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No 35.

für die

Bestellungen werden in jeder deutschen Buchhandlung (in Berlin bei Beit u. Comp., Jägerstraße Nr. 25, und beim Spediteur Neumann, Niederwallfir. Nr. 21), sowie von allen königl. Post-Aemtern, angenommen.

Literatur des Auslandes.

England.

Berlin, Dienstag den 23. März.

Korrespondenz-Berichte aus London.

Deutsche Ansichten in England und englische Ansichten in Deutschland.

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Es schneit und stürmt hier, wie in Sibirien, und wir haben Anfang März. Mitten im Winter war es oft lästig warm, und die Krokus und Hyazinthen guckten aus der Erde heraus in meinem Gärtchen mitten im Januar. Begreife dieses Klima und die Menschen darauf, wer es kann und wer sie nicht kennt; wir hier zu Lande werden desto weniger aus ihnen klug, je länger wir uns mit ihnen abgeben. Es geht mir mit den Engländern wie dem alten Doktor Heim in Berlin, der einem Kranken ins Gesicht gesagt hatte, daß er morgen todt sein werde. Und derselbe Kranke hatte hernach die Frechheit, dem Doktor zum Poffen noch ein paar Jahrzehnde vor den Augen herumzulaufen und just recht oft zu begegnen. Ich habe zwar den Tod nie auf Tag und Stunde bestimmt prophezeit, aber die Leute werfen mir doch oft vor, daß ich einen kranken Mann“ in ihnen sähe, der es nicht mehr lange machen werde. Und nun haben sie Indien wieder erobert, den furchtbaren Yeh gefangen genommen und sogar Palmerston gestürzt. Alle drei waren mächtige Feinde Englands, und da liegen fie im Staube vor der Freiheit und Kraft Englands! England soll auf dem Wege des Verfalls sein? Lächerlich! Lächerlich! Und hat es nicht im Innern freie, kräftige Rechtspflege, die alle Unmoralitäten und Verbrechen mit jugendlicher Kraft zerschmettert? Hat es nicht die Direktoren der Britischen Bank, die ein paar Millionen Pfund, welche anderen Leuten gehörten, verjubelten, durch einen vierzehntägigen Prozeß für 25,000 Pfund, welche vom Lande, also auch von den beraubten Leuten, bezahlt werden, zum Theil zu einem ganzen Monat Gefängniß und einen Schuldigen, Mr. Stapleton, zu einem ganzen Shilling Strafe verurtheilt? Der Anwalt Mr. Stapleton's, Sir F. Kelly, bekam ein Honorar von 2000 Guineen und täglich während des Prozesses 100 Guineen,,refreshers" für Erfrischungen. Deffen beide Secretaire bekamen der erstere 100, der zweite 50 Guineen Honorar und außerdem täglich 20 und 5 Pfund ,, refreshers". Dafür mußte nun aber auch der verurtheilte Mr. Stapleton büßen und einen ganzen Shilling unbarmherzig, ohne Gnade und Aufschub, zahlen. Mr. Brown, Parlamentsmitglied, der dreiundfiebzigtausend Pfund aus der Bank für seine ehrenvollen PrivatVergnügungen,, entnommen" hatte, muß einen ganzen Monat im Gefängniß, getrennt von seinen Lieben und den Resten dieser dreiundsiebzigtausend Pfund, schmachten. Sie bestrafen zwar einen armen Jungen, dessen Hunger nicht einmal er selbst ein Stück Brod stiehlt, härter; aber das macht blos die Civilisation, der Respekt vor sonstigen Privattugenden der Bank-Direktoren und Parlaments-Mitglieder. Warum ist der Junge hungrig im reichsten Lande der Welt? Das ist die Schuld, die in ihm so hart bestraft wird. Das Geset ist hier ja kein todter Buchstabe, sondern respektabel, den Umständen Rechnung tragend, lebendig. Welch ein brillantes Geschäft, dieser Britische Bank-Direktoren- Prozeß! Erst bringen die Herren goldene Millionen aus den Händen kleiner Leute, wo das Gold gar nicht zur Bedeutung und Wirksamkeit kommen konnte in dieser kleinlichen Zer splitterung, in die Hände weniger, großer, unternehmender Geister und dann noch 25,000 Pfund aus Land und Leuten hundert und tausendguineenweise in wenige große Juristenhände, die täglich hundert Guineen zu Erfrischungen allein ausgeben können und so alle Erfrischungs-Geschäfte unmittelbar oder mittelbar erfrischen und so frisches Leben in Handel und Wandel aufrecht erhalten.

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1858.

likate Frage?" Nicht blos Männer der Tugend und des Gesezes sprachen sich darüber öffentlich mit Schonung und Humanität aus; die Times räumte auch Dußende ihrer kostbaren Spalten den aktiven, ,,unglücklichen Damen" selbst ein, um sie darin zu rechtfertigen, die Geschichten ihres Falles, die Art, wie sie ihr Gewerbe mit Anstand und Deforum treiben und wie die Gesezgeber und die Polizei gegen ihren,,Stand" verfahren müßten, auseinanderzusehen. Diese Artikel von Damen aus der aktiven Innung selbst waren zum Theil meisterhaft stilisirt und verriethen hohe sprachliche, literarische und ästhetische Bildung. In solcher Form durfte sich eine Lebens- und Gewerbsweise, die von roheren Völkern schlechtweg als Laster unterdrückt oder in die verstecktesten Winkel gewiesen wird, ganz frei und gründlich aussprechen. Die Heldinnen dieses Gewerbes durften selbst öffentlich das Wort führen und für sich Parteifinn gegen gemeine Polizei und rohes Geseß in Anspruch nehmen. Nur die Konkurrenz des Auslandes abschaffen, darauf lief's hinaus. Die von Frankreich, Belgien, Deutschland u. f. w. importirten Damen, die den Töchtern Englands in ihrer dezenten, feinen, auf Preise haltenden, respektablen Betriebsweise Konkurrenz machen, diese allein sind schmußig, frech billig und ein Skandal für die Ehre und die Civilisation Englands. Weg mit ihnen, und Alles ist gut. Mehr kann und darf und soll das Gefeß und die Polizei nicht thun in der ,,delikaten Frage". In dieser Weise führte die Times das Wort für das delikate Ge= werbe und unterstüßte es durch eine Reihe glänzender Artikel aus der Feder hoher, gebildetster Meisterinnen dieses Vestalinnen-Geschlechts, das in sich selbst schön und tugendhaft, dezent und bescheiden, respektabel und unentbehrlich ist, nur muß es ein Privilegium englischer Schönheiten werden, da an der ganzen delikaten Industrie nichts auszusehen ist, als die schmuzige, Preise verderbende Konkurrenz importirter Damen nicht anglosächsischer Raçe. Man denke sich diese nationale Ehrensache übersezt in deutsche Verhältnisse und verhältnißmäßig ebenso öffentlich, wie in der Times, in Onkel Spener øder Tante Voß vertreten. Es ist undenkbar. Die Deutschen sind noch nicht so weit, nicht einmal die Berliner.

