können Ew. Gnaden ein solches Aergerniß zugeben?" rief Marfa aufstehend.

Der Beamte gab dem Isprawnik einen Wink, und dieser verließ verdrießlich das Zimmer.

,,Guten Tag, Andreï Larionitsch", sagte Marfa, indem sie sich vor dem Sektirer ehrerbietig bis zur Erde neigte, wir finden uns einander wieder, aber im Unglück". Und große Zähren rannen über ihre welken Wangen.

,,Guten Tag, Frau Marfa Kusmowna", entgegnete er ruhig und mit fester Stimme,,,es scheint, wir haben genug gelebt. Es ist Zeit, heimzugehen und auszuruhen im Schoße Christi, der sich zuerst für alle Menschen geopfert hat."

,,Verzeihe, Warka Michailowna", mit diesen Worten verneigte sich Marfa vor dem Mädchen,,,ich habe mich schwer gegen dich vergangen. Vater", so redete sie weiter den Beamten an,,,Alles, was fie dir gesagt hat, ist wahr, du kannst es niederschreiben."

Das junge Mädchen fiel Marfa schluchzend und unverständliche Worte murmelnd zu Füßen.

,,Führt den Kaufmann Trofimitsch herein", befahl der Beamte, der Eil zu haben schien, fertig zu werden.

Man brachte den Kaufmann herein, einen Greis von hohem Wuchs, mit langem Barte und strengen Zügen.

,,Aha! da bist du ja!" rief er seiner Tochter bitter lächelnd zu.

zu verrathen. Guten Tag, Kusmowna, unsere legte Stunde hat ge schlagen. Wenn Ew. Gnaden mich etwas zu fragen hat, ich stehe zu Befehl; aber meinen Sie nicht, mir durch Martern etwas abzupressen; es wäre verlorene Mühe.“

Elisabeth hatte zu jener Zeit mancherlei Ursache, sich mit Jakob in gutem Vernehmen zu erhalten, denn spanische Truppen drohten mit einer Landung in England, während Graf Esser und Sir Walter,,Es scheint, daß du seit unserer Trennung gelernt hast, die Deinigen Raleigh an den Küsten von Cadir und Lissabon einen Retorsionskrieg führten; es ist daher nicht unwahrscheinlich, daß sie, dem Schotten zu Liebe, dem Dichter ihren Schuß und alle weitere Unterstüßung entzogen habe. Ihr poetischer, königlicher Vetter mag dies allerdings als freundschaftliches Zugeständniß betrachtet und angenommen haben, und so unterliegt es fast keinem Zweifel mehr, daß Edmund Spenser als Opfer der Rache König Jakob's I. gefallen fei.

Rußland.

Die Altgläubigen der ruffischen Kirche.
(Fortseßung.)

Die bald darauf wieder eintretende, aufgeregt aussehende Marfa bittet um ihre Entlassung, um bei der inzwischen in ihrer Wohnung durch den Jsprawnik angestellten Untersuchung gegenwärtig zu sein. Mark erklärt ihr aber im Amtston, das gehe nicht, weil sie jezt ein förmliches Verhör zu bestehen haben werde, da sie durch das öffentliche Gerücht angeklagt sei, die Tochter Michaïl's eingesperrt und deren Neugeborenes erdroffelt zu haben.

Von Stund an ändert die alte Dissidentin ihre Haltung und nimmt die stoische Festigkeit an, die ihre Glaubensgenoffen den richterlichen Drohungen entgegenseßen. Er, ohne durch das hartnäckige Leugnen aus der Fassung zu kommen, winkt das erwähnte Frauenzimmer herbei: es ist die Tochter des Kaufmanns Trofimitsch. Marfa erbleicht, bleibt aber dabei, sie nicht zu kennen. Das Mädchen, außer sich über diesen Starrsinn, erzählt umständlich ihre Ankunft bei der Gemeinde, die Dualen, die sie zu dulden hatte, durch die man sie zwingen wollte, den Schleier zu nehmen. Endlich eingekleidet, muß fie bis nach Sibirien wandern, um Almosen für die Gemeinde zu sammeln. Was aus ihrem Kinde geworden, weiß sie nicht. - Die Alte, darüber befragt, will schlechterdings nichts von alledem wiffen. Er liest ihr einen sehr belastenden Brief mit ihrer Unterschrift an den Kaufmann vor; sie will sich dazu nicht bekennen.

In diesem Augenblick läßt sich ein Lärm von der Straße herauf vernehmen, bald tritt der Jsprawnik mit freudestrahlendem Antlig ein: ,,Ew. Gnaden", jauchzt er, es ist uns über Erwarten geglückt: wir haben mit Einem Zug den Erzbischof und den Kaufmann im Neße; sie werden im Augenblick herbeigeführt werden."

Marfa finkt bei diesem Bericht erbleichend auf den Stuhl, und, auf die Kniee gestüßt, vorgebeugt, stiert sie in angstvoller Erwartung der Gefangenen auf die Thür.

