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Die Schuld des Mißverständnisses zwischen dem Herzog und Schiller, das die Flucht des Dichters aus Stuttgart zur Folge hatte, trägt der Herzog nicht allein. Er konnte unmöglich in Schiller den künftigen großen Dichter voraussehen und glaubte für sein Bestes zu forgen, wenn er ihm die Herausgabe von literarischen Werken und den Verkehr mit dem Auslande verbot und ihn auf sein Berufsfach verwies. Es wirft ein schönes Licht auf ihn, daß er den Flüchtling nicht verfolgen und die Aeltern nicht das Vergehen des Sohnes büßen ließ. Es zeugt von seiner Versöhnlichkeit, daß er auf Schiller's wiederholte Bitte, ihm die Rückkehr zu gestatten, die Antwort ertheilen ließ: ,,Da Se. herzogliche Durchlaucht jezt sehr gnädig wären, solle er nur zurückkommen" (S 219). Wenn Schiller verlangt, der Herzog folle ausdrücklich sein Verbot in Betreff der Herausgabe literarischer Schriften und des Verkehrs mit dem Auslande zurücknehmen, so hat er seinem Fürsten und Dienstherrn, gegen den er sich verschuldet, offenbar zu viel zugemuthet. Es kam dem Unterthanen nicht zu, Bedingungen zu machen, und der Fürst war es seiner Würde schuldig, auf solche nicht einzugehen.) Uebrigens hat Schiller später auch dem, Herzog Gerechtigkeit widerfahren laffen. Als er achtzehn Jahre später mit seinem Freunde Wilhelm von Hoven an der Gruft des Herzogs stand, sprach er: „Da ruht er also, der raftlos thätige Mann! Er hatte große Fehler als Regent, größere als Mensch; aber die ersten wurden von seinen großen Eigenschaften weit überwogen, und das Andenken an die leßteren muß mit dem Todten begraben werden. Darum sage ich dir: wenn du, da er nun dort liegt, jezt noch Jemand nach. theilig von ihm sprechen hörst, traue diesem Menschen nicht; er ist kein guter, wenigstens kein edler Mensch.“

In einem minder günstigen Lichte läßt uns der Verfasser den Freiherrn von Dalberg sehen. In der That ist er es, der Schiller zu dem verzweifelten Entschlusse der Flucht treibt und an der Noth und den Bedrängnissen, die nach derselben den jungen Dichter treffen, die Hauptschuld trägt. Die erste Aufführung der „Räuber" in Mann heim, am 13. Januar 1782, hatte einen Erfolg, der die überspanntesten Erwartungen übertraf. Eine zweite Aufführung brachte einen gleichen Enthusiasmus hervor. Der Ruf von der ungeheuren Wirkung, so wie von der meisterhaften Darstellung, war nach Stuttgart gedrungen. Frau von Wolzogen und Frau Vischer beftürmen Schiller mit Bitten, sie nach Mannheim zu begleiten, wohin sie der lebhafte Wunsch trieb, einer Aufführung des Stückes beizuwohnen. Schiller läßt sich bei seinem Chef krank melden und fährt mit den. Damen, im Mai 1782, nach Mannheim. Dalberg geht auf seine Bitte ein: die,,Räuber" werden gegeben. „Mit ganzer Seele in die Vorstellung verloren, empfand er, empfanden es seine Begleiterinnen, was er mit seinen jugendlichen Kräften unter dem Drucke seiner Fesseln geleistet. Wenn diese Kräfte freien Spielraum erhielten! Dieser Gedanke ward von seiner enthusiastischen Umgebung umsomehr angefeuert und unterhalten, je tiefer die Eindrücke waren, welche die erschütternden Scenen bei ihnen zurückgelassen hatten. Dieser Gedanke führte ihn zu Dalberg. Der Freiherr gönnte ihm eine vertrauliche Stunde. Schiller schüttete sein Herz aus, er bat um Rettung. Der Freiherr schien bewegt, er versprach ihm, das Seine zu thun; er schien mehr Schwierigkeiten in dem Mittel zu finden, wie man Schiller von Stuttgart wegbekäme, als,,in der Art, ihn in Mannheim zu employiren." Doch versprach er, Alles zu thun, was in seinen Kräften stände, und besiegelte dies Versprechen mit einem ehrlichen deutschen Händedruck. Bestimmtes ward nicht festgefeßt." - Krank nach Stuttgart zurückgekehrt, theilt Schiller seinem Freunde Streicher) die Hoffnung mit, die ihm Dalberg gemacht. Um Dalberg zu einer bestimmten Maßregel zu bewegen, schreibt er an ihn unter dem 4. Juni, giebt ihm drei Grundideen zu einem Briefe an den Herzog an und fügt hinzu: „E. E. haben mir alle Hoffnung gemacht, und ich werde den Händedruck, der Ihren Verfpruch versiegelte, ewig fühlen; wenn E. E. diese drei Jdeen goutiren und in einem Schreiben an den Herzog davon Gebrauch machen, so ftehe ich ziemlich für den Erfolg. Könnten E. E. in das Innere meines Gemüthes sehen, welche Empfindungen es durchwühlen, könnte ich mit Farben schildern, wie sehr mein Geist unter dem Verdrießlichen meiner Lage sich firäubt Sie würdenja, ich weiß geja, ich weiß gewiß Sie würden eine Hülfe nicht verzögern, die durch einen oder zwei Briefe an den Herzog geschehen kann." - Dalberg, der einflußreiche Baron, Obersilberkämmerling und Vice-Kammerpräsident, der Günstling seines Kurfürsten, konnte bei dem guten Vernehmen der

*) Es war wohl Schiller, der das Schicksal Schubart's auf dem Asperg stets vor Augen hatte, nicht zu verdenken, wenn er vor Karl Eugen's Behande lung der Dichter einen solchen Respekt behielt, daß er sich gegen die Möglich feit schüßen wollte, dafür bestraft zu werden, daß er das Verbot des Herzogs, im Auslande etwas drucken zu lassen und sich überhaupt mit der Poefte zu beschäftigen, übertreten hatte. D. R.

**) Streicher's Schrift über die Flucht Schiller's von Stuttgart ist von dem Verfasser mit Recht seiner Darstellung zum Grunde gelegt worden. Der wackere Jugendfreund Schiller's, dessen Schrift im deutschen Publikum viel zu wenig gekannt und geschäßt wird, kömmt durch das Palleskesche Buch zu seiner

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Ein russisches Urtheil über Berlin und die Berliner.