Das nenn' ich National-Gefühl, selbst diesen ziemlich kosmopolitisch gesinnten, delikaten Gewerbs-Stand auf echtes, anglosächsisches Blut beschränkt wissen zu wollen, obgleich die Parlaments-Mitglieder und deren Standesgenossen die fremde Konkurrenz" bedeutend begünstigen und, wie öfter erwiesen ward, sich es bedeutende Summer kosten lassen, daß die etwas schwierige und kostspielige Einfuhr vom Auslande nicht in Verfall gerathe. Sehr unpatriotisch just von diesen Herren, die Superiorität der anglo-sächsischen Race nicht auch in diesem Punkte zu würdigen, um so patriotischer von der Times, gegen das Intereffe selbst des Parlaments das konkurrenzgekränkte Gewerbe ihrer,,unglücklichen“ Klientinnen theils durch,,persönlichen Schuß", theils durch rührende Briefe von Damen dieses Standes wahrzunehmen und drohende Polizeihände von diesen zarten Industriellen abzuwehren.

Das sieht, im Ernste gesprochen, ungemein sittlich faul und verfallen aus; aber dabei kann man der guten Gesellschaft Englands wieder nicht vorwerfen, daß sie nicht sehr streng, ja peinlich auf Sittlichkeit und Dekorum halte.,,Wer erklärt mir, Derindur, diesen Zwiespalt der Natur?" Vieles ist mit der ungemein kultivirten Hypokrisie und Nationaltugend der Scheinheiligkeit (,, save appearances") erklärt; aber in der großen Maffe der Mittel- und höheren Klaffen ist unstreitig und unverkennbar eine kaltblütige, ftrenge, philiströse Sittlichkeit durchaus vorherrschend. Wie konnte die Times daher die delikate Frage so liberal und national behandeln und die rührendften Briefe aus dem Lager der Prostitution felbst veröffentlichen, ohne gefteinigt zu werden? Etwas Aehnliches fragte ich einen Gentleman vom Stabe der Times. 3 nun, die jungen Damen lefen diese Artikel just am liebsten", antwortete er ganz heiter. ?

Das widerspricht allerdings wieder sehr der sonst unverkennbaren Sittlichkeit und erklärt sich vielleicht einigermaßen durch die nicht leicht in Versuchung gerathende Kaltblütigkeit der Engländerinnen

und aus der Thatsache, daß die englischen Zeitungen, wie die engli schen Betten, zweischläfrig sind. Die eine Hälfte ist für Papa und Bruder, die andere mit den Mord- und Verführungs-Geschichten und den Briefen der „Unglücklichen“ für das schöne Geschlecht. Schon vor mehreren Jahren hörte ich die Anekdote, daß eine Dame der anderen einen besonders grausamen Mord in der Times mit den Worten empfohlen habe: „, A very nice murder!"

Doch wer wird England erklären, begreifen wollen? Glücklich find diejenigen, die', wie gebildete Deutsche jezt mit ihren Hoffnungen, sich eine bestimmte, dogmatische Vorstellung von England machen und ihre eigenen Wünsche und Hoffnungen hierher verlegen, um sie womöglich zu importiren. Wir ,,Fremden“ hier zu Lande fehen vielleicht den Wald vor Bäumen nicht oder wollen ihn nicht sehen. Thatsache ist, daß sich kein Deutscher, wie überhaupt kein Ausländer, so leicht mit England familiär macht. Wir sind und bleiben barbarisch und verstehen, lieben diese Civilisation, dieses faktische England im Detail nicht. Je länger wir in England leben, desto mehr stößt es uns ab. Dies gilt nicht etwa von einigen verlaufenen Subjekten, welche die Trauben blos deshalb sauer nennen, weil sie ihnen zu hoch hängen, sondern meines ziemlich detaillirten Wissens in dieser Sphäre von allen Deutschen, die in allen Theilen Londons ihre eigenen Vereine, Gesellschaften, Kneipen und Schulen haben. Nehmen wir das höchste Deutschland in London, physisch und gesellschaftlich das höchste, das auf Dänemarkhill im Süden von Camberwell weit draußen, schon in der Nähe des Krystall-Palastes.

Das ist eine deutsche Kolonie von lauter großen, deutschen Kaufleuten, die selbst nach englischem Maßstabe zum Theil groß und reich sind und in einem Tage mehr Geld machen, als zur Deckung der Schulden gehört haben würde, an denen unser literarischer Gigant Lessing zeitlebens litt. Diese Deutschen auf Dänemarkhill und überhaupt in Camberwell fahren zum Theil seit 20 Jahren alle Tage in die City und machen dort seit 20 Jahren täglich mit den Engländern Geschäfte. Aber kein Einziger geht mit einem Engländer um. Sie wollten auch deutsch essen und trinken, und dazu brauchten sie deutsche Köchinnen.

Sie sehnten sich auch nach geistiger Nahrung aus Deutschland und gingen bis zur anderen Extremität Londons, um sich diese zu verschaffen. In dieser entgegengesehten Extremität Londons wohnt Kinkel, der zu acht Vorträgen über deutsche Literatur von den Deutschen in Camberwell engagirt ward. Kaum waren diese zu Ende, als er zu einem zweiten Cyklus von acht Vorträgen über die neue und neueste deutsche Literatur gewonnen ward. Diese genossen nicht blos Deutsche in Camberwell, sondern aus den fernsten Gegenden Londons fuhren auch andere Deutsche mit Hülfe zweier langen Omnibuslinien herbei, um sich an deutscher Literatur und dem lebendigen, freien Vortrage des für diese Sphäre ungemein von Natur und durch Studium begünstigten Redners zu laben. Er sprach stets so frisch und flüssig, so sonor und oratorisch schön über die Vorzüge der neuesten deutschen Literatur und Poesie und rettete sie siegreich vor der sehr verbreiteten Annahme, daßinach Schiller und Goethe eine Bewegung abwärts oder gar ein Verfall eingetreten sei. Weiter will ich mich auf diese Vorträge nicht einlassen. Ich notire fie blos als ein Zeichen und einen Beweis von der Stellung und Stimmung der Deutschen in London und bemerke nur noch, daß dem Redner diese 16 Vorträge über 1000 Thaler Netto Honorar einbrachten. Jeder Besucher bezahlte für jeden Cyklus von acht Vorlesungen ein Pfund. Das erste Mal hatten über siebzig Theilnehmer ihr Pfund gezahlt, das zweite Mal über neunzig. Dies gab mit einer ziemlichen Anzahl von Engländern jedesmal eine interessante deutsche Gesellschaft in Camberwell-Hall. Außerdem hielt Kinkel in verschiedenen deutschen Arbeiter-Vereinen, die zu diesem Zwecke auch ansehnliche Honorare zusammengebracht hatten, mehrere Cyklen von Vorlesungen über deutsche Geschichte, Literatur u. f. w.