Es dauert nicht lange, und der von den Altgläubigen sogenannte Erzbischof wird hereingeführt. Es ist ein Mann in den Vierzigen, kleiner Statur, voller Würde in seinen Zügen. Nichts in seinem Anzug, dem eines Handlungsdieners, verräth den Rang, den er anspricht. ,,Hier, Ew. Gnaden", sagt der Jsprawnik lachend,,,habe ich die Ehre, Ihnen den Erzbischof vorzustellen. Frisch in rohem on zu Ton dem Gefangenen gewendet - erzähle uns, wie du zu deiner Würde gekommen!!!

Der Gefangene sieht ihn starr an und that den Mund nicht auf.

,,Denk an deine Tochter", sagte Marfa; gewähr ihr deine väterliche Verzeihung. Du weißt wohl, daß, wenn sie gesprochen, es nicht mit freiem Willen geschah.“

,,Vater!" schrie das Mädchen mit thränenerstickter Stimme, indem sie ihm die Füße füßte.

Einige Augenblicke stand der Kaufmann nachdenkend, warf dann die Augen auf sein Kind, dessen Verzweiflung ihn anfangs zu rühren schien; allein bald bekam sein Gesicht den Ausdruck gewohnter Strenge wieder.

,,Nein, Tochter", sagte er seufzend mit einer Handbewegung; davon ist nicht mehr Zeit zu reden. Lebe mit Gott und fümmere dich nicht mehr um uns, denn wir zählen nicht mehr in dieser Welt. Nun, Ew. Gnaden, wollen Sie uns verhören, oder uns sofort unter die Obhut der Regierung bringen?"

Auf Befehl des Beamten wurden die Verhafteten in das Gefängniß abgeführt. . .

Um von der gegenwärtigen Lage der Altgläubigen in Rußland einen richtigen Begriff zu bekommen, ist es nicht genug, die Meinun gen zu befragen, welche in Rußland die Schriftstellerwelt hegt. Die Geistlichkeit und die mehr oder weniger erklärten Anhänger des Nikolaismus sit venia verbo - haben die gründlichste Abneigung gegen die Altgläubigen; ginge es nach ihnen, so würde man sie nach wie vor verfolgen; man habe sie zu sehr geschout. Die Männer an der Spiße der sogenannten Weftpartei, sogar der größte Theil der bloßen Reformfreunde, fühlen ebenso wenig, wie die AltRuffen, nur aus anderen Gründen, Sympathieen für die Schismatiker; sie schlagen allgemein das religiöse Moment sehr gering an. Inde machen es ihnen die angenommenen Grundsäße der Duldung zur Pflicht, sich für die Dissidenten zu interessiren und sie als die Opfer blutiger, durch nichts zu rechtfertigender Verfolgungen darzustellen. Welche von den beiden einander stracks widersprechenden Parteien hat Recht?

Daß die russische Regierung unter Kaiser Nikolaus gegen die Altgläubigen mit unbeugsamer Strenge verfahren, ist unleugbare Thatsache. Nikolaus war durch und durch, auf kirchlichem wie auf weltlichem Gebiete, Autokrat; in seinen Träumen der UniversalHerrschaft spielte er mit dem Gedanken, der ganzen Bevölkerung seis ner Staaten den orthodoren Glauben aufzubringen. Kaum hatte er die dünne Saat, welche die politische Freiheit im Reiche getrieben, gewaltsam zertreten, so wandte er sich gegen die unabhängige Partei in Religionssachen. Sollte er mit dieser schonender verfahren? Das wäre inkonsequent gewesen, und Inkonsequenz war nicht sein Fehler. Allewelt weiß, daß er die Starrheit seines politischen Systems bis zur Lächerlichkeit getrieben hat. Wie alle Despoten, meinte er, die Verfolgung müsse endlich gegen religiöse Ueberzeugungen, wie gegen politische Richtungen, Recht behalten. In dieser unerschütterlichen.