Das in Moskau erscheinende Journal Russkji Wjestnik, das als das Hauptorgan der russischen Fortschrittspartei betrachtet werden kann, enthält eine Reihe von Artikeln über das bekannte Werk von W. H. Riehl:,,Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik", welche sich über dasselbe im Ganzen sehr lobend aussprechen, obwohl sie den Ansichten des Verfaffers in manchen Fällen entgegentreten. Namentlich ist der russische Kritiker - Herr Besokrasov, Secretair der Petersburger geographischen Gesellschaft — mit den Bemerkungen Riehl's über den Industrialismus und seine verderbliche Einwirkung auf den sittlichen Zustand Deutschlands, besonders in den großen Städten, nicht einverstanden. „Judem wir“, sagt er, „das Verdammungsurtheil des Herrn Riehl über die großen. Städte wiedergeben, wollen wir auch unsere persönlichen Eindrücke mittheilen, die uns viel tröstlicher scheinen und die wir in einer der größten Städte Deutschlands gesammelt haben. Wir reden von Berlin. von Berlin. Unsere Eindrücke sind hier um so mehr am Ort, da der Tadel des Herrn Riehl hauptsächlich wohl gegen Berlin ge= richtet ist, indem er, nach seinen Ansichten zu urtheilen, zu derjenigen Klasse deutscher Publizisten gehört, die mit den geistigen Bestrebungen Süddeutschlands sympathifirt und auf die des Nordens, namentlich Berlins, mit Mißtrauen blickt. Dieses darf uns durchaus nicht in Verwunderung sezen. In dem politischen und gelehrten Deutschland ist ein gewiffes periodisches Schwanken der öffentlichen Meinung, bald nach Süden, bald nach Norden, bemerkbar. In der legten Zeit hat Preußen viel von seiner Popularität verloren, .... aber ohne Zweifel werden die Sympathieen sich dem Norden wieder zuwenden.

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,,Man sagt, und wir haben es selbst wahrgenommen, daß Berlin sich in der lezten Zeit sehr geändert, daß es viel von der deutschen Sitteneinfalt verloren, viele von den Gewohnheiten des Lurus und den Raffinements des materiellen Lebens dem Westen entlehnt hat. Bei alle dem ist aber jenes geistige Leben Deutschlands, zu dessen ersten Repräsentanten es schon seit lange gehört, hier nicht nur nicht erloschen, sondern, wie es scheint, mit neuem Feuer erwacht. Wenn einige von den lebenden Autoritäten der Wissenschaft gealtert haben, wenn neue Sterne erster Größe nicht erschienen sind, so ist dagegen die Thätigkeit der Wissenschaft und Kunst in eine neue Entwickelungsphase getreten die Verbreitung der Resultate des Wissens unter den Volksmaffen, die Popularisirung derselben, aber im edelsten Sinne des Wortes. In Berlin ist uns diese neue Phase des geistigen Lebens der Gesellschaft, die einen der Haupt-Charakterzüge unseres Jahrhunderts bildet, besonders scharf ausgeprägt erschienen. Ueber das neue Berliner Museum ist viel gesprochen worden, und es wurden neuerdings einige Nachrichten über dasselbe in den Blättern des Russkji Wjestnik (von dem unlängst verstorbenen Professor Kudräwzov) - mitgetheilt. Während unseres kurzen Aufenthaltes in Berlin haben wir diese großartige Schöpfung nicht hinlänglich studirt, als daß wir wagen könnten, vor dem Publikum darüber zu reden. Aber wir wurden von der Idee dieses Unternehmens ergriffen, das sich täglich, troß aller Riesenhaftigkeit des Plans, seiner vollständigen Verwirklichung nähert. Das Museum soll, zum Theil in den Originalen, zum Theil in Facsimile's, Proben der Kunst und der Jndustrie aller Zeiten und aller Nationen darstellen, mit Einem Wort, die leibhafte Geschichte des religiösen, geistigen, ästhetischen und materiellen Lebens der Menschheit. Vor Euch erheben sich ägyptische, griechische, römische Tempel in ihrer ganzen Aktualität; eine ganze Reihe von Sälen verseßt Euch in eine andere Welt, wo sich nicht ein einziger Gegenstand findet, der an die heutige erinnert. Es ist dies keine Theater-Vorstellung, keine Decoration, auf optische Täuschung berechnet; die kleinsten Details der Architektur, der Malerei, der Hausgeräthe sind mit dem Fleiße deutscher Wissenschaftlichkeit studirt und wiederhergestellt. Und indew man sich hier, vor den vollkommensten Gebilden der Schönheit, ganf dem Genuß hingiebt, lernt man praktisch verstehen, welche Wichtigkeit die Wissenschaft für die Kunst besißt..... In diesen Sälen nun stellt sich täglich das Publikum schaarenweise ein; die Majorität desselben gehört, so viel wir bemerken konnten, den unteren Ständen an: fie besteht aus Handwerkern, Arbeitern und Soldaten.") Uns interesfirten besonders die Physiognomieen der Besuchenden: dieser Ernft auf den Gefichtern, diese Intensität des Blickes, die von Verständniß des be

*) Die eigenthümliche Wehrverfassung Preußens, die zur Folge hat, daß bei uns die Soldaten nicht nothwendigerweise zu den,, unteren Klassen" ge=

trachteten Gegenstandes zeugte, diese tiefe Achtung für das, was sie umgab, und Alles ohne die geringste polizeiliche Beaufsichtigung. Die Diener durchschreiten würdevoll die Gemächer, machen auf alles Beachtungswerthe aufmerksam, lassen sich in verschiedene historische Erklärungen ein, und Jeder von ihnen scheint mit Leib und Seele fich dem Fache gewidmet zu haben, bei dem er angestellt ist. Einige von den Dienern (im alten Museum) beschäftigen sich in ihren Freistunden damit, Abdrücke von den Medaillen, Reliefs u. f. w. zum Verkauf anzufertigen. Wir sahen ganze Trupps von Arbeitern ruhig und fittsam vor einem Gemälde oder einer Bildsäule stehen. Wir sahen einen Soldaten, der Canova's Psyche zu feinem eigenen Vergnügen abzeichnete. Die zwanglosesten Nuditäten der Statuen und der Bilder erregen von Seiten der Zuschauer nicht eine einzige unanständige Bemerkung, nicht einen einzigen Scherz. Aber diese Fähigkeit, plastische Schönheiten faltblütig, ohne jeden unbescheidenen Nebengedanken, zu besichtigen und zu beurtheilen, ist, wie es scheint, ein eigenthümlicher Charakterzug des Deutschen; sie für undelikat zu halten, fällt selbst den Frauen nicht ein. Ist dies nicht wenigstens ein Beweis von großer Sitteneinfalt? Vor jene klassischen Nuditäten stellt sich ebenso unbefangen die strenge Familienmutter mit ihren Töchtern hin, wie die leichtfectige Priesterin des öffentlichen Vergnügens. Es ist vor Allem die Idee eines Kunstwerkes, die den Deutschen beschäftigt, welche sinnlichen Beziehungen auch mit demselben verbunden sein mögen.

