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denn es handelt sich darum, die schläfrigen Geister aufzurütteln. So lange Italien zerstückt und schwach war, musste man es schonen, wie einen Kranken, und sich hüten, die nationale Empfindlichkeit zu reizen. Das erste Zeichen von der Stärke einer Nation ist es, dass sie die Wahrheit zu hören vermag.

Die Dekadenz, die mit dem Renaissancezeitalter begonnen und Jahrhunderte lang sich fortentwickelt hat, liess sich nicht so schnell mit allen Wurzeln austilgen. Die frühreife Cultur Italiens hatte seine Kräfte erschöpft. Das so reiche und üppige Leben des 16. Jahrhunderts erstarb schnell, weil die Grundlage selbst, aus der es sich entfaltet, die politischen, religiösen, moralischen Güter des Mittelalters, schon vermodert waren. Der Charakter verfiel, die Intelligenz herrschte einsam. Und es ist nicht die geistige Begabung, es ist der Charakter oder die Tüchtigkeit, welche die Nationen rettet; denn, um die Menschen geeint zu erhalten, ist es nothwendig, dass sie die Kraft besitzen, Vermögen und Leben für die Gemeinschaft zu opfern; wo diese Tugend mangelt, da ist die Gesellschaft aufgelöst, wenn sie auch lebendig erscheint. Der Charakter verfällt, wenn das Bewusstsein leer ist, und den Menschen nichts Anderes mehr bewegt als sein eigenes Interesse. Als Repräsentanten dieser Denkungsart begegneten wir im Renaissancezeitalter dem Guicciardini, welcher sagte, Wissen sei nicht Können, anderes erkennen, anderes thun, dessen Gott allein sein privater Vortheil gewesen. Aber der Mensch, wie ihn Guicciardini schildert, lebt noch jetzt; die italienische Race ist noch nicht von dieser moralischen Schwäche geheilt. „Wir sind", sagt De Sanctis, ,,immer noch Cinquecentisten, beschränken immer noch unsere Bewunderung auf die intellektuellen Kräfte, Kunst, Cultur, Wissenschaft. Der moralische Werth des Menschen scheint uns fast eine Nebensache in seiner Geschichte, und oft setzen wir über die bescheidene Güte und Würde des Lebens die Kühnheit und das Talent." Die Basis der italienischen Regeneration, des „neuen Italiens, das soviel gerühmt wird, und das kaum erst in den äusseren Umrissen existirt", ist die Herstellung der inneren Welt, des Vaterlandes, der Freiheit, der Humanität (s. Nuovi S. p. 201 f. und im Allgemeinen die Saggi über Parini und Guicciardini).

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Die Möglichkeit eines kräftigen, realen Lebens ist heut' wieder in Italien gegeben, die Bahn ist eröffnet für alle grossen Bestrebungen des Menschen. Es gilt, sie nun auch wirklich zu beschreiten. Die Zeit ist vorüber, wo man einem nebelhaften Idealen nachjagen konnte, der reinen Idee, dem Gedanken, der sich in die Form als durchsichtigen Schleier hüllt, wo man über die betrogenen Illusionen der Jugend jammerte, das Leben als die dürre Prosa verachtete. Einst, als die Realität, das wirkliche Leben in Auflösung begriffen war, diente das Ideale zur Regeneration und schuf eine neue Jugend. Aber diese Jugend dauert in Italien zu lange. Kräftige Naturen streben nicht den Schatten, dem Unerreichbaren nach; sie wenden sich der Realität zu, suchen sie zu ergreifen und zu besitzen. Die Römer, das positivste Volk, haben Grosses geleistet, und so heut' die Amerikaner (N. S. p. 272 ff.). „Die Welt ist den Philosophen und Dichtern aus den Händen geglitten und gehört den Staatsmännern und Kriegern." Wir haben neue Ideale, eine neue Welt der That. Die negative, contemplative Welt ist zu Ende. Man erschrickt, dass die neue Generation dem Materialismus huldige. „Und was ist denn der Materialismus, nicht der gemeine, niedrige, sondern der Materialismus im höheren Sinne? Es ist die Welt, die sich mit dem Leben aussöhnt und von ihm Besitz ergreift und dort seine Ideale setzt und sich hineinwirft und an seinen Freuden und Schmerzen Theil nimmt, von der skeptischen, unruhigen Betrachtung dem heitern Ringen und Handeln sich zuwendend." ,,Diese Wiederherstellung der Materie, d. h. der Arbeit und der That, dieser Ernst der irdischen Existenz, vermöge dessen, anstatt über sie zu schwärmen, der Mensch strebt, sich die Natur zu assimiliren, sie sein eigen zu machen, dieses Erwachen der Nationalitäten, die wieder Bewusstsein von sich selbst gewinnen und, voll von Ehrgeiz und Hoffnung, sich vorbereiten, ernsthaft und mit jugendlicher Kühnheit ihrer Mission auf dieser Erde zu erfüllen", das ist in Wahrheit das moderne Leben (S. crit. p. 465 f.). Gar zu viel ist noch von der alten Krankheit zurückgeblieben. Die neuen Ideen und Ziele müssen zum Glauben werden, müssen den Skeptizismus, den Indifferentismus, die heuchlerischen Gewohnheiten besiegen. „Der Glaube", heisst es irgendwo (S. cr.