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Ansicht feßte er eine Maßregel in Kraft, die, feiner Meinung nach, In wenigen Jahren die altgläubige Sekte mit der Wurzel aus reißen mußte. - Zuvörderft ließ er eine allgemeine Liste der Blieder dieser Sekte aufnehmen, und diesen wurde nun unter trenger Strafe anbefohlen, von jenem Zeitpunkt ab ihre Kinder bei ben orthodoren Priestern ihres Kirchspiels taufen zu laffen. Das Er zebniß dieser Maßregel mußte feinem Stolz absonderlich schmeicheln: us allen ihm vorgelegten periodischen Listen ersah er, daß die schisma ische Bevölkerung mit reißender Schnelle abnahm. So ging es mehrere Jahre, zu großer Zufriedenheit des Kaisers; aber eine bittere. Täuschung wartete seiner. Der Minister des Innern, Graf Perowski, pielt es endlich für seine Schuldigkeit, ihm den wahren Sachverhalt aufzudecken, der durch eine an Ort und Stelle gesandte Kommission Bestätigt wurde; die Kinder wurden freilich und wer Rußland Eennt, weiß, durch welche Mittel- als orthodor getauft eingeschrieben, vie der Kaiser befohlen; nichtsdestoweniger erzogen sie die Aeltern im Schisma. So wiesen z. B. im Gubernium Kostroma die amtlichen Listen 1.3. tur 19,000 Altgläubige nach, während die Untersuchung 126,000 exgab. Diese Entdeckung, die man zur Zeit sorgfältig geheim hielt, hätte dem Kaiser die Augen öffnen können; es geschah nicht. Er meinte vielmehr, das Verfehlte durch gesteigerte Härte gut zu machen: Verweisungen nach Sibirien, Einsperrung in den Klöstern, allerlei physische und moralische Foltern waren bis zu seinem Tode an der Tagesordnung. Zu den offiziellen Strafen kamen die unausgeseßten Erpressungen, die sich die Militair- und Civilbeamten auf eigene Hand erlaubten. Um die Stellen, welche die damit bekleideten Beamten zu den Altgläubigen, den in der Regel wohlhabendsten der Be völkerung, in irgend eine Beziehung brachten, wurde daher auch aufs eifrigste geworben. Selbst die Geistlichkeit machte sich kein Gewissen, die Sektirer auszupreffen, und an Gelegenheit fehlte es ihr nicht. Noch heute zahlen die Altgläubigen, die in den Hauptstädten, nament lich in Moskau, dem Sammelplag aller Sekten der russischen Kirche, wohnen, sehr beträchtliche Summen. Die meisten nämlich sind KaufLeute und müssen sich in eine der drei Gilden einschreiben lassen; die Aufnahme ist aber von einem Beglaubigungsschein bedingt, daß der Aspirant allen religiösen Obliegenheiten genügt. Das giebt nun eine fette Pfründe für die Pfarren: gegen gute Bezahlung stellen sie, folche Scheine aus. Die von Sektirern bevölkerten Landpfarren werben sehr begierig gesucht, nicht gerade aus Eifer, die verirrten Schafe in den alleinseligmachenden Stall zurückzuführen, sondern weil sie reiche Sporteln abwerfen; denn die Dissidenten zahlen den Dispens von den kirchlichen Pflichten mit schwerem Gelde. Diese Art Mißbrauch ift für keinen ein Geheimniß: die Dissidenten sind eine Goldgrube für Pfaffen und Beamte, sagen die russischen Bauern.

Das ganze Verfahren des Kaisers Nikolaus hat die gerade entgegengeseßte Wirkung erzeugt; bekehrt hat er die Sektirer nicht, vorfichtiger hat er sie gemacht. Man hat ihnen Kapellen verboten, sie halten abwechselnd bei den Mitgliedern Gottesdienst, zu dem sie das nöhige Kirchengeräth mitbringen. An der Thüre stehen mit Knütteln bewaffnete Männer, auf deren Warnungszeichen Alles verschwindet. In ihren Wohnungen sind geheime Treppen, unterirdische Winkel, verborgene Schränke, um Personen und Bücher vor polizeilichen Nachsuchungen zu verstecken. Sie befolden eine Gegenpolizei, die ihnen von jedem Schritt der Behörden Nachricht giebt. Dieses geheimnißvolle Leben trägt nicht wenig bei, unter den Altgläubigen eine dumpfe Gährung zu pflegen. Die Mitglieder einer im Jahre 1852 vom damaligen Minister des Innern, Bibikov, angeordneten Untersuchungskommission gegen die Sektirer, berichteten manche Thatsachen, welche von dieser wachsenden Ueberspannung der Gemüther Zeugniß geben. Am Eingange eines Dorfes im Gubernium Twer wird ein Beamter von einer Gruppe Bauern mit Bruder angeredet. Auf die Erinnerung eines Polzeifoldaten, wie sie sich unterstehen könnten, einen Abgeordneten der Regierung so anzureden, antworteten sie: „Ihr Leute nennt den Einen Zar, den Anderen General, wieder Einen Excellenz - wir ten nen nur Brüder."— Die Frauen besonders tragen ihren Glauben mit vieler Keckheit zur Schau:,,Wann wird man kommen, uns zu martern? Wir sind bereit", sagte ein Weib zu einem Polizei-Auffeher. Im Guber nium Jaroslav erfährt ein Pfarrer - er erzählt diese Thatsache als Beweis, wie selbst die Polizei von den Sektirern beeinflußt wird daß die Altgläubigen seines Kirchspiels sich anschicken, einen der Ihrigen, der ohne Sakramente gestorben, des Nachts zu beerdigen. Er begiebt sich, von einem Sotski®) begleitet, auf den Friedhof. Bald erscheint der Zug; der Sotski fällt dem Pferde vor dem Leichenwagen in die Zügel.,,Was, du unterstehst dich, uns aufzuhalten?" schreit ihn der Führer keck an, ich werde dich beim Stan) verklagen!" — Der arme Sotski läßt erschrocken ab, der Zug fest ungehindert seinen Weg fort, und überhäuft obendrein den Priester und seinen Beistand mit einer Fluth von Schmähungen. Diese wiffen nun, daß die AltEin Unterbeamter der Dorfpolizei.