Dekorum, welches allen Lebensverhältnissen Deutschlands und namentlich den Beziehungen zwischen den Geschlechtern ein eigenthümliches Gepräge giebt. Die Frauen sind hier nicht allein vor jeder materiellen Unbill, sondern auch sogar vor der leisesten Verlegung ihres Schamgefühle gesichert. Diese Sicherheit ist nicht so sehr durch das Ehrgefühl der Männer bedingt, das sie bereit macht, bei der geringften Beleidigung, die einer Frau, was sie auch sein mag, öffentlich zugefügt wird, sich ihrer anzunehmen und sie mit ritterlicher Aufopferung und Uneigennüßigkeit zu vertheidigen, wie dies bei den Franzosen und noch mehr bei den Engländern der Fall ist, als durch jene tiefe, innere Achtung des Deutschen für das Weib, jene Sittlichkeit in allen seinen Beziehungen zu ihr, in allen seinen Gedanken, sogar den verborgensten. Es ist wahr, das Weib ist für den Deutschen kein Wesen, das ein Privilegium auf alle Genüffe des Lebens hat, während der Mann alle Mühseligkeiten desselben auf sich nimmt; sie ist für ihn ebensowenig eine bloße Zierde der Salons, die es überhaupt bei den Deutschen nicht giebt; auch ist sie nicht für ihn ein Mittel, seinen männlichen Muth und seine Ueberlegenheit über andere Männer zu zeigen: nein, das Weib ist für ihn in der Jugend ein Gegenstand zielloser, aber völlig reiner Schwärmerei, und dann eine Hausfrau, eine Arbeiterin, wie er selbst ein Arbeiter ist, und daher seine Freundin. Man wird uns kaum glauben, daß wir zu diesen Betrachtungen und Beobachtungen auf einem öffentlichen Ball nach Art des Pariser bal Mabile Veranlassung fanden: aber welche Verschiedenheit der Nationalitäten giebt sich auch in dieser gleichartigen Erscheinung kund! Wir sahen hier Frauen in ihren kattunenen Werktags-Kleidern, mit hohen Taillen, die eher an die Schule als an die Bacchanalien erinnerten, mit tadellos weißen Krägelchen, die nur von der Ordnung des Stilllebens, durchaus nicht von der Unordnung der Leidenschaften zeugten - mit einem Wort, Frauen, die, wie sie selbst sagten, nach ihren Mitteln gekleidet waren. Eine solche Bescheidenheit, eine solche Nüchternheit der Toilette, eine solche Uebereinstimmung derselben mit den Mitteln einer Jeden, eine so strenge Beobachtung des Anstandes in derselben endlich wird man nicht immer auf Bällen bei Frauen von bestem Ton antreffen. Die Männer laden auch hier die Damen mit allen Formen der schlichten deutschen Höflichkeit zum Tanze ein, beginnen und enden jeden Tanz mit Verbeugungen, die Damen enthalten sich sorgfältig aller herausfordernden Blicke und Bewegungen; alles dieses ist vielleicht sehr langweilig, aber zugleich doch höchst merkwürdig.

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,,Wir wurden hiervon noch mehr durch eine Vorstellung des ,,Faust" überzeugt, der wir im königlichen Theater zu Berlin bei wohnten. "Faust" (natürlich nur der erste Theil) auf der Bühne, mit allen seinen Monologen, ohne alle Abkürzungen (?), ohne alle Streichungen, ohne alle Aenderungen! Aber was unsere Erwartung am meisten übertraf, das war das Publikum. Wie ergreifend auch viele Momente auf der Bühne waren, wie theuer die Erinnerungen sind, die sich unwillkürlich bei den Versen,,Faust's" in der Seele regen, so interessirte uns doch besonders das Publikum, unter welchem sich nur wenige Personen aus den höheren Ständen befanden. Die Vorstellung dauerte etwa fünf Stunden. Die Rolle des Faust gab ein unbekannter Debütant, das Gretchen Fräulein Seebach, die sich gegen wärtig in Deutschland eines hohen Rufes erfreut. Während der ganzen Vorstellung herrschte eine völlige Stille, die nur selten von mäßigen Applaudissements unterbrochen wurde; es war, als ob man einer religiösen Feier beiwohnte, inmitten eines von Andacht erfüllten Volkes. Und nicht nur unten, auch in den obersten Regionen war nicht das Wenn man nun bedenkt, daß dies Alles in einer der bedeutendleifeste Geräusch hörbar, sondern mit gespannter Aufmerksamkeit folgtesten Hauptstädte Europa's vorgeht, in einer Weltstadt, die ganz von man jedem Wort. „Fauft“ ist in Berlin ein populäres Stück! Das dem industriellen Geiste des Jahrhunderts erfaßt und getränkt ist, so Publikum, sogar die Galerie flüsterte den Schauspielern die Verse fragt man unwillkürlich: wie ist das von uns Geschilderte mit den mit einer gewiffen religiösen Ehrfurcht nach; bei allen humoristischen Klagen des Herrn Riehl über die verderbliche Einwirkung des Inund ironischen Ausfällen Mephisto's keine Spur von Gelächter, dustrialismus auf den heutigen Zustand der großen Städte zu verwährend bei uns in solchen Fällen der Lärm auf der Galerie unerträg- einigen? Die Verfolgung der materiellen Intereffen hat hier die Belich ist. Wir erinnerten uns unwillkürlich an eine Vorstellung des friedigung der geistigen und ästhetischen Bedürfnisse des Lebens nicht Hamlet" auf dem Alexandrinen- Theater (in Petersburg); dort brach verhindert, und der Alles nivellirende Kosmopolitismns der großen nicht allein die Galerie, sondern auch das Parquet unaufhörlich in ein Städte wird ebenso wenig jene Eigenthümlichkeiten des nationalen Gelächter aus, das uns wahrhaft in Verzweiflung feßte, und dabei ist Genius verwischen können, die sich im Laufe einer Jahrhunderte langen noch zu bemerken, daß der Liebling des Publikums, Karatygin, den historischen Entwickelung ausgebildet haben.“ Hamlet spielte. Aber wozu Vergleichungen, namentlich da von der geistigen Entwickelung des Berliner Publikums die Rede ist, wo alle Vergleichungen schwer find? Wie sehr Fräulein Seebach auch beliebt ist, welches Entzücken sie auch im Allgemeinen in der Rolle Gretchen's erregte, so wurde sie doch zweimal, wegen outrirten Spiels und zu starken Schreiens, auf der Stelle ausgezischt (?). Das Publikum ist äußerst empfindlich für jeden irgendwie falschen Ton, für jede un angemessene Geberde, und dieses ästhetische Gefühl ist hier in der Maffe des Publikums weit mehr verbreitet, als in seinen fashionablen Spißen. Und so muß es auch sein. Die Rolle des Fauft wurde von dem jungen Schauspieler mit solcher Begeisterung gegeben, daß es unmöglich war, gleichgültig zu bleiben. Jedes Wort, das er aussprach, schien von ihm tief studirt und gefühlt worden zu sein; um aber Alles wirklich zu fühlen, was der Schöpfer des „Faust" in seine Dichtung gelegt hat, muß man viel gedacht haben und Vieles wissen. Jener Märtyrer des Gedankens, jener stolze, zerrissene, von seiner eigenen Geistestiefe gepeinigte Fauft, in dem sich der ganze Genius des deutschen Volkes verkörpert, schien leibhaftig vor uns zu stehen. Das einzig mögliche dramatische Element einer solchen Vorstellung konzentrirt sich in der Rolle des Fauft, indem hier alles Intereffe in dem innerlichen, psychischen Drama liegt, das in der Seele Faust's vorgeht. Um daher wirklich auf der Bühne als ein dramatisch intereffanter Charakter zu erscheinen, muß der Schauspieler so glauben wir wenigstens fich in jene innere Welt des Gedankens und der Wissenschaft versenken, die in Fauft personifizirt ist.