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p. 391), ist nicht nur für wahr halten, sondern wollen, lieben, wirken; er ist nicht nur Gedanke, sondern Gefühl und Handlung. Der Glaube ist Liebe; er ist nicht nur Weisheit, sondern Liebe zur Weisheit, nicht nur Sophia, sondern Philosophia." Der Glaube kann nicht der alte sein; es nützt nichts, die Trümmer des Mittelalters zusammenzutragen und von Neuem aufzurichten; das Vergangene kehrt nicht zurück; die alten Formationen sind leer und todt, der Geist hat sie verlassen. Sie zeugen heut' in Italien nur Aberglauben beim niederen Volke, Heuchelei in den höheren Klassen. Es gilt nicht, die verbrauchten Formen der Religion herzustellen, sondern das religiöse Gefühl neu zu beleben, welches in der Fähigkeit der individuell en Aufopferung besteht, der Fähigkeit, aus sich heraus und in Verbindung mit den Uebrigen zum Heile Aller zu treten“ (aus d. Vorlesungen, d. 20. Febr. 1874).

Diese seine Ueberzeugungen fand De Sanctis Gelegenheit von Neuem zu entfalten, als er 1872 die Inauguralrede zur Eröffnung des Universitätsjahres hielt. Seine Rede, betitelt „Wissenschaft und Leben", hat mit Recht nicht nur in Italien, sondern auch im Auslande, wo sie bekannt wurde, allgemeine Bewunderung erregt. Alles, was wir über praktische Probleme in seinen Schriften verstreut finden, ist hier in scharfen Zügen wiedergegeben und um die eine Frage gruppirt: Wie hat sich die Wissenschaft zum Leben zu stellen? Ist Wissen und Können dasselbe? Kann die Wissenschaft das Leben schaffen, erhalten, und, wenn es gesunken, regeneriren? Rom und Griechenland, Italien im 16. Jahrhundert und Frankreich in der Revolution lassen das Gegentheil glauben. Das Leben eines Volkes besteht in der Lebendigkeit seiner moralischen Kräfte; aber diese, um sich zu äussern, um zu wirken, bedürfen des Stachels von aussen, der Schranke, die ihnen das Unbestimmte nimmt, ihnen ein Ziel gegenüberstellt. Im Mittelalter waren die inneren Kräfte, Gefühl und Imagination, gewaltig, und gewaltig waren die moralischen Schranken, die Familie, die Commune, die Kirche, die Klasse, der Staat, und das erzeugte ein urkräftiges Leben. Allein die Schranken nahmen überhand; die Pflichten wurden

* La Scienza e la Vita. Neapel bei Morano, wie das Uebrige.