Die deutschen Kaufleute in Camberwell haben sich neuerdings auch eine besondere Kirche bauen lassen und einen Prediger aus Deutschland berufen. Dies und die vielen deutschen Gesellschaftsund Gesangs-Vereine, der Londoner deutsche Männerchor, die stets zunehmenden deutschen Bücher, Journale und Zeitungen, die verlangt und gekauft werden, zeigen sehr anschaulich, daß die Deutschen in ihrer eigenen Weise von Leben, Kultur und Literatur die wahre Befriedigung höherer Bedürfnisse suchen und finden, die durch jahrelanges Leben und Wirken in England und mit den Engländern nicht englifirt, nicht durch England ersetzt werden können. Früher begegnete man wohl hier und da einem Deutschen in England, der es nicht gern sah, wenn man ihn für einen Deutschen hielt und diese Antecedentien durch ein angenommenes Englischthum zu verstecken suchte; aber das hat so sehr aufgehört, daß vielmehr das Gegentheil immer allgemeiner und entschiedener hervortrittt. Und so haben wir das interessante Phänomen, daß die Deutschen in Deutschland sich durch Englisirung zu fördern, zu reformiren, zu befreien hoffen, während die Deutschen

in England, im vollen Genusse englischer Freiheiten und Vorzüge, fich davon abgestoßen fühlen und in Importirung und Kultivirung des deutschen Wesens Ersatz für die Verluste suchen, die ihnen das Leben im Auslande auferlegt. Die beliebte Wendung, die man in deutschen Rügen gegen die verschworenen deutschen Flüchtlinge so oft findet, daß nur eben diese Flüchtlinge in London so giftig gegen England seien, weil sie hier nicht Minister werden und überhaupt zu keiner Anerkennung in England kommen könnten, trifft also die Sache durchaus nicht. Unter den deutschen Kaufleuten in Camberwell ist meines Wissens kein einziger Flüchtling. Sie sind größtentheils seit Jahrzehenden hier etablirt, außerdem nur sehr mäßig liberal und ~ durchaus keine Freunde von Flüchtlingen. Ihre Deutschthümlichkeit und ihre gänzliche Abschließung von englischem Wesen beruht also auf ganz anderen Motiven als denen, die man in Deutschland so gern den Flüchtlingen unterschiebt. Wie sie da in Camberwell-Hall, ehe Kinkel kam, so lustig nach allen Seiten plauderten, lachten und Hände schüttelten! Besonders eine hellblonde, blauäugige Blondine; diese schien immerwährend nach allen Seiten einen lustigen Einfall zu haben, so daß sie immer gleichzeitig mit einem Dußend zu scherzen und zu lachen schien. Sechstausend versammelte Engländer plaudern und scherzen nicht so viel, als diese etwa 150 Deutsche in Camberwell-Hall. In dieser einzigen oberflächlichen Differenz liegt zugleich das ganze Geheimniß der Abstoßung zwischen englischem und deutschem Wesen. Die Engländer sind, wenn anständig, gesellschaftlich unerträglich steif und langweilig; wenn unerzogen und natürlich, unerträglich roh. In beiden Fällen hält es der Deutsche nicht unter ihnen aus. Wenn sie lustig sind, haben sie immer zu viel schwere Biere, Spirituosen und spiritusreiche Weine getrunken. Dann brüllen sie und glauben ungemein interessant zu sein, wenn sie die Damen, die manchmal nach Tische, wenn das Trinken eigentlich losgeht, noch da bleiben (Stil ist, daß sie sich entfernen und der Herrengesellschaft vollends allen Reiz nehmen), in die Taillen kneifen und dazu kichern und Zähne zeigen. Diese ungraziöfe, aus schweren Speisen und noch schwereren Getränken steigende Lustigkeit ist noch schlimmer, als die nüchterne, respektable Gesellschaft, die, oft mit den nobelsten Schönheiten beiderlei Geschlechts und den herrlichsten Keimen von Grazie, Frische, Lebenslust, nicht zum Worte, nicht zum Werke kommen kann, weil jedes Mitglied der respektablen Gesellschaft unter tausenderlei Paragraphen des Respektabilitätsgefeßes schmachtet. Die Deutschen klagen mit Recht über eine zu große Fürsorge der Polizei und des Gesezes. Aber diese Fesseln sind Lilliputfäden gegen die Labyrinthe von schweren Ketten, welche sich die gute Gesellschaft in England selbst ange schmiedet.

Alles ist verformelt, verschichtet, verklausulirt. Die Stiefel, die Handschuhe, das Halstuch, jede Bewegung, jedes Wort Alles ist für Morgen, Mittag, Abend, für jede Schicht und Art von Gesellschaft vorgeschrieben, aber fast in jedem unsichtbaren und dunkel despotischen Paragraphen unsicher, so daß sich fast Jeder mit Jedem fortwährend verlegen fühlt. Verlegungen dieser Paragraphen, Beleidigungen dieser furchtbaren geheimen Polizei fallen nicht ins Komische, wie bei uns, sondern verderben dem Schuldigen oft die ganze Carrière, kosten ihm die ganze Existenz in einer bestimmten Gesellschaftsschicht. Dies giebt das furchtbare, graue, einfilbig lispeInde Gespenst der englischen guten Gesellschaft, das auch die emanzipirten Engländer erkannt haben und als ,,social boredom" denunziren und verfolgen. Außer diesem social boredom giebt es noch andere Vogelscheuchen und Quälgeister der Gesellschaft und sozialer Beziehungen, besonders Snobbism und Toadyism. Der Snobbismus®), wie wir das Ungeheuer übersehen wollen, ist zuerst von Thackeray durch die be rühmten,,Snob Papers" enthüllt, entlarvt, charakterisirt und sprachlich gewürzt worden. Man hat in jedem Lande etwas von ,,Vornehmthuerei", ein Wort, das eine schwache, annähernde Vorstellung davon giebt, aber diese durchgehende, in festen, stereotypen Formen ausgeprägte, doppelte Vornehmthuerei ist nur in England zuhause. Der snob ist hochnäsig, übermüthig, verachtungsvoll, gewissenlos gegen Alles und Jedes, was in Macht und Moneten unter ihm steht; friechend, demüthig, hochachtungsvoll, zärtlich, fein und zuvorkommend gegen jede gesellschaftliche und pekuniäre Ueberlegenheit. Der ekelhafteste Grad der umgekehrten Vornehmthuerei in allen seinen tausenderlei Manifestationen heißt toadyism. Die Kröte, toad, gilt als niedrigste ekelhafteste, kriechendste, lichtscheueste Kreatur; der toadyism bezeichnet dieselben servilen, niedrigen Eigenschaften in der euglischen Gesellschaft, besonders ehrloses, gefühlloses Verhalten gegen Verbal- und Real-Injurien aller Höherstehenden, von denen man Protection, Empfehlung, Beförderung erkriechen und erschleichen will, überhaupt die niedrigsten Grade freiwilligen Servilismus. Der allgemein und un