Wir waren auch bei den öffentlichen Bällen in den Vorstädten Berlins zugegen. Man denke sich auch hier, wie überall, herrscht – derfelbe fittliche Charakter des gesellschaftlichen Umganges vor, dasselbe

So das Urtheil unseres Ruffen über die heutigen Zustände Berlins und den moralischen Charakter seiner Bewohner. Wir müssen géstehen, daß wir bisher von dem ästhetischen Sinn unserer Theaterbesucher und von der sittlichen Unverdorbenheit unseres Kolosseum- ́und Walhalla-Publikums keine ganz so hohe Meinung hatten - vielleicht weil wir die Dinge in allzu großer Nähe betrachten, oder weil wir daram einen anderen Maßstab legen, als der durch die Sitten seiner Heimat zu wenig verwöhnte Moskowite. Jedenfalls wird sich Berlin für das ihm ausgestellte günstige Zeugniß bedanken müssen, das um so erfreulicher ist, je seltener man, namentlich in der lezten Zeit, unserem Spree-Athen dergleichen Komplimente gespendet hat.

Estland.

3ur Kenntniß estnischer Volkspoesie.

Schon seit längerer Zeit hat die im Jahre 1838 gegründete ge☛ lehrte,,Estnische Gesellschaft" zu Dorpat, die nach ihren Statuten den Zweck hat,,,die Kenntniß der Vorzeit und Gegenwart des eftníschen Volkes, seiner Sprache und Literatur zu fördern", unter den Gegenständen, welche sich ihrer Untersuchung darboten, namentlich auch den Sagen und Liedern der Eften ihre Aufmerksamkeit zugewendet. Diese Sagen und Lieder sind das einzige, vom Volke selbst erzeugte, redende Denkmal seiner Vergangenheit, und es wäre zu beklagen, wenn die Befreiung dieses Volkes aus seiner früheren Leibeigenschaft der Anerkennung und Weiterförderung dieses einst so blühenden Zweiges seiner geistigen Produktivität nicht günstig sein sollte. Denn jedenfalls wäre dies ein Verfall der Volkspoesie, und in diesem Verfalle könnte kein Fortschritt auf der Bahn naturgemäßer Entwickelung,

sondern vielmehr nur ein Rückschritt auf derselben erkannt werden. In dieser Hinsicht hat bereits Manches nachtheilig und lähmend auf jene Entwickelung eingewirkt, und besonders gilt dies von dem Streben nach deutscher Bildung, das sich in solche Weise auch der Literatur der Eften bemächtigt hat, daß dadurch das Nationalgefühl vollkommen abgeftumpft worden ist.

Diese Wahrnehmung ist für die Eingangs erwähnte,,Estnische Gesellschaft" eine um so dringendere Veranlassung geworden, die vorhandenen Ueberbleibsel der nationalen Poefie der Eften zu sammeln. Die großartigfte Schöpfung dieser Volkspoesie ist die Sage vom Kalewipoeg, dem Sohne des Kalew“, und noch schwebt der verkümmerten, sagenfeindlichen Gegenwart Manches von den Thaten dieses Nationalhelden im Gedächtniffe, noch existiren im Munde des Volkes Ruinen der ganzen Heldensage, welche zwar die Herrlichkeit des Ganzen mehr ahnen als erkennen laffen, jedenfalls aber auf eine hohe, majestätische Gestalt hinweisen. Dabei trägt jeder Zug des Helden in den vorhandenen Bruchstücken das unverkennbare Gepräge des kindlichen, unmündigen Zeitalters feiner Dichter an sich, so daß hier von einer Fälschung, von Lug und Trug keine Rede sein kann. Der Kalewide ist kein Held des klassischen Alterthumes; vielmehr stellt ihn die Volkssage als ein unbeholfenes, antediluvianisches Ungeheuer" dar, dessen Körperkraft jedes Maaß überschreitet und die Wahrscheinlichkeit weit überbietet, und feine, die Gränzen des Möglichen überschreitenden Thaten werden nur in der „Kalewala“ der Finnen noch überboten.

Während aber die finnische Sage einen völlig organisirten, von zahlreichen Gestalten belebten heidnischen Götterstaat vor uns aufschließt, verstattet, die estnische Kalewi-Sage nicht den geringsten Blick in die heidnische Götterlehre der alten Eften, und die in der eftni schen Poesie überhaupt vorherrschende, elegische Richtung ist auch in der Kalewiden-Sage, und zwar in martirteren Zügen, vertreten, als die kräftige Riesengestalt des Helden erwarten läßt, dessen Charakter durch und durch tragisch ist. Die Kalewi - Sage schließt sich einerseits an die düsteren Göttersagen in den nordischen ungeheuerlichen Sagas, andererseits an die asiatischen Phantasmagorieen an. Sie ist über unsere europäischen Begriffe hinaus kolossal, ohne Dimension, phantastisch, wie die Erzeugnisse jener ersten Schöpfung selbst. Das finnische Nordroß, von deffen einem Ohre zum anderen das Eichhörnchen einen Monat lang springen mußte, das unterirdische Mammuth der Tungusen, dem die Gebirge wie Maulwurfshügel ihre Entstehung verdanken, das tausendgliedrige Ungeheuer der Kalmückenfage, deffen verblichene Gebeine den Himalaya bilden, und Kalew's Sohn, der die Welt umpflügt, sind Geschwisterkinder einer asiatisch phantastischen Gefühlsweise und Aeußernngen eines vorgeschichtlichen, uns unverstände lichen Kraftgefühle.

Aber es galt, die hin und wieder bekannten Einzelnheiten der Kalewi-Sage niederzuschreiben, in Eftland selbst neue Beiträge sam meln zu lassen und auf diese Weise die zerstreuten Theile zu einem Ganzen zu vereinigen. Seit langer Zeit hatte sich ein Este, Dr. Fählmann, mit diesem Gegenstande eifrig beschäftigt und darin eine Lebens aufgabe für sich erkannt und gefunden. Der Tod vereitelte die Aus führung seines Vorhabens; aber ftatt feiner übertrug die Estnische Gesellschaft dieselbe dem Eften F. R. Kreuzwald in Werro, der schon frühzeitig mit der Sprache und mit den Sitten des Volkes sich be fannt gemacht hatte und bemüht gewesen war, zu jenem besonderen Zwecke Materialien zu sammeln und zur gelegentlichen Benugung auf zuschichten und zu ordnen. Das Unternehmen hat zwar, neben mancher sehr förderlichen Unterstüßung, auch manches Hinderniß und viel Un gunft, namentlich in der Theilnahmlosigkeit des Estenvolkes selbst, ges funden, das kein Ohr mehr hat für einfache, ungefünftelte Naturpoesie, weil es durch die Machwerke verbeutschter Esten, durch die ihm auf gedrungenen Erzeugnisse der Schulmeister- und Küfter-Schriftstellerei verdorben worden; nichtsdestoweniger aber hat es erfreulichen Forts gang gehabt. Die Sichtung des vielfach aufgespeicherten Materials war keine leichte Arbeit; dabei kam es vornehmlich darauf an, das nicht Zusammengehörige zu trennen, fremdartige Elemente auszuscheiden, jedem Bruchstücke seinen rechten Plag anzuweisen und die im Munde des Volkes lebenden Sagen in einer bestimmten Ordnung an einander zu, reihen.