**) Dorfpolizeiamt.

gläubigen mit der Polizei auf dem besten Fuße stehen und nöthigen Falles auf deren Hülfe rechnen können.

Vor einigen Jahren erfuhr ein Polizeibeamter auf einer Rundreise im Gubernium Nijni, daß ein schismatischer Greis in einem benachbarten Walde als Einsiedler lebe. Der Beamte trat in die Hütte, deren einziges Geräth in einem Sarge bestand, und bedeutete den Bewohner, die Einsiedelei zu verlassen und in die Welt zurückzukehren. Der Greis bittet ihn flehentlich, ihn hier, wo er feit einem halben Jahrhundert wohne, sein Leben beschließen zu lassen; er habe gegen die Welt, die dem Antichrist preisgegeben, einen unüberwindlichen Abscheu. Der Beamte ist unbeugfam. Auf des Greises Bitten, ihn wenigstens einige Minuten allein zu lassen, um Vorbereitungett zur Abreise zu treffen, entfernt sich der Beamte; als er aber nach einer halben Stunde zurückkommt, brennt die Hütte lichterloh, und der Greis singt fromme Lieder mitten in den Flammen. Umsonst sind die Versuche, ihn zu retten; er stirbt den Märtyrerlod. Die Kunde diefes freiwilligen Auto-da-fé tommt in der Gegend herum; die Einwohner verehren den Einsiedler als Heiligen und viele gehen zu den Altgläubigen über.

Nicht Allen freilich gelüftet es nach der Märtyrerkrone. Ein großer Theil, obgleich von der Heiligkeit ihrer Sache fest überzeugt, verleugnet sie zum Schein, besucht die orthodoren Kirchen, nimmt sogar deren Sakramente, damit man sie in Ruhe laffe. Diese offi zielle Frömmigkeit täuscht aber keinen Menschen. Lehrreich sind die Bemerkungen von Seite der obengenannten Untersuchungskommission zu den aufgenommenen jährlichen Uebersichtslisten in jeder Parochie; sie sehen die Folgen des Kirchenzwanges in das hellste Licht: Sterbende, die von einem orthodoren Priester, das Abendmahl empfangen, spuckten förmlich das geweihte Brod aus; junge Bauern eilen von dem Gottestisch in die Schenke und machen sich über die vollbrachte Feier luftig. Das Einschüchterungs-System konnte kein anderes Er gebniß haben und hatte kein anderes, als in den Reihen der Altgläubigen eine wilde Gluth zu unterhalten und die Verspottung der Sakramente zur Pflicht zu machen.

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Die Regierung, an den bisher unersprießlichen Maßnahmen verzweifelnd, suchte einen Mittelweg einzuschlagen. Man wollte die Starowjery zwingen, in ihre Tempel und Klöfter die von orthodoren Bischöfen geweihten Priester aufzunehmen, denen aber gestattet ist, nach altgläubigem Ritus Messe zu lesen. Dieser Zwitterkultus, Jedinowjerie, sollte Rußland von den Altgläubigen reinigen. Die Berichte im Jahre 1852 an das Ministerium des Innern stimmen aber darin überein, daß auch dieser Ausweg zu nichts geführt hat. Die Bastardkirchen werden nur von Solchen besucht, die es nicht umgehen können; die Altgläubigen in den entlegenen Dörfern seßen keinen Fuß hinein, suchen sie mitunter zu zerstören. Die Bauern in einer Gegend wurden gezwungen, auf ihre Kosten eine Kirche für den neuen Kultus zu bquen. Ein Priester weihete die vollendete in Gegenwart aller Bezirks-Behörden und einer Menge von Gläubigen, die amtlich eingeladen waren. Nach vollbrachter Feier waren die Beam. ten bei dem Priester zu einem Festmahle versammelt, als sie plöglich durch den Ruf erschreckt wurden, der neue Tempel stehe in Flammen. Er brannte wirklich bis auf die Sohle nieder und wurde nicht wieder aufgebaut.

Daß die Maßregeln der Regierung so vollständig das Ziel verfehlen, das ist nicht das Tadelnswerthe; höchftens ist die Verblendung zu beklagen, womit sie einen Feind verfolgt, der durch solche Mittel heutzutage schwer oder unmöglich zu unterwerfen ist. Nicht zu verzeihen aber ist ihr der Schaden, den sie durch dieses EinschüchterungsSystem der öffentlichen Moral zugefügt hat: Verstellung und Heuchelei find bei den Altgläubigen zur Gewohnheit geworden. Die russischen Beamten, die hartnäckig das alte Regiment vertheidigen, stellen in Abrede, daß Nikolaus die Absicht gehabt, einen moralischen Zwang auf das Gewissen der Altgläubigen zu üben, und wenn auf seine Befehle ihre Häupter verfolgt worden, so sei das im Intereffe der Diffidenten felbft geschehen, da diese gewiffenlosen Apostel um Geld die Nechts: gläubigen verführt haben. Mit dieser Vertheidigung kann es wohl nicht ernst gemeint sein. Eher ist anzunehmen, daß der Kaiser, bei seinem Religionseifer in den Altgläubigen starrfinnig verblendete Menschen gesehen habe; wie noch zur Stunde viele in Rußland meis nen, daß die Starowjery nur durch unwesentlich rituelle Abweichungen und aus dummer Ehrfurcht gegen die Gebräuche und Bücher vor Nikon's Reformen von der Staatskirche getrennt sind. Dem ist aber nicht so. (Schluß folgt.)