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zu Fesseln. Der neuerwachende Geist rang sich aus ihnen los; die Wissenschaft erhob sich gegen die Schranken als die Freiheit der sich ihrer selbst bewussten Intelligenz. Aber in Italien blieb die Wissenschaft selbst ohnmächtig, weil sie eben nur die alten Schranken umstürzte, den bisherigen Formen des Lebens ihren Inhalt raubte, und den gesunkenen moralischen Kräften fürder der Stachel und das Ziel fehlte. Sie vernichtete das Leben des Mittelalters und blieb in der Oede. In der französischen Revolution wollte im Gegentheil die Wissenschaft dem noch kraftvollen Leben seine eigenen Gestaltungen aufdrängen, ohne sich um die realen Verhältnisse zu kümmern, und so blieb sie auch hier ohnmächtig, weil sie sich überhoben. Bei den germanischen Nationen dagegen stiess sie auf gewaltige Organismen des Lebens, und, anstatt sie zu vernichten, drang sie in dieselben ein, sie reformirend und ausbildend, und ebendeshalb gestand man ihr Freiheit zu, weil man sie nicht zu fürchten hatte. Da leben zusammen die Wissenschaft und die Freiheit, die grösste Freiheit des Gedankens, der Diskussion und der Association, und diese ist keine Gefahr, sondern eine Kraft, weil der Flug der Intelligenz dort seine Schranke in den unverletzten socialen Kräften hat, dem religiösen Gefühl, der Disciplin, der Festigkeit, dem moralischen Muthe, dem Gefühl der Pflicht und des Opfers, der Liebe zu Natur und Familie, der Achtung vor der Autorität, der Beobachtung des Gesetzes, allen den moralischen Kräften, die wir in ihrer Gesammtheit den Menschen nennen. Man sagt wohl, die Wissenschaft habe Deutschland gross gemacht. Ach! es sind jene Eigenschaften, welche die Völker gross machen, und die Wissenschaft erzeugt sie nicht, sie findet sie vor" (p. 25 f.). Die Wissenschaft kann sie analysiren, lenken, verbessern, nicht sie hervorbringen, oder, wo sie mangeln, sich ihnen substituiren. Die verschiedenen Formen des menschlichen Geistes wollen sich gegenseitig nicht verstehen, das Gefühl nicht die Imagination, die Imagination nicht die Intelligenz, die Intelligenz nicht jene beiden; jede will Alles sein; aber ihr wahres Heil ist da, wo sie sich ihre Grenze in den anderen setzt. Das war der grosse Fortschritt unseres Jahrhunderts, dass die Wissenschaft in dem Leben seine Schranke anerkannte, dass sie die übrigen Sphären nicht mehr in sich

verschlingen, sondern sie verstehen will. Aber wenn sie ehedem Alles sein wollte, so ist sie neuerdings in das andere Extrem gerathen; sie überlässt das Leben sich selbst, sieht alles Heil in dem laisser aller, laisser passer und wird zur müssigen Zuschauerin. Die Wissenschaft ist mächtig, wenn sie lebendig in uns ist, kein Conglomerat von Ideen, sondern ein Organismus; nur so kann sie wirksam werden auf die Organismen des Lebens. Sie kann die moralischen Kräfte nicht schaffen; aber, wo sie noch nicht erstorben sind, und ihnen nur die Wirksamkeit fehlt, da kann sie ihnen ein neues Ziel geben; sie kann die alten Formen, wenn sie noch lebensfähig sind, mit neuem Inhalt erfüllen. Und auch Italien darf nicht verzweifeln. Man spricht heut' von der Dekadenz der romanischen Race; aber welche Kraft verbliebe noch einer Nation, die sich einem vergeblichen historischen Fatum unterwerfen wollte?

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Die Wissenschaft hat in Italien zwei grosse Güter geschaffen, die Einheit und die Freiheit; sie hat die Spitzen der Gesellschaft aufgerüttelt und diese hat die Massen galvanisirt und nach sich gezogen. Die Einheit des Vaterlandes ist die Concentration aller Kräfte, die Freiheit ihre naturgemässe Entwicklung, ihre Autonomie. Das sind grosse Dinge; aber es sind erst die Instrumente der Arbeit, noch nicht die Arbeit selbst. Es sind Formen die bald in Fäulniss übergehen, wenn drinnen nicht ein Stoff ist, der sich bewegt. Was ist Italien ohne Italiener? Was ist die Freiheit ohne freie Menschen? Es sind Formen ohne Inhalt, Namen ohne Sache; es ist der Priester ohne Glaube, der Soldat ohne Vaterland" (p. 32). Die Freiheit Aller und für Alle ist ein nunmehr unbestrittenes Prinzip. Die Mission der Wissenschaft ist heut', dieser Freiheit einen Inhalt zu geben, ihr ihren Inhalt zu geben, nicht indem sie in die anderen Sphären einbricht, sondern indem sie in ihnen arbeitet und sie ungestaltet. Wir besitzen schon einen wissenschaftlichen Inhalt, einen Complex von Ideen, den wir den neuen Geist nennen. Jetzt gilt es, dass er wirklich der neue Geist sei." Dazu hilft nichts die bisherige heuchlerische sogenannte Volksliteratur,

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Anderswo tadelt De Sanctis im Allgemeinen das seichte Popularisiren in der Literatur. Das Volk müsse man zur Literatur emporheben, nicht diese zu ihm herabsenken.

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