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Wir haben Gelegenheit gehabt, die erste Lieferung des Kalewis

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niß, daß er bei dieser Verdeutschung den Hauptgrundfah befolgt habe, den Inhalt des Originals in dessen eigenthümlichem Versmaße so wiederzugeben, daß kein Gedanke verloren gegangen, den der Genius der deutschen Sprache wiedergeben konnte, „,ohne sich eine Zwangs jacke anzulegen, die feine freie Bewegung hinderte". Der deutsche Leser wird anzuerkennen haben, daß sich die Ueberseßung faft durch gängig wie das Original lieft, und sie wird ihn anziehen und fesseln, in ähnlicher Weise, wie die Gesänge Offians, an die das Ganze lebe haft erinnert. ft.

Mannigfaltiges.

Humboldt's Leben in hebräischer Sprache. Ein Büchlein, welches die Bestimmung hat, die Kenntniß von dem Leben und dem wissenschaftlichen Wirken Alexander's von Humboldt in den weiten Kreisen der ruffisch-polnischen und der asiatischen Israeliten zu verbreiten, ist kürzlich in hebräischer Sprache aus einer Berliner Presse hervorgegangen.") Der Verfaffer ist selbst ein russischer Ifraelit, Namens Slonimski, der vor mehreren Jahren eine sehr sinnreiche Rechenmaschine erfunden und damals durch seine mathematischen Kenntniffe die Aufmerksamkeit von Bessel und Jacoby in Königsberg erregt hatte, die ihm zu jener Zeit Briefe an Alexander von Humboldt in Berlin mitgegeben, welcher in seiner gewohnten humanen Weise sich des armen jüdischen Gelehrten werkthätigst angenommen. Leßterer erhielt dadurch Gelegenheit, sich auch mit den Werken seines Gönners genauer bekannt zu machen, und so entstand in ihm der Wunsch (wie er in dem Vorworte seiner Schrift sagt), das mit den Fortschritten der Wissenschaft überhaupt so innig verwebte Leben Humboldt's seinen Hebräisch verstehenden Glaubensgenoffen in den slavischen Ländern und im Orient bekannt zu machen und zugleich ein „Gedenkzeichen“ (wie der hebräische Titel der Schrift lautet) der Gerechtigkeit und Fürsprache zu sehen, welche Humboldt stets dem Judenthum und den Juden habe zu Theil werden laffen. Die erste Hälfte der gerade hundert Seiten starken, in sehr korrektem und fließendem Hebräisch abgefaßten Schrift ift dem Leben und einer allgemeinen Uebersicht der Werke Humboldt's gewidmet, während die zweite Hälfte einen Abriß des „Kosmos" bildet, worin der Verfaffer von den Doppelsternen, wie vom Erdmagnetismus, von den Vulkanen, wie von der füdamerikanischen Pflanzenwelt, in einer Sprache handelt, von der man glauben sollte, fie habe dafür unmöglich einen Ausdruck, die er jedoch in geschicktefter Art mit den „,Ideen des großen abendländischen Weifen“ bereichert hat. Der Verfaffer, der das Manuskript seiner Schrift an Humboldt, als Huldigung zu deffen achtundachtzigstem Geburtstage, überreicht hatte, erhielt von demselben nachstehende, charakteristische Erwiederung: ,,Verehrtester Herr Slonimski!

"Ich bin tief in Ihrer Schuld durch so lange Verzögerung des Dankes für eine Ehre, die Ew. Wohlgeboren mir so wohlwollend be reitet haben. Die unruhige Lage, in der ich lebe, in einer politisch und gesellschaftlich so bewegten Zeit, kann mich kaum rechtfertigen. Eine Empfehlung von zwei berühmten, mir so theuren Freunden wie Beffet und Jacoby läßt einen dauernden Eindruck. Der hebräischen Literatur leider entfremdet, aber von früher Jugend an mit den edelsten Ihrer Glaubensgenoffen innigst verbunden, ein lebhafter und ausdauernder Verfechter der Ihnen gebührenden und so vielfach noch immer entzogenen Rechte, bin ich nicht gleichgültig für die Ehre, die Sie mir erwiesen haben. Das Zeugniß eines tiefen orientalis schen Sprachkenners, des vortrefflichen, so mannigfach ausgebildeten Dr. Michael Sachs, kann eine solche Auszeichnung nur erhöhen. Es ist für den biographisch Belobten fast eine Beruhigung, der Ursprache nicht mächtig zu sein. Ich werde vom Dienstag an einige Wochen wieder in Berlin wohnen, und vom Dienstag an wird jeden Tag zwis fchen 1 und 2 Uhr es mir eine Freude sein, Herrn Slonimski, falls er nicht schon nach Warschau zurückgekehrt ift, in Berlin:zu em pfangen und Ihnen den Ausbruck der innigen Hochachtung mündlich zu erneuern, die Ihren schönen, früheren, wissenschaftlichen Bestrebun gen gebührt. Ew. Wohlgeboren gehorfamfter Sara

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Alexander Humboldt." now is mabo: ova mbwadın jade modobab pr ́A. (*

קורות ימי חייו, מסעיו, וספריו מאת חיים זעליג ppear eine eftnifdbe Sage", in ben 8erbanblungen ber gefebrtent

ושמונים שנה, סלאנימסקי. בערלין. תריה.

Estnischen Gesellschaft zu Dorpat!! (Dorpat, 1857. Bd. IV, Heft 1), näher uns anzusehen,*). Sie enthält das in der bemerkten Weise von Kreuzwald zusammengestellte Original, mit der deutschen Ueberfegung eines Pastor Karl Reinthal. Ersterer giebt dem Leßteren das Zeug

*) Vgl. über dieselbe Nr. 115 ff. des ,,Magazin“ vom vor. Jahre..

Alexander von Humboldt. Eine biographische Skizze. Dem Nestor des Wissens gewidmet zu seinem 88. Geburtstage von S. Slonimski". 8. Berlin, Veit & Co. (Druck von Sittenfeld.) 1858.

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Frankreich.

Berlin, Donnerstag den 12. Auguft.