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,,Wir besuchten", sagt Derfted,,,die berühmte Kölner Domkirche. Ihr Inneres macht besonders einen großen Eindruck. Die hohen Pfeiler dieser Kirche, von denen jeder gleichsam aus mannigfachen Stämmen zusammengesezt ist, die hohen dadurch gebildeten Wölbungen, die Harmonie der Theile, die gemalten Fenster, die für den Charakter des Baues so passende Beleuchtung, dies Alles und viel mehr ist so oft beschrieben, daß ich nicht versüchen will, es zu wiederholen. Ich fühle mich ganz im Einverständniß mit der allgemeinen Stimme, daß der Eindruck groß und feierlich ist. Wir bestiegen auch die Galerie, wo man herrliche, weite Aussichten genießt und Gelegenheit findet, die ins Einzelne gehende Kunst zu sehen, mit welcher die Kirche gebaut ist. Man kann den Geist nur bewundern, welcher den großen Gedanken zu diesem Gebäude gefaßt hat. Betrachten wir dagegen die Ausführung des Baues als ein menschliches Unternehmen, so darf man wohl sagen, daß es zu groß ist.

Die ganze Kirche hat jezt über 600 Jahre im Bau gestanden, und doch ist nicht die Hälfte davon vollendet. Es ist der Chor, der einigermaßen fertig war. Den untersten Theil der zwei beabsichtigten hohen Thürme findet man errichtet und das Unterste vom Schiff. Sieht man diesen unvollendeten Bau in etwas großem Abstande, 3. B. ein paar tausend Schritt, so nimmt er sich wie ein Fachwerk schlecht aus, was allerdings nicht der Fall sein würde, wenn er fertig wäre; denn betrachtet man die fertigen Theile von außen in einer solchen Entfernung, daß das Unvollendete nicht in die Augen fällt, so

derselben Art. Das Wort Spißfindigkeit ist natürlich nur ein un genügender Ausdruck für die Sache, aber er ist vielleicht unter allen vorhandenen doch der brauchbarste. Dieselbe ist offenbar nicht die Folge des reinen Denkens, sondern man könnte eher sagen, daß sie entsteht, wenn die Einbildungskraft den Scharffinn in ihre Dienste nimmt.

Die gothische Baukunst ist mir ein lebendiges Bild diefer Spitfindigkeit, welche uns allerdings in ihren besten Werken etwas geben kann, das zu den trefflichsten Erzeugnissen des Menschengeistes gehört. Ich laffe daher gern die mannigfachen Werke des Mittelalters ihre lebhaften Eindrücke auf mich machen, aber ich sage zu meinen Mitmenschen: Laßt Euch nicht durch die Bewunderung, die sie erregen, bestechen und zu dem Wunsche verleiten, sie wieder aufleben zu sehen. Die Werke des Mittelalters sind Werke einer anderen Naturperiode. Diejenige, in welcher wir uns jest befinden, ist die denkende Rückkehr zur Natur, verbunden mit einer gewaltigen Anwendung der Natur. Unsere Zeit hat ihre Kunst noch nicht gefunden, ausgenommen in wenigen einzelnen Theilen, als vortrefflichen und zugleich schönen Brücken, vorzüglich gebauten Maschinen u. f. w. Sie habe ihre Zeit, sich auszubilden, doch sie wird es nach den Gefeßen der Welt-Entwickelung."

Mannigfaltiges.

Pater Ventura's Fastenpredigten. In einer der neuesten Nummern der Revue de l'instruction publique ist unter dem Titel: Le pouvoir politique chrétien", eine Sammlung von Predigten angezeigt, die der Pater Ventura de Raulica während der Fasten des Jahres 1857 in der kaiserlichen Kapelle der Tuilerieen vor dem Kaiser und der Kaiserin der Franzosen gehalten. Von zwei Predigten ist eine Inhaltsübersicht mitgetheilt. Man erkennt daraus, wohin in Frankreich eine gewiffe Partei steuert. Entschieden will man das Dunkel des Mittelalters wieder herbeiführen und die geistigen

ist der Eindruck auch schön. Man hat bekanntlich in den lehteren Errungenschaften vergangener Jährhunderte vernichten, um die Zeit

Jahren den Bau wieder fortgesezt, und es scheint, als habe man den Bauplan mit großer Einsicht aufgefaßt. Es ist auch beachtenswerth, daß die neuen Steinmeß-Arbeiten, die neuen Glasmalereien zeigen, daß wir vollkommen die Arbeit ausführen können, theils ebenso gut, theils besser als die alte. Aber man rechnet darauf, daß das große Werk in dreißig Jahren noch nicht fertig sein werde, wenn man eine kräftige Unterstüßung vorausfeßt, größer als die, welche sie in den vergangenen Zeiten meist erfahren hat. Indem man das Große wie auch das Schöne in diesen Unternehmungen bewundert, sollte man jedoch nicht, wie es zu geschehen pflegt, jener Zeit, worin fie begonnen wurden, ein unbedingtes Lob spenden. Man machte sich wirklich". des Fehlers schuldig, Unternehmungen zu beginnen, welche die Kräfte des Staates oder des Volkes gänzlich überstiegen, d. h. unverständig waren.