*) „,Snob ", ven ignobilis, wie der Gegensah,nob” ven nobilis, find ursprünglich Studenten. Ausdrücke und könnten etwa annähernd mit,, Kameel" und forsches Haus“,,,flotter Kerl" überseßt werden, obgleich für Lehteren eintreten kann. der neuerdings stark hervortretende,, fast young man'

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beschränkt über die gute Gesellschaft herrschende Despot heißt,,respectability". Die Respektabilität ist deshalb in nichtenglischen Augen so furchtbar gehässig und häßlich, weil sie sich blos auf Aeußerlichkeiten, auf Wohnung, Kleidung, Gegend des Hauses, Haltung, Benehmen, Rang, Stand und Geld bezieht, wobei der Gauner, der nicht transportirt wird, der Dieb, der nicht alte Taue zupfen muß, der Mörder, der nicht gehangen wird, respektabel bleiben können. Die Respekta bilität verbietet mehr Gutes und Schönes, als jemals irgendwo die Polizei Böses und Häßliches (zuweilen auch ganz Gutes) mit 1 bis 10 Thaler Strafe belegen kann. Die Respektabilität verbietet fast alle Regungen des Herzens desto strenger, je mehr sie sich den Erdesto strenger, je mehr sie sich den Ertremen herzlichen Lachens oder herzlichen Weinens nähern, außerdem eine Menge der gleichgültigsten Dinge, wie Selbsteinkaufen für Da men oder baares Bezahlen, Tragen eines Packets, Uebergang an Straßenecken auf der Hypothenuse, statt auf den beiden Katheten 2c. Sie verbietet, beiläufig gesagt, auch alle Arten von weiblichen Haud arbeiten und tausenderlei unmittelbare, schöne Regungen des Herzens. Ein englisches Dienstmädchen in einer deutschen Familie wurde von einer Zeit an plöglich ungebührlich und obstinat gegen die Dame des Hauses. Man konnte sich diese Sinnesänderung lange nicht erklären, bis der Hausherr endlich durch scharfe Untersuchung herausbekam, daß die Dame des Hauses, als sie einmal eine liebe Freundin kommen sah, ihr entgegensprang und selbst die Thür öffnete. Das war es, fie hatte selbst die Thür geöffnet. Der Respekt vor ihr war da hin und nicht wieder zu restauriren.

Dieser Respektabilitäts-Formalismus, Snobbismus, Toadyismus und wie die Unholde sonst heißen mögen, geben der englischen Gefellschaft im Detail, so schön und glänzend sie auch im Allgemeinen und in der Ferne aussehen mag, in den Augen der Deutschen etwas abstoßend Häßliches, Aengstliches, Kleinliches und grausam Langweiliges.

Aber die politischen Freiheiten, das constitutionelle Leben! Palmerston, seit funfzig Jahren der Schrecken des Auslandes, Vernichter Napoleon's und seines ganzen Geschlechts für ewige Zeiten, schlägt aus Furcht vor dem etwas bedrohlich krähenden gallischen Hahne eine Aenderung englischer Geseze vor, durch welche auswärtige Fürsten strenger beschüßt werden sollen, als die Königin von England. Das Land fühlt sich empört. Palmerston stürzt. Große Ministerkrisis. Aufsehen in ganz Europa über die Macht der öffentlichen Meinung in England. Derby tritt auf und erklärt, er werde die Politik seines edlen Vorgängers fortseßen und hier und da etwas verschärfen. Allgemeiner Glaube, daß sich Derby so nicht lange werde halten können. Allgemeiner Glaube, daß ihm kein Anderer folgen könne, als Palmerston. Um dieses constitutionelle Leben, das sich Menschenalter lang nur um ein Paar Familiengruppen dreht, brauchen wir England wohl auch nicht zu beneiden. Es dreht sich nur und bewegt sich nicht vorwärts. Diese constitutionelle Drehkrankheit ist auf die Dauer sehr langweilig und erregt Schwindel unter den aktiven Darstellern, wie unter den Zuschauern. Wenn es sich wenig stens nur um große Prinzipien und Ideen, oder um Landes-Interessen drehte! Aber es schwindelt immer um ein paar Familien und deren Anhängsel herum. Das ist auf die Dauer und in der Nähe grausam mit anzusehen, mag die Ferne dazu sagen, was sie will.

Dieser überall herrschende Formalismus, abgefächert in Geldund Rangschichten, vergiftet und zerdrückt den Genius und läßt kein geistiges Leben gedeihen. In der Literatur zeigt er sich kaum noch anders, als in der Gestalt der Satire. Die englischen Genies, die sich nicht durch Humor und Satire dagegen retten konnten, gingen in verschiedenen Arten daran zu Grunde. Byron, Shelley u. f. w. hiel ten sich durch äußerlich günstige Stellungen aufrecht dagegen, ihre Muse verlor aber im Kampfe die Schönheit, Grazie, sogar oft den Verstand. Shelley wurde ganz und gar ein Zerrbild. Sein Genius erboste und erbitterte sich so fanatisch gegen diesen englischen Formalismus, daß er sich allein ihm in allen seinen Phasen entgegenstellte und seine Freude und Poesie darin fand, von allen möglichen bestehenden Formen das Gegentheil zu wollen und schön zu finden. Er ward deshalb zeitlebens verhöhnt und beschimpft und nur in immer troßigere Fragen und Antithefen gegen das Bestehende hineingetrieben. Ich behalte mir vor, auf Shelley und fein Verhältniß zur englischen Gesellschaft demnächst zurückzukommen.

Nord-Amerika.

Ein amerikanischer Bericht über den Krim - Feldzug.