3. Michelet's,,Richelieu und die Fronde."") Michelet ist ein Historiker, der, bei aller philosophischen Tendenz, fich doch immer in dem Kreise der nationalen Anschauungen bewegt, der es nie vergißt, daß er Franzose ist und zunächst für Franzosen schreibt. Daher ist sein Nationalgeschichtswerk gewissermaßen selbst ein Stück Geschichte. Nur ein solches erfüllt die höchste Forderung, die an Historiographie gestellt werden kann; es bewirkt, daß die Nation sich ihrer selbst bewußt wird. Der Geist, der in Michelet's Geschichte weht, hat ihr auch die Form gegeben. Darstellung, Stil, Ausdruck, Alles ist echt französisch. Die Gestaltung des historischen Stoffes zu einem künstlerischen Ganzen, die geistreiche Auffassung und Hervorhebung des Charakteristischen, die fast dramatische Art, durch immer neue Spannung das Interesse rege zu erhalten und durch natürliche Lösung die Erwartungen zu befriedigen, die überraschenden und pikanten Zusammenstellungen und Vergleichungen scheinbar heterogener, doch ihrem Wesen nach verwandter Erscheinungen, die originelle Sprache, die, gleich weit entfernt von rhetorischer Breite, wie von skizzenhafter Kürze, durch Leben und Geist fesselt, rechtfertigen den Rang, den Michelet unter den jest lebenden Historikern Frankreichs einnimmt. Für Geschichtswerke, wie das Michelet's, ist der wahre Kritiker die Nation selbst, für die sie geschrieben find. Sie entscheidet durch die Aufnahme, die sie ihnen gewährt, über den Werth oder Unwerth derselben. Es wäre daher pedantisch, dem Verfasser einzelne Versehen und Irthümer nachzuweisen und anzurechnen, und ungerecht, über das mit ihm rechten zu wollen, was von einem anderen nationalen Standpunkte aus anders erscheint. Wir müssen uns der Lektüre eines solchen Nationalwerkes ebenso unbefangen hingeben, wie etwa der Anschauung eines fremden Kunstwerkes, als Laien des geistigen Genusses wegen, als Männer von Fach, um uns nicht zur sklavischen Nachahmung, sondern zur freien Nacheiferung anzuregen.

Die Zeit Richelieu's und der Fronde bezeichnet Michelet als einen Wendepunkt in der Geschichte. Mit dem westfälischen Frieden ist das Mittelalter als völlig abgeschloffen und begraben zu betrachten. Die neue Zeit steht fertig da. Adieu le gaulois; salut au français! Wie dies zu verstehen sei, erklärt er auf den lehten Seiten feines Buches.,,Ein Genie mit durchdringendem Auge, der holländische Zauberer Rembrandt, der die Zukunft zu enthüllen verstand, hat dies in einem düsteren Gemälde, das aus den Tagen der Freude über den westfälischen Frieden stammt, besser ausgesprochen, als alle Politiker und Historiker. Das Gemälde befindet sich im Louvre; es stellt Christus zu Emmaus vor. Man vergißt das Gemälde und hört nur einen tiefen Seufzer aus weiter Ferne, und in diesem vereinen sich die Wehklagen von zehn Millionen Witwen, und diese Grabes-Melodie schwebt und thränt in dem Auge des armen Mannes, der das Brod des Volkes bricht. Man erkennt es wohl, daß die Tradition des Mittelalters vorbei und vergessen ist, schon hundert Meilen fern von diesem Bilde. Etwas Anderes ist an dessen Stelle getreten, ein Ocean auf der kleinen Leinwand. Und was? Der moderne Geist! Das Erstaunliche an dem rührenden Mitleide, das sich in diesem Gemälde ausdrückt, ist, daß es keine Hoffnung gewährt. „Herr", fagt es,,,vervielfältige dieses Brod; sie sind so hungrig!" Aber er hört es kaum, und, Alles deutet darauf hin, daß der Hunger fortdauern wird. Der elende, trockene Fisch, den der vom Fieber geschüttelte Wirth bringt, wird auch nichts Großes bewirken. Es ist das Haus des Fastens und der Tisch des Hungers. Unten lacht und grinst und knurrt eine schreckliche Dogge, der Teufel, wenn man will, ein kräftiges Thier, ebenso stark und fett, wie jene armen Leute mager sind. Es hat wohl Ursache, zu lachen, denn die Welt gehört ihm. Von dem westfälischen Frieden her datirt der Krieg, der uns in Frankreich

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Richelieu et la

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1858.

und anderswo in zwei Theile scheidet. Die beiden Völker, die in dem einen Volke enthalten find, haben bis dahin noch einen Rest von Einheit bewahrt. Aber jest ist die Zweiheit offenbar. Auf der einen Seite ein kleines französisches Völklein, eine kleine Hofwelt, glänzend, gebildet, zum Verwundern schön sprechend; auf der anderen, tief unten, tiefer als je, die große gallische Masse der Landbewohner, schmußig, mager, ihren Jargon bewahrend. Die Entfernung wächst; die Scheidung vollzieht sich, und zwar durch den Fortschritt des hohen Frankreichs. Es hat sich schon so weit über das Niedere erhoben, daß es dasselbe nicht mehr sieht, nicht mehr erkennt, nichts Lebendes mehr unterscheidet, ja nicht einmal Schatten, sondern etwas Unbestimmtes, wie eine Null in Ziffern. Neue Worte kommen in Gebrauch; eine schreckliche mörderische Abstraction, worin jede Empfindung des Lebens verschwindet. Es giebt keine Menschen mehr, sondern bloße Einzelheiten, Individuen."

Das ist, nach Michelet, die Tendenz der modernen Geschichte, und nach dieser Auffassung führt er uns die Zeit vor, in der die Saat bestellt wird, die später zur Aerndte reift.,,Die Geschichte der Menschheit scheint geschlossen", so beginnt er sein Werk,,,sobald man zu dem dreißigjährigen Kriege kommt. Es giebt keine Menschen und keine Nationen mehr, sondern nur Dinge und Elemente. Man muß selbst ein Barbar werden, um diese barbarische Zeit zu schildern, und sich ein Herz von Erz anschaffen, um das, was allein Alles beherrscht, begreiflich zu machen: die Brutalität des Krieges und sein rohes Werkzeug, die Soldaten". Die Menfchen-Schlächterei ist völlig organisirt. Es giebt vier Stätten, wohin Alle, die nichts Befferes kennen, als Menschen todtschlagen, strömen, um sich zu Menschenschlächtern anwerben zu laffen: in Ungarn unter Betlen Gabor, in den Niederlanden, in Schweden, wo La Gardie das Werberhandwerk treibt, und endlich in Deutschland, wo Waldstein den größten und ungeheuersten Menschenmarkt abhält. Die alten Condottieri hatten dies im Kleinen früher schon gethan; noch zuleßt hatte der Genuese Spinola unter spanischer Fahne den Krieg für feine Rechnung geführt. Waldstein nahm das Geschäft im Großen wieder auf und räfonnirte ganz einfach:,,Wenn ich wenig Soldaten habe, kann ich geschlagen werden; habe ich sie aber alle, kann ich mit Sicherheit den Krieg führen, da ich ja dann nur mit Nicht-Soldaten, mit unkriegerischen Bauern, mit Hammeln zu thun habe, während die Wölfe mir allein gehören." So errichtete er ein Reich von Soldaten und überließ ihnen das Volk, Leben und Vermögen, Körper und Seele, Männer, Frauen und Kinder. Wer einen Fuß Eisen an seiner Seite hatte, war König und that, was er wollte; er kannte kein Verbrechen mehr, und Alles war ihm erlaubt. Ueberall sonst Wehklagen und Jammer; nirgends eine Anklage; denn der Muth war gebrochen, und als der König von Schweden kam, Deutschland zu rächen, und die Anklage hören wollte, da fagten die geplünderten und verhöhnten Leute, Alles fei gut. Niemand beklagte sich mehr."