Der Bau des Chors allein erforderte über 70 Jahre. Die Kirche steht noch, wie gesagt, nach 600 Jahren, unvollendet, und wenn sie einmal vollendet würde, so wird der Grund dazu bei weitem nicht so sehr in dem religiösen Eifer liegen, aus welchem sie entsprang, als vielmehr in der Kunstliebe einer neueren Zeit, verbunden mit einer vorübergehenden Umkehr zu dem Geschmacke jener Zeiten. Dieser Hang, etwas so Großes zu beginnen, daß es die Kräfte überstieg, ist nur einer niederen Bildungsstufe eigen und findet sich gerade sehr häufig wiederholt in den kirchlichen Gebäuden des Mittelalters. Straßburgs große Kirche, eine der vollendetsten in ihrer Art, hat nur einen der zwer beabsichtigten Thürme. Die Notre-Dame-Kirche in Paris hat nur die unterste Hälfte der Thürme; die Spigen fehlen. Dieser Art findet man viele gothische Kirchen, welche deshalb mehr oder weniger gleichgültig lassen. Die St. Peterskirche in Rom wurde zwar vollendet, aber durch Mittel, welche die Macht der römischen Kirche brachen; nämlich durch den lächerlichen Ablaßkram. Uebrigens war das Unternehmen mehr die Frucht eines pracht- und kunstlieben den, als eines religiösen Geistes.

Jezt, in unseren Zeiten, nach den Grundfäßen des Mittelalters bauen wollen, ist unverständig. Es herrscht in allen ausgearbeiteten Werken des Mittelalters eine gewisse Spitfindigkeit, die dem erwachen den Verstande angehörte. In seiner Philosophie herrschte eine Spig. findigkeit, welche oft bewundernswerth ist, welche aber nicht dieselben Werke hervorgebracht haben würde, wenn der Gedanke sich gehörig. auf die Erfahrung gestüßt hätte. Das Ritterwesen des Mittelalters und seine cours d'amour waren wahrhafte Muster einer spißfindigen Behandlung. Das Hofceremoniell ist nicht minder ein Erzeugniß

wieder herzustellen, in welcher der Priester als leibhaftiger Gott auf Erden seine Macht über die verkommene und geknechtete Menschheit übte. Die Quellen wahrer Bildung und echter Humanität, wie fie aus den Schriften der alten Klassiker fließen, sollen verstopft werden. „Der heidnische Unterricht, den man den christlichen Kindern beibringt (heißt es in der Nede: Ueber die Nothwendigkeit einer Reform des öffentlichen Unterrichts im Interesse der Religion“), hát aus Schülern Jesu Christi Knechte des Satans gemacht!" "Es werden Zeugen, heidnische wie christliche, von überall her für die Verderblichkeit der Klassiker zitirt. Auch Napoleon 1. figurirt unter ihuen. Bis zum sechzehnten Jahrhundert war das Heidenthum von der Schule profkribirt; von der Zeit an, obgleich sich gewichtige Stimmen im Katholizismus wie im Protestantismus gegen die heidnische Bildung erhoben haben, wurde sie in den Schulen herrschend, und was war das Resultat? Die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts und die Revolution, die nichts Anderes ist, als die Anwendung der Schul-Ideen in ihrer Gesammtheit auf die Gesellschaft. Dasselbe Schreckbild, deffen sich die Männer des Rückschrittes überall bedienen, die Revolution! Aber die Gräuel der Inquisition, der Parifer Bluthochzeit, der Verfolgungs-kriege in den Cevennen, der Chouans, die an Blutdurst den wüthendsten Revolutionsmännern nichts nachgaben, werden wohlweislich ignorirt. Aus der Blutsaat der Revolution ist doch für Frankreich und das übrige Europa auch manche gesegnete Frucht erwachsen, indeß jene Opfer nur für den Höchmuth und die Herrschsucht einiger Priester gefallen sind. Achtzigtausend Heiden", klagt unser Prediger, speien die Kollegien jedes Jahr aus: sie stürzen sich auf die Aemter, fie mischen sich in die Massen des Volkes, die sie verderben, indem sie ste zu Heiden machen!". Dem Uebel wird nicht abgeholfen, wenn man auch den Unterricht in die Hände der Geistlichkeit giebt. Die Methöde muß verändert, das Heidnische mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden. Und wie das geschehen soll, davon handelt die zweite Predigt:,, Ueber die Nothwendigkeit einer Reform des öffentlichen Unterrichtes im Intereffe der Literatur und Politik." Das Ideal, das dem Redner vorschwebt, ist das Schulwesen, wie es zur Zeit Karl's des Großen war, und dies schlägt er dem jegigen Kaiser zur Nachahmung vor. Arme Franzosen!