Zur Zeit des Krim-Feldzuges wurden mehrere Offiziere der amerikanischen Armee durch das Militär-Departement der Vereinigten Staaten nach dem Kriegsschauplag beordert, um den Operationen gegen Sebastopol beizuwohnen, die sowohl jenseits als diesseits des Weltmeeres ein so allgemeines Interesse erregten. Wie es scheint, haben die Herren Amerikaner, troß ihres nationalen Wahlspruchs

,,Go ahead", fich bei dieser Gelegenheit etwas saumselig gezeigt, denn, obgleich die Belagerung bekanntlich fast ein Jahr dauerte, fa= men sie doch erst vor Sebastopol an, als der Malachov gefallen war und die Operationen thatsächtich ihr Ende erreicht hatten. Indessen unterließen sie nicht, einen Bericht an ihre Regiernng auszuarbeiten, der jezt im Druck erschienen") und, obwohl nur zum Theil auf persönliche Beobachtungen gegründet, manches Licht über die Ereignisse jenes denkwürdigen Feldzuges verbreitet und im Ganzen mit lobenswerther Unparteilichkeit abgefaßt ist.

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Der von Capitain M'Clellan redigirte Bericht fängt gleich mit der Landung der Alliirten beim Alten Fort an, giebt eine Beschreibung der Schlacht an der Alma, deren glückliches Resultat er mehr der schlecht gewählten Position der Russen, als dem strategischen Geschickt ihrer Gegner zuschreibt, und unterwirft dann den berühmten Flankenmarsch nach Balaklava einer strengen Kritik. Es sei schwer, zu bestimmen, wer hierbei die größten Fehler begangen habe — die Anglo-Franzosen, welche sich blindlings in das Land hineinwagten, oder die Nussen, welche ihre Unvorsichtigkeit nicht zu benutzen verstanden. Hiergegen wäre zu bemerken, daß die Alliirten den Angriff eines erst am Tage zuvor geschlagenen Feindes, dem sie noch dazu numerisch um das Doppelte überlegen waren, nicht sehr zu fürchten hatten, und ferner, daß ihnen nur die Wahl blieb, durch eine rasche Bewegung sich der Südseite von Sebastopol zu nähern, oder sich unverrichteter Dinge wieder einzuschiffen, da ein Angriff auf die stark befestigte Nordseite unmöglich schien. Ihr Hauptfehler bestand darin, daß sie nicht, nach dem unverhofft glücklichen Ausgang ihres gewagten Manövers, einen Handstreich gegen Süd-Sebastopol versuchten, ehe noch die Russen Zeit hatten, sich von der Betäubung zu erholen, in die sie das plögliche Erscheinen des Feindes gestürzt, und unter der genialen Leitung Todlebens so wirksame Vertheidigungsmaßregeln zu treffen.

Ueber die Affaire bei Balaklava bemerkt Capitain M'Clellan, daß die Russen an diesem Tage entscheidendere Erfolge errungen haben würden, wenn Liprandi sich mit größerer Energie benommen. hätte. Indessen hätten sie ihren Hauptzweck erreicht - die Operationen der Belagerer durch eine Diversion in ihrem Rücken zu verzögern. Ein ähnliches Urtheil fällt er über die Schlacht von Inkerman. Man muß nicht vergessen", sagt er, „daß die Ruffen die Schlacht hauptsächlich in der Absicht lieferten, einen Angriff auf die Stadt zu verhindern, was ihnen in der That auch, obwohl mit schwerem Verlust, gelang." Die Engländer, fügt er hinzu, hätten bei dieser Gelegenheit jenen standhaften und großartigen Muth ihres Volksstammes bewiesen, der so oft, in Siegen, wie in Niederlagen, die Thorheiten und die Ungeschicklichkeit ihrer Führer bemäntelt oder überwogen hat." Daß die Schlacht keinen ungünstigeren Ausgang nahm, verdankte man,,theils der britischen Tapferkeit, theils dem Irrthum Soimonov's (der seinen Fehler mit dem Leben büßte), theils dem prompten und richtigen Urtheil Bosquet's, vorzugsweise aber dem Umstande, daß Gortschakov seinen Scheinangriff nicht mit hinlänglicher Energie und Entschloffenheit ausführte." Bekanntlich legen die Russen auch den schlechten Erfolg ihres Angriffs auf die Stellungen der Alliirten an der Tschernaja dem Versehen oder Ungehorsam eines ihrer Generale (Read) zur Last; der Verfasser meint jedoch, daß die Tapferkeit der Angegriffenen wohl etwas damit zu thun haben mochte. In Bezug auf diese Schlacht bestätigt er auch ein Gerücht, von dem wir schon früher in Verbindung mit gewissen Vorfällen, die unseren Lesern noch erinnerlich sein werden, gehört hatten. Es ist gewiß", sagt er,,,daß den Alliirten aus einer neutralen Hauptstadt die Kunde zugegangen war, daß die Russen fie an dem oder um den 18. August anzugreifen beabsichtigten, obgleich der Angriffspunkt vielleicht nicht genau angegeben wurde."

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Der schließliche Sturm auf den Malachov wird von dem amerikanischen Bericht als eine „Ueberrumpelung“ bezeichnet. Die Franzosen drangen fast ohne Widerstand hinein, während die Engländer bei ihrem Angriff auf den Redan den Feind schon vorbereitet und jenen Punkt von bedeutenden Maffen besett fanden. Capitain M'Clellan spricht seine Ueberzeugung aus, daß, wenn man den englischen SturmKolonnen gehörige Soutiens nachgeschickt hätte, sie den Redan ebenso gut erobert haben würden, wie ihre Verbündeten den Malachov. Was die Stärke der Fortificationen und das angeblich in Sebastopol befindliche ungeheure Kriegsmaterial betrifft, so glaubt er nicht, daß sie die in Festungen ersten Ranges gewöhnlichen Verhältnisse überstiegen hätten. ,,Es möchte hier der Ort sein", fährt er fort,,,einen im Publikum verbreiteten Trugschluß zu erörtern, daß die Belagerung von Sebaftopol die Ueberlegenheit temporärer (Erd-) Befestigungen über permanente bewiesen habe. Man könnte leicht zeigen, daß sie nichts

* Report of the Secretary of War, communicating the Report of Captain George B. M'Clellan, one of the Officers sent to the Seat of War in Europe, in 1855 and 1856. Washington: Nicholson; London: Sampson Low & Co.