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,,Waldstein war ein Spieler. Er spekulirte auf die Leidenschaft und den Gözen der Zeit, der eben das Spiel war. Er gewann, weil er selbst eine lebendige Lotterie war, ein leibhaftes Bild des Glücksloses. Für nichts ließ er einen Menschen hängen, für nichts machte er ihn reich. Je nachdem er Einen anblickte, war dieser oben oder unten im Glücksrade, mächtig oder todt. Und deshalb strömte ihm auch alle Welt zu; Jeder wollte sein Glück versuchen. – Die Lotterie ist, wie das Kartenspiel, eine italiänische Erfindung. Franz 1. brachte sie mit anderen Krankheiten nach Frankreich. Un beau joueur war damals der Titel, der überall Zutritt verschaffte und der alle anderen Verdienste entbehrlich machte. Alle Thüren öffneten sich ihn weit, und fremde Abenteurer führten sich durch ihn ein. Das war auch das Verdienst Concini's gewesen. Seine heroische Kühnheit im Spiel entzückte die Königin Marie von Medici fast ebenso, als seine Grazie zu Pferde. Selbst der ernsteste Mann seiner Zeit, der politische Rechenmeister, der so wenig als möglich der Glücksgöttin überlassen wollte, Richelieu selbst, sah das Leben überhaupt wie ein Hasardspiel an. Das Leben der Menschen", sagt er,,,besonders das der

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Könige läßt sich recht eigentlich mit einem Würfelspiele vergleichen; um zu gewinnen, muß man spielen, und der Spieler muß seinen Vortheil zu benußen wissen." Auch Richelieu wurde durch die Gewalt der Umstände fortgeriffen, er selbst ward in das abenteuerliche Spielertreiben mit hineingezogen, und auf die Zufälle eines Roulette sezte er fein Leben ein."

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Dieser Grundgedanke: Alles ist damals Spiel, selbst Richelieu ist ein Spieler, leitet den Verfasser in der Schilderung des Lebens und Wirkens Richelieu's vom Jahre 1629 an bis zu seinem Tode. Die Leiden dieses großen Geschäftsmannes, der die Staatsmaschine unter heftigen Erschütterungen leiten sollte, waren fürchterlich, und man begreift es wohl, daß er keine gesunde Stunde haben konnte. „Die Unzulänglichkeit der Hülfsquellen, die fortwährende Anstrengung, Geld zu schaffen, die Intriguen des Hofes, der Krieg der Weiber, die Theologen, die Schrifsteller, die Dichter seßten ihm nicht wenig Sein größtes Uebel aber war der König, der ihm jeden Augenblick entschlüpfen konnte. Mit 28 Jahren war Ludwig XIII. ein Sterbender, dessen Hinscheiden man stündlich erwarten konnte. So bildeten der König und der Kardinal eine sonderbare Verbindung zweier Kranken. Der König hätte das Königreich für verloren gehalten, wenn ihm Richelieu gefehlt hätte; Richelieu wußte, daß, wenn der König sterbe, er nicht zwei Tage mehr zu leben habe. Und gerade deshalb mochte er dem düsteren, mißtrauischen, böswilligen Könige gefallen, der ihn durchaus nicht liebte, aber sich immer sagen konnte:, ,,Sterbe ich, so kommt dieser Mensch an den Galgen". In diesem Verhältnisse liegt das Geheimniß, daß sich Richelieu troh aller Anfeindungen auf seinem Posten erhielt.

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"Der Sieger von La Rochelle, dem lezten Bollwerke der Hugenotten, verband sich mit Gustav Adolph zum Beistande der Protestanten in Deutschland. Das Räthsel löst die Einsicht in die damaligen politischen Verhältnisse. Am 17. Juli 1630 war Mantua in die Hände der Kaiserlichen gekommen, und im April 1631 schließt Riche lieu den Traktat mit Gustav Adolph. - Das Gefühl der Ohnmacht ist allgemein und prägt der Zeit den düsteren Charakter auf, der sie kennzeichnet. Jeder fühlt deutlich, daß etwas stirbt, weiß aber nicht, was an dessen Stelle kommt. Nur zwei Männer erscheinen in dieser traurigen Welt mit einer unbefangenen Heiterkeit: Galilei und Gustav Adolph. Galileo Galilei, Sohn eines Musikers und selbst Musiker, zugleich Schüler der größten Anatomen in Padua, die ihm eine gründliche Verachtung der Autorität beibringen, legte sich auf die Mathematik. In der Literatur ist Ariost sein Liebling; Tasso und die Heuler (les pleureurs) läßt er unbeachtet. Eines Morgens fallen ihm zwei Dinge in die Hände: ein dickes Buch aus Deutschland und ein Spielzeug aus Holland. Das Buch ist die Astronomia nova" von Kepler und das Spielzeug ein ergöglicher Versuch, die Gegen stände mit einem Doppelglase zu vergrößern. Kepler hatte die Bewegung des Planeten gefunden, den Kopernikus bestätigt, Newton geahnt. Galilei mittelst seines neuen Werkzeuges, das er sich ein richtete, folgt der Stimme Kepler's, und hinter deffen Planeten sieht er in die Tiefen des Himmels. Voll Erstaunen und Entzücken verkündet er mit göttlichem Lächeln der Welt die Freude feiner Entdeckung. Er schreibt ein Tagebuch: der Bote der Gestirne, und seine berühmten Dialoge; kein hochtönendes und emphatisches Geschwäß; die Anmuth Voltaire's vereint mit der heitersten Milde. Das ist wahre Größe!