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Der erste Band der in diesen Blättern vorlängst angekündigten neuen Ausgabe von Kepler's Werken in acht Bänden ist nunmehr erschienen. Das Unternehmen bedarf nicht erst einer besonderen Empfehlung. Der Herausgeber hat sich, wie er in der Vorrede dankbar anerkennt, der Munifizenz des Königs von Bayern, Maximilian II., und der Liberalität des russischen Ministers des öffentlichen Unterrichts, Herr Norov, sowie auch der Aufmunterung der berühmtesten Astronomen Deutschlands und der Akademieen zu Berlin und Wien zu erfreuen gehabt. Vor Allen haben ihm der Direktor der Sternwarte zu Pulkowa, F. G. v. Strüve, und deffen Sohn, Otto v. Struve, erster Aftronom der Sternwarte in Pulkowa, mit Rath und That beigestanden. Ihnen verdankt er die Kenntniß und Benußung der Manuskripte Kepler's, die als einen besonders kostbaren Schaß die Bibliothek zu Pulkowa befigt. Die Sammlung soll alle Werke, die Kepler herausgegeben hat, mit Ausnahme solcher, die nur Tabellen enthalten, umfaffen. Zu diesen kommen noch einige kleinere, bisher ungedruckte Schriften und die Briefe. Von den Briefen sind einige der Hanschischen Sammlung entnommen, andere haben die Bibliotheken zu Stuttgart, München und Wien, noch andere, sowie die eben erwähnten kleineren, noch ungedruckten Schriften die Bibliothek zu Pulkowa geliefert. Die Schrif ten sollen treu nach den Ausgaben des Verfassers abgedruckt werden. Die Reihenfolge soll die chronologische sein, mit Ausnahme einiger Schriften, die der Inhaltsähnlichkeit wegen zu einander gehören. Den einzelnen Schriften gehen Einleitungen voraus, die über den Inhalt, die Veranlassung und den Zweck derselben handeln; zugleich find in fie die Briefe Kepler's und seiner Freunde, die sich auf die betreffen den Schriften beziehen, mit eingeflochten. Endlich folgen den einzelnen Schriften die Bemerkungen des Herausgebers, die, wie die Einleitungen, wegen der zu hoffenden allgemeinen Verbreitung des Werkes, in lateinischer Sprache abgefaßt sind. Die Bemerkungen find theils fachliche, historische und literarische, theils erklären fie die mathematischen und astronomischen Bezeichnungen und Kunstausdrücke, die von den jezt gebräuchlichen abweichen. Der Herausgeber bespricht zulegt in der Vorrede die Frage, ob der Name des großen Aftronomen Kepler oder Keppler zu schreiben sei. Er entscheidet sich gegen die lettere Schreibart, besonders deshalb, weil Kepler selbst in den meisten seiner Briefe fich der ersteren bedient hat.

Der vorliegende erste Band enthält zuerst den „Prodromus dissertationum cosmographicarum continens Mysterium cosmographicum de admirabili proportione orbium coelestium". Tubing. 1596. Hierauf folgt die bisher ungedruckte „Apologia Tychonis contra Ursum", und endlich die „Calendaria et opuscula Astrologica". Kepler's Amt brachte die Pflicht mit, jährlich den Kalender zu redigiren und dazu ein Prognosticum abzufaffen, das von dem zu erwartenden Einflusse der Gestirne auf die physischen und menschlichen Verhältnisse handelte. Solcher Kalender mit ihren Prognosticis find nur vier erhalten, von 1598, 1599, 1605 und 1619, und außerdem das Prognofticum zu dem Kalender von 1602. Der große Aftronom gerieth bei diesem amtlichen Geschäft, wie bei den häufigen Forderungen, die Privatleute an ihn machten, ihnen die Nativität zu ftellen, in einen Konflikt mit seiner eigenen Ueberzeugung. Er gefteht, daß er den traffen Aberglauben soviel als möglich zu entfernen gestrebt habe, doch Vieles, was die Volksmeinung und die Neigung der Großen und des Kaisers forderte, habe er beibehalten müssen. Vor feinem eigenen Gewiffen suchte er den Glauben an die Einwirkung der Gestirne auf die irdischen Verhältnisse und die menschlichen Geschicke durch eine naturphilosophische Theorie, besonders in den Schriften: „Bericht vom neuen Stern 1604" und in dem „,Tertius Interveniens", zu rechtfertigen; doch bekennt er selbst an mehreren Stellen, daß ihn nur seine kärgliche Besoldung gezwungen habe, *) Frankfurt a. M. and Erlangen, Heyder & Zimmer. 1858. **) Ioannis Kepleri Astronomi opera omnia edidit Ch. Frisch. Vol. I.