Derartiges beweise, sondern nur, daß temporäre Werkein den Händen einer tapferen und kriegskundigen Garnison eines längeren Widerstandes fähig sind, als man bisher vorausgesezt hat. Sie wurden angegriffen, wie man Feldschanzen nie zuvor angegriffen hatte, und vertheidigt, wie Feldschanzen nie zuvor vertheidigt worden. Der Hauptunterschied zwischen regelrecht gebauten, permanenten (zur Aushaltung einer Belagerung bestimmten) Fortificationen und temporären Werken liegt darin, daß leßtere selten einem Sturm unüberwindliche Hindernisse entgegenstellen, was mit ersteren stets der Fall ist. Außerdem sind permanente Werke geeignet, die Umgegend vollständiger zu beherrschen, und ihre Anlage ist sorgfältiger und gründlicher. Die Steinmauern, die einen Sturm unmöglich machen, können in der Entfernung nicht gesehen werden, und um sie zu zerstören, muß man Batterieen auf der Krönung des Glacis oder am Rande des Grabens errichten.“ Ueber das von den verbündeten Flotten gegen die Forts am Eingang des Hafens versuchte Bombardement sagt der Verfasser: „Die permanenten Befestigungen zum Schuße des Hafens von Sebastopol gegen einen von der See aus unternommenen Angriff zeig» ten sich, obwohl im Material und in den Einzelheiten der Construction unseren eigenen (amerikanischen), neuerdings ausgeführten Werken nachstehend, dem Zwecke vollständig gewachsen, für den fie bestimmt waren. In der That scheinen die Ereignisse im Stillen Meer, in der Ostsee und im Pontus die Richtigkeit der längst von allen einfichtsvollen Militärpersonen gehegten Ansicht außer Frage gestellt zu haben, daß gut gebaute Festungswerke den stärksten Flotten überlegen sind." Zugleich bemerkt der Verfasser, wie schon Andere vor ihm, daß zur Zeit der Segelschiffe eine erfolgreiche Belagerung von Sebastopol unmöglich gewesen wäre."

Dem Bericht über die Kriegs-Ereignisse folgen Notizen über die verschiedenen Armeen, mit welchen die amerikanischen Militärkommissare während ihrer Expedition nach der Krim in Berührung gekommen. Dem französischen Heere, und namentlich den Zouaven, werden die schmeichelhaftesten Lobsprüche ertheilt. Von allen Truppen, die ich je gesehen habe", schreibt M'Clellan sehr naiv,,,würde ich es für die größte Ehre halten, den Zouaven eine Niederlage beibringen zu helfen." Auch über die Sardinier spricht er sich mit lebhafter Bewunderung aus. Die,,Haltung der sardinischen Kavallerie war vortrefflich", bemerkt er,,,wie die ihrer ganzen Armee in der Krim; im Ganzen bot sogar die fardinische Armee einen schöneren Anblick dar, als ihre beiden Alliirten." Daß er an dem englischen Heerwesen Manches auszusehen findet, darf bei einem Amerikaner nicht befremden. Den Schluß machen Vorschläge zur Verbesserung der amerikanischen Militär-Einrichtungen, wobei die taktische Organisation der Ruffen und Desterreicher, das Transportsystem der Engländer und die Uniformirung der Franzosen als Muster empfohlen werden.

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Lithauen.

Notizen über die lithauische Literatur.

In den,, Erinnerungen aus einer Reise nach Lithauen" von Ferdinand Nowakowski,°) welche schäßbare Beiträge zur Kenntniß jenes Landes enthalten, befinden sich auch einige interessante Notizen über die Sprache und Literatur des lithauischen Volkes. Der Verfasser bemerkt, daß, troß der vollständigen Polonisirung Wilna's und der anderen großen Städte Lithauens, die alte Nationalsprache sich auf dem Lande nicht allein unter den niederen Klassen, sondern auch unter den Herren", den Adligen, erhalten hat, und tritt der Annahme entgegen, daß sie allmählich in Verfall gerathen und mit der Zeit aus fterben werde. Wo so viele tausend Menschen eine und dieselbe Sprache gebrauchen", sagt er,,,kann sie nie untergehen, sondern muß sich im Gegentheil mit der Zeit noch mehr ausbilden. In Lithauen namentlich hat es stets Männer gegeben und giebt es deren noch heute, die ihre Kräfte an die Bearbeitung der vaterländischen Sprache wenden, wie die allerdings nur selten erscheinenden, in derselben abgefaßten Schriften beweisen."

Die ersten Anfänge der lithauischen Literatur, fährt Herr Nowakowski fort, sind im preußischen Lithauen zu suchen, wo die heilige Schrift in die Volkssprache überseßt wurde. Die Namen „Die Namen der protestantischen Pastoren Bretkunas, Chilinski, Büttner und Quandt nehmen einen Ehrenplag in der lithauischen Literatur ein, und mit ihnen wird der Name Friedrich Wilhelm's I., Königs von Preußen, auf die entfernteste Nachwelt kommen. Unter seiner Regierung erhielt jedes Dorf eine Schule. In der Kreisschule zu Tilfit ward ein Lehrer der lithauischen Sprache angestellt und bei der Königsberger Universität ein lithauisches Seminar errichtet, aus welchem

*) Biblioteka Warszawska für 1857. Heft VII.

die Gelehrten Doneleitis, Ruhig, Mielcke u. A. hervorgingen. Auch bei uns (im ehemaligen polnischen Lithauen) wurde das Volk nicht vergessen; der Bischof von Samogitien, Fürst Giedroic, überseßte im Jahr 1816 das Neue Testament. Der Kanonikus Nikolaus Dauksza übertrug die Sittenlehre Jakob Wujek's ins Lithauische; zu den werthvollsten Schriften gehören auch die Predigten des Geistlichen Konstantin Szyrwið.

"In der Poesie gebührt die erste Stelle dem oben erwähnten Doneleitis, einem großen Nationaldichter († 1780). Sein Gedicht: ,,Die vier Jahreszeiten", ist ein treues Bild der Sitten, Gebräuche und Beschäftigungen des Landvolkes. Es wurde mit einer deutschen Ueberseßung von dem Profeffor der Theologie in Königsberg, v. Rhesa, 1818 herausgegeben. Rhesa veröffentlichte auch lithauische Volkslieder, dajnos; ferner zierten die lithauische Poesie: Simeon Staniewicz (durch seine Fabeln), der verstorbene Dionys Paszkiewicz, der Ueberfeßer von Virgil's „Aeneide“ und Verfasser vieler Satiren, und der Geistliche Drozdowski, deffen Hymnen noch jezt in allen lithauischen Kirchen gesungen werden.