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Dasselbe finden wir in dem Meister der Kriegskunst, in Gustav Adolph, dem Schöpfer des modernen Krieges. Will man seinen eige nen Worten glauben, daß er die Kunft von einem Franzosen, La Gardie, gelernt habe, so bleibt er doch wenigstens der Held, der von ihr Anwendung machte, und zwar ein wahrer Held, deffen Milde und unerschütterliche Sanftmuth selbst seine besiegten Feinde priesen. Was am meisten an ihm zu bewundern ist, das ist seine wunderbare Heiter keit, sein Lächeln mitten im Kampfe. Er hat nicht das mürrische Wesen Coligny's, nicht den kalten Ernst des Schweigsamen (Wilhelm von Dranien), nicht die wilde Rauhheit des Prinzen Moriß; im Gegentheil, eine heitere Laune und Züge von heroischer Gutmüthigkeit. Seit 1625 hatten Jacob la Gardie und Gustas Adolph die Fahne der militärischen Reform in Schweden aufgepflanzt. Es gab vor ihnen drei herrschende Systeme: das türkische, auf dem stürmischen Angriff der leichten Kavallerie, das öfterreichische, auf der Wucht der schweren Reiterei, und das holländische, auf dem Schuß der Mauern und der kunstgerechten Befestigung beruhend. Diesen dreien seßten die schwedischen Reformatoren die Mauer von Menschen, die Brust des Kriegers, die feststehende Infanterie entgegen. Weit entfernt, dichte Carré's zu bilden, wie die Spanier und Janitscharen, stellten fie die Leute in einfachen Reihen auf, indem sie sagten:,,Durchbricht euch auch die Kavallerie, laßt sie nur durch und schließt euch zwei Schritte davon wieder!" Dieses außerordentliche Vertrauen auf die moralische Kraft hatte ihre Wirkung: tapfere Krieger verließen ein

lichere Dienste, um an dem kühnen Kampfe theilzunehmen, in

welchem das Herz der Schußwall war. — Auf solche Weise offenbarte sich im Kriege das wahre moderne Genie, das die Sinne und die Flachheit des gemeinen Verstandes, den man oft den gesunden Sinn nennt, und der doch häufig nichts ist als Routine, verachtet. Die Sinne, der gemeine Menschenverstand, hatten gesagt, daß der Himmel ein Gewölbe von Krystall mit goldenen Nägeln sei. Galilei glaubte nicht daran. Er erkannte und bewies, daß der Himmel ein unendlicher Abgrund sei. Dieselben Sinne sagten: Das Sicherste im Kriege ist, sich hinter Panzern und Mauern zu schüßen. Gustav Adolph glaubte nicht daran; er erkannte, daß die wahre Mauer der Mann sei, der festen Stand hält, der, befreit von allen Schußwaffen, mit denen man sich sonst wie in einem Schneckenhause fortschleppte, fich mit Leichtigkeit zu bewegen im Stande ist. Darin liegt das Geheimniß seiner Siege. Gustav Adolph starb nicht umsonst; er vollführte das große Werk, zu dem er geboren war. Er schnitt dem Drachen den Kopf ab, der Soldatenherrschaft, welche die Civilisation vernichtet hätte. Er hätte noch mehr gethan, wenn er noch einige Jahre länger gelebt hätte. Er würde nicht blos den Frieden erzwungen, sondern auch ein moralisches Resultat von ungeheurer Bedeutung geliefert haben: er wäre dem tief gesunkenen Europa ein großes, mächtiges und fruchtbares Ideal geworden, eine Morgenröthe in der Zeit des Dunkels. Jeder hätte sich an ihm erhoben; denn der wahre held giebt auch von der Ferne aus, auch da, wo er nicht thätig auftritt, schon durch sein bloßes Dasein Allen die Richtung nach oben. (Schluß folgt.)

Schiller's Leben, nach Emil Palleske.
(Schluß.)

Dem Herzoge war unterdeß die ohne Urlaub unternommene Reife verrathen worden. Er läßt Schiller zu sich kommen, giebt ihm den strengsten Verweis und schickt ihn 14 Tage in Arrest. Nach der Entlassung aus dem Arrest wird dem Dichter der Aufenthalt in Stuttgart unerträglich. Da trifft ein gnädiger" Brief von Dalberg ein voll neuer Zusicherungen. Schiller erwiedert: „Wenn E. E. glauben, daß sich meine Aussichten, zu Ihnen zu kommen, möglich machen ließen, so wäre meine einzige Bitte, solche zu beschleunigen." Wieder verfließen vierzehn Tage. Dalberg thut nichts. Da endlich wird die Flucht beschlossen. Am 19. September kommt Schiller in Begleitung seines Freundes Streicher nach Mannheim. Dalberg ist abwesend. Die Mittel der beiden jungen Leute sind bald erschöpft, und die Furcht vor Verfolgung treibt sie nach Frankfurt. Von hier aus schreibt Schiller an Dalberg, stellt ihm seine bedrängte Lage vor und bittet um einen Vorschuß von etwa 300 Gulden auf den „Fiesko", den er binnen drei Wochen theaterfertig zu liefern verspricht. Dalberg antwortet: er könne keinen Vorschuß leisten, weil „Fiesko“ in seiner jezigen Gestalt für das Theater nicht brauchbar sei; die Umarbeitung müsse erst geschehen sein, bevor er sich weiter erklären könne. „Der verlegte Künstler“, äußert sich der Verfasser, „schwieg hier in dem zertretenen Menschen. Streicher erzählt, daß er nicht die geringste Klage hören ließ. Kein hartes und heftiges Wort kam über seine Lippen, so wenig er sich vor seinem jungen Freunde zu scheuen brauchte. Dies braucht jedoch den Leser nicht zurückzuhalten, seine Entrüstung in so starken Ausdrücken, als es ihm beliebt, auszusprechen. Abgesehen davon, daß Dalberg reich war, so hatten die „Räuber“ seinem Theater soviel eingebracht, daß Schiller nach den Rechtsbegriffen unserer heutigen Intendanzen blos sein Eigenthum forderte. Es ist jedoch eine wahr. haft tröstliche Aussicht, daß mit dem Ruhme des Genius die Schande seiner Quäler wächst. Was das Schlimmste war: der edle Jüngling, der unter den Thränen brennender Scham feinen Stolz bis zur schmählichen Bitte herabgewürdigt hatte und in diesem Stolze tödtlich verwundet war, er war an seinen Quäler gefefsfelt und mußte in diesem Augenblicke daran denken, mit ihm zu unterhandeln.“

Schiller bezieht mit seinem Freunde Streicher eine Wohnung in dem Städtchen Oggersheim bei Mannheim, um unter Entbehrungen die verlangte Umarbeitung Fiesto's vorzunehmen. Das Stück wird eingereicht. Die Entscheidung zögert. Streicher's Mittel, die bisher hatten vorhalten müssen, sind aufgezehrt. Die Noth ist schon so groß geworden, daß Schiller seine Uhr verkaufen muß. Da endlich, gegen Ende November, erfolgt die Entscheidung Dalberg's, welche kurz be= sagt: daß dieses Trauerspiel auch in der vorliegenden Umarbeitung nicht brauchbar sei, folglich dasselbe auch nicht angenommen oder etwas dafür vergütigt werden könne.,,So zerschmetternd für Schiller ein Ausspruch sein mußte, der die Hoffnung, eine kaum nennenswerthe, doch ihn drückende Schuld von sich zu entfernen, auf lange Zeit zer riß so sehr er es auch bereute, daß er sich durch täuschende Ver sprechungen, durch schmeichelnde, leere, glatte, hohle Worte hatte aufreizen laffen, von Stuttgart zu entfliehen so ungewöhnlich es ihm scheinen mochte, daß man ihn zum Umarbeiten seines Stückes vers

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