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1858.

in solchen Arbeiten eine Hülfsquelle zur Verbesserung seiner häuslichen Umstände zu suchen. So schreibt er in einem Briefe an seinen Lehrer und Freund Mästlin, dem er einen silbernen Pokal, welchen er von einem gewissen Herbstein wegen einer Nativitätsstellung erhalten, zum Geschenk macht:,,Solche Vögel kommen selten in das Neg. Gleichwohl, wie Gott jedem Wesen die Werkzeuge verliehen hat, die ihnen zu ihrer Lebenserhaltung dienen: warum will man es dem Aftronomen mißgönnen, wenn Gott ihm in derselben Absicht die Aftrologie beigegeben hat?"

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In der VII. Thesis der Schrift,,Tertius Interveniens" heißt es:,,Es ist wohl diese Astrologia ein närrisches Töchterlein, aber lieber Gott, wo wolt ihr Mutter, die hochvernünfftige Aftronomia, bleiben, wann sie diese ihre närrische Tochter nit hette? Ist doch die Welt noch viel närrischer, und so närrisch, daß deroselben zu ihrer selbst Frommen diese alte verständige Mutter, die Astronomia, durch der Tochter Narrentepung, weil sie zumal auch einen Spiegel hat, nur eingeschwagt und eingelogen werden muß. Und seynd sonsten der Mathematicorum salaria so selgsam und so gering, daß die Mutter gewißlich Hunger leyden müßte, wann die Tochter nichts erwürbe." — Ueber das Prognofticum des Jahres 1599 schreibt Kepler an Mäftlin:,,Mein Prognosticum ist die Ursache meines diesmaligen Schreibens. Verzeihe mir, befter Lehrer. Es ist Vieles darin, was ich mit allem Fleiß entschuldigen muß, wenn es nicht meinem Rufe bei Dir schaden soll. Die Hauptsache ist die: ich schreibe dergleichen nicht für das gemeine Volk, noch für die Gelehrten, sondern für die Adligen und Prälaten, die sich einige Kenntniß von dem anmaßen, was sie nicht verstehen. Ueber 400-600 Exemplare werden nicht abgezogen; keines überschreitet die Gränzen dieser Provinzen. Ich habe daher für mich von dem gemischten Publikum und den Gelehrten Deutschlands nicht zu fürchten. Ich strebe immer, die Wahrheit, deren stets eifriger, wenn auch nicht immer geschickter Vertheidiger ich bin, zu meinem Vortheile zu lenken. In allen Prognosticis sehe ich darauf, daß ich meinen oben genannten Lesern durch die Ansichten, die mir wahr zu sein scheinen, einen Geschmack an der Schönheit und Majestät der Natur beibringe. Vielleicht fühlen sie sich dadurch angeregt, mir einen größeren Gehalt zu meinem Lebensunterhalte auszuseßen; was freilich bis jezt noch nicht geschehen ist; ja nicht einmal meine Auslagen sind mir erstattet worden."

Von den Nativitäten, die Kepler gestellt hat, sind uns noch zwei erhalten. Die eine ist die eines Arztes, der über die Krankheit, an der er litt, und den Ausgang eines Prozesses, in den er verwickelt war, Auskunft verlangte. Kepler giebt ihm in einem lateinisch ge= schriebenen Briefe mit vielem Humor Bescheid. Der Anfang des Briefes lautet ungefähr so: „Wiewohl ich Dich nicht persönlich kenne, fo ist mir doch ein Abriß Deines Briefes von Deinem Freunde Friedrich zugekommen, der mich von Deinem Anliegen in Kenntniß, geseßt und zugleich ersucht hat, an Dich zu schreiben. Ich fordere aber von Dir, daß Du mir meine Freimüthigkeit ebensowenig übelnehmest, wie Deine Kranken sie Dir übelnehmen dürfen. Dein Brief ist voll Aberglauben. Was den Gesundheitszustand betrifft, so verhält sich die Sache so: Die Sterne sind freilich die Ursache, daß die Menschen zuweilen von vielen Beschwerden heimgesucht werden; wiewohl sie an und für sich ebensowenig allein der Grund der Krankheit find, als fie allein die Heilung zu bewirken im Stande find. Mache von Deiner Kunft Gebrauch, befleißige Dich einer verständigen Lebensweise, gieb dich der Gemüthsruhe hin, vor Allem versöhne Dich mit Gott; denn durch diese Ursachen, die neben jenen hergehen und die ganz in Deiner Willkür liegen, geschieht es, daß Vorausfagungen in Betreff der Gesundheit etwas sehr Unsicheres find. Ueber Deinen Prozeß aber einen Ausspruch zu thun, das liegt der Natur am allerfernsten.“

Von größerem Intereffe ist das Horoskop, das Kepler Wallenstein gestellt hat, im Jahre 1609. Das nicht von Kepler eigenhändig ge= schriebene Dokument befindet sich im königlichen Archiv zu Dresden und ist abgedruckt in dem Schriftchen des Dr. Helbig: „Der Kaiser Ferdinand und der Herzog von Friedland. Dresden, 1852.“ Unser

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