,,Unter den Prosaikern verdienen Folgende Erwähnung: Joseph Nupeiko, Kanonikus von Samogitien, überseßte das Werk des polnischen Schriftstellers Chodzko: „Pan Jan von Swislocz"; der Geistliche Cyprian Nezabitowski überseßte das Buch des polnischen Naturforschers Kliuk „über die Bienen“; der erwähnte Simeon Staniewicz, der an einem Wörterbuch arbeitet, und der Geistliche Goilewicz. Die besten lithauischen Wörterbücher verdanken wir Mialck, Haack, Szyrwid und Nesselmann. Mit der Grammatik beschäftigten sich Klein, Schulzen, Haack, Nuhig, Mielcke und Kossakowski; außerdem gaben die Jesuiten schon im Jahr 1713 eine Sprachlehre unter dem Titel: Titel:,,Universitas linguarum Lithuanicarum" heraus, welche 1829 zu Wilna in einer polnischen Uebersezung erschien. Alle diese Werke sind schon nicht mehr im Buchhandel zu finden, und es wäre zu wünschen, daß einer von den Wilnaer Verlegern zum allgemeinen Besten neue Auflagen derselben veranstalten möchte, besonders der so unentbehrlichen Wörterbücher und Sprachlehren.

,,Von neueren Büchern ist, außer vielen Schriften religiösen Inhaltes, der alljährlich von L. Jwinski publizirte Kalender zu nennen. Eine Geschichte Lithauens, von dem verstorbenen Grafen Georg Plater in der Volkssprache geschrieben, ist gleichfalls veröffentlicht worden".

Mannigfaltiges.

Quatremère's Bibliothek. Die Bibliothek des verstor benen berühmten Orientalisten Etienne Quatremère ist eine der reic ften Privatbibliotheken unserer Zeit. Außer einer unübersehbaren Neihe meist seltenster und kostbarster Bücher, enthält sie nicht weniger als elfhundert orientalische Handschriften und darunter mehrere, wovon keine öffentliche Sammlung in Europa ein zweites Exemplar aufzuweisen hat. Der König von Bayern hatte eine Kommission von Fachmännern nach Paris gesandt, um die Sammlung zu prüfen und ihm darüber umständlichen Bericht zu erstatten. Auf diesen Bericht nun wurde die gesammte Bibliothek zu dem Preise von 350,000 Fr. für Bayern erworben. Mit einbegriffen in den Kauf sind die ungedruckten Schriften Quatremère's, worunter fünf Wörterbücher der arabischen, persischen, syrischen, koptischen und armenischen Sprache besonders erwähnenswerth sind. Ein französisches Blatt (La Presse) fagt:,,Es läßt sich denken, daß die Auswanderung eines so unerseß= lichen Schages in die Fremde auf alle Freunde der Wissenschaft und der orientalischen Literatur unter den Franzosen einen tiefschmerzlichen Eindruck machen wird. Und doch darf man sich darüber nicht wundern, daß die kaiserliche Bibliothek von Paris um die Erwerbung der Quatremèreschen Sammlung nicht mit der bayerischen Regierung in die Schranken trat. Auf dem jährlichen Etat jener Bibliothek waren noch vor wenigen Jahren für neue Anschaffungen 280,000 Fr. ausgefeßt; seit 1848 aber ist diese Summe auf die Hälfte heruntergesezt. Um die Zeit der Welt-Ausstellung endlich vermehrte man, um die Wißbegier der zahlreich erwarteten Fremden zu befriedigen, die Zahl der Bibliothekbeamten, deren Gehälter aus jenem Etatposten bestritten wurden, so daß für den ursprünglichen Zweck nur noch 80,000 Fr. verblieben

eine Summe, die freilich nicht ausreicht, um die berühm tefte Bibliothek der Welt in ihrem alten Glanze zu erhalten."

Das mit dem 31sten d. M. zu Ende gehende Abonnement wird Denjenigen in Erinnerung gebracht, die im regelmäßiges Empfange dieser Blätter keine Unterbrechung erleiden wollen.

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Wöchentlich erscheinen 3 Nummern. Preis jährlich 3 Thlr. 10 gr., halbjährlich 1 £hlr. 20 Sgr. und vierteljährlich 25 Sgr., wofür das Blatt im Inlande portofrei und in Berlin frei ins Haus geliefert wird.

No 36.

für die

Bestellungen werden in jeder deutschen Buchhandlung (in Berlin bei Beit u. Comp., Jägerstraße Nr. 25, und beim Spediteur Neumann, Niederwallstr. Nr. 21), sowie von allen tönigl. Post-Aemtern, angenommen.

Literatur des Auslandes.

Frankreich.

Berlin, Donnerstag den 25. März.

Moris Hartmann's:,,Le mie prigioni".

Die kürzlich erschienenen „Erzählungen eines Unftäten", von Moris Hartmann, °) die des Poetischen und in mannigfacher Weise Unterhaltenden außerordentlich viel darbieten, bringen in einer Einleitung, oder, wenn man will, „Vorrede", von 60 Seiten eine Episode aus dem während der lezten zehn Jahre vielbewegten Leben des Dichters. Der namentlich auch durch seine an die „Kölnische Zeitung" gelieferten Korrespondenzen und Feuilleton-Beiträge bekannte Schriftsteller war in den Jahren 1853 und 1854 vielfach selbst der Gegenstand von Zeitungsberichten, indem er in dem erstgedachten Jahre zu Paris, während der Thätigkeit des damaligen Polizei- Ministers Maupas, mit einer Anzahl anderer Zeitungskorrespondenten, sowie mit einigen vornehmen Legitimisten und Orleanisten, gleichzeitig verhaftet und nach dem Pariser Zellen-Gefängniß,,Mazas" gebracht worden war. Später, als er, aus dem Gefängnisse befreit, nach der Levante sich begeben hatte, um von dort Zeitungs-Berichte über den russisch-türkischen Krieg einzusenden, war er, als er das Unglück hatte, in Varna zu erkranken und dadurch an der Fortsetzung seiner Berichte eine Zeit lang gehindert zu sein, überall in den öffentlichen Blättern als ein an Desterreich ausgelieferter politischer Gefangener ausgegeben worden. Ein Konflikt mit österreichischen Reclamationen und mit einem ungeschickten Pascha in Belgrad hatte allerdings zu dem Gerüchte von seiner Auslieferung Anlaß gegeben, doch hatte diefelbe in keiner Weise stattgefunden. In der Einleitung zu den ,,Er zählungen eines Unftäten“, welche „Le mie prigioni” überschrieben ist, giebt er nun über diese Erlebnisse in Belgrad und Varna, sowie über seine Verhaftung in Mazas, nähere Nachricht. Da leztere einen interessanten Einblick in das französische Polizeiverfahren gewährt, das jezt, unter der militairischen Verwaltung des Generals Espinasse, wieder au der Tagesordnung ist, so theilen wir hier den betreffenden Abschnitt des Hartmannschen Buches mit, der zugleich eine empfehlende Probe der „Erzählungen eines Unftäten“ sein mag:

,,Louis Napoleon glaubte nach dem Staatsstreiche sich mit der wohlunterrichteten Polizei-Präfektur nicht begnügen zu können und schuf sich ein Polizei-Ministerium. Aber das blutjunge und unerfahrene Polizei-Ministerium tappte um so mehr im Dunklen, als die altehrwürdige Präfektur auf den mit größerer Würde ausgestatteten Neuling eifersüchtig war und ihm alle Kanäle abschnitt, die seine Allwiffenheit nähren sollten. Das neue Polizei-Minikerium hatte nichts zu schaffen; in seinen weiten Räumen war es öde; menschenschen und des Müßiggangs müde schlichen seine zahllosen Beamten in ihres Nichts durchbohrendem Gefühle umher. Sie sahen aus wie Schatten, die ziel- und zwecklos an den Ufern des Styr umherirren und die Erlösung erwarten; sie fühlten sich verdammt zu der unausstehlichen Qual, die Dante vergessen hat, zu der Qual des Ueberflüssigseins. Es war ein Ministerium besoldeter, aber überzähliger Beamten. An Maupas war es, sie zu erlösen, und wir waren die schwarzen Schafe, die er zum Erlösungsopfer auswählte Er erfand eine Verschwörung, und in der Nacht des 3. Februars 1853 wurde die große Polizeirazzia vorgenommen, und die mysteriösen Räume von Mazas verschlangen zweiundsechzig Unschuldige.

Ich schlief den Schlaf der Gerechten, als mit der ersten Morgen dämmerung fämmtliche Diener des Hotels mit bleichen Gesichtern in die Stube stürzten, gefolgt von zwei Unbekannten mit Physiognomieen von Monseigneurs. Monseigneur aber heißt in Frankreich ein Dietrich oder Diebesfchlüssel, und der Ausdruck stammt aus jener guten alten Zeit, da die großen Herren anstatt der Diebe in die Häuser der armen Bauern brachen. Ich wollte mich erheben, aber die bei den Geheimnißvollen ersuchten mich, im Bette zu bleiben, bis eine

*) 2 Bände. Berlin, Franz Duncker 1858.

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1858.

gewiffe dritte Person, der Polizeikommissar, ankomme. Sie seßten sich an den Kamin, ließen ein Feuer anzünden und prüften mit durchdringenden Blicken jedes Möbel. Endlich kam der Polizeikommissar, ein Mann mit einem behaglichen Hausvatergesicht, der sich vor mein Bett stellte und mit der Miene eines Komödienfürsten, der seinen Stern zeigt, den Rock aufknöpfte und seine trikolore Schärpe sehen ließ. Darauf, wie auf ein gegebenes Zeichen, warfen sich die beiden Monseigneurs auf meine Bücher, und nachdem sie alle Titel geprüft, untersuchten fie ihr Inneres, ob nicht Papiere darin fteckten; dann vertheilten sie sich in Stuben und Kabinet und schleppten alle möglichen Papiere auf einen Haufen zusammen, die der Kommissar musterte und aus denen er sämmtliche Briefe, die ein neueres Datum trugen, aussuchte und zusammenlegte. Dann suchte man in allen Winkeln und Verstecken nach Waffen, und da man nichts fand als einen Life preserver, ersuchte mich der Kommissar, mich schleunigst anzukleiden und ihm zu folgen denn er verhafte mich im Namen des Gesezes. Auf dieses Wort fingen die Diener, die an der Thür horchten, ein lautes Geheul an, das sich in Schluchzen und Klagen verwandelte, als ich in der Mitte der Polizisten durch ihre Reihen schritt. Wie ich später erfuhr, hatte einer der Kellner, ein edler, Sohn der Auvergner Berge, die heroische Idee, sofort eine Revolu tion zu machen und mich noch auf der Treppe der Polizeigewalt zu entreißen; aber ein besonnener Walter Fürst, wahrscheinlich ein Gothaer, hielt ihn von dem gewagten Unternehmen ab und rieth zu passivem Widerstand. Vor der Thür erwartete uns ein großer, schwarzer, gefchloffener Wagen, der bestimmt schien, ganze gefeßgebende Versammlungen aufzunehmen. In der Rue Faubourg Montmartre verließ uns der Kommissar sammt dem Wagen und übergab mich den beiden Agenten. beiden Agenten. Diese ersuchten mich, nun selbst einen Wagen zu miethen, da der Weg nach Mazas sehr lang und sie sehr müde seien, da sie die ganze Nacht gearbeitet hätten. Ich konnte aber ihrem Wunsche nicht willfahren; ich wollte meine Freiheit so lange als möglich genießen und noch etwas von der frischen Morgenluft einathmen. Denn wer konnte mir sagen, für wie lange Zeit ich der Gefangenschaft, welchem Schicksal überhaupt ich entgegen ging? Wir lebten in der Zeit der Transportationen, und die Justiz war so reformirt, daß selbst das unschuldigste Gewissen sich nichts zu prophezeien wagte. So wanderten wir denn zu Fuß die Boulevards entlang. Paris ist am frühen Morgen nicht lieblich anzusehen; es gleicht da einer alten Kokette, die man vor der Toilette überrascht, ehe sie ihr Roth aufgelegt. Dennoch schien es mir in diesem Augenblicke unendlich schön, und im Vorgefühl des engen Gefängnisses unendlich groß und weit, wie eine Welt. Zu meiner Rechten Michael, zu meiner Linken Gabriel", zog ich frohen Muthes weiter und hörte kaum auf die Vorwürfe meiner beiden Schußengel, die mich des Undankes anklagten. Sie hatten mich ja ausschlafen laffen, während sie einundsechzig Andere aus dem füßeßten Schlafe und manche von diesen aus den Armen der Gattin oder Geliebten geriffen haben. So sprechend freuten sie sich in der Erinnerung über die verschiedenen, sonderbaren, erstaunten, erschrockenen oder ergrimmten Gesichter, die sie in dieser Nacht zu sehen bekamen, und ich dachte: auch dieser Stand hat seine Freuden. Und ich dachte ferner, daß die banalen Entschuldigungen, wie:,,Wir thun nur unsere Pflicht, gewiß mit schwerem Herzen" 2. nur leere Phrasen seien. Auf der Höhe der Marais angekommen, wurden meine Begleiter schweigsamer; sie schienen mich ganz zu vergeffen und sahen aufmerksam, mit echtestem Späherblick, nach rechts und links. Das Trottoir war noch nicht sehr belebt; nur hier und da standen oder saßen einzelne Individuen, die mehr oder weniger überwacht und nichts weniger als gesezmäßig aussahen. Bei unserem Herannahen ging mancher von diesen auf die Seite und aus unserem Wege. Manchem sah ich es an, daß er mich als einen Verhafteten erkannte und mich mit einem gewissen, wenn auch nicht theilnehmenden Interesse betrachtete, während auf den unteren Boulevards feiner der Vorübergehenden errieth, daß ich mich in einer ausnahmsweisen

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