selbst zu gerathen. Dass er aus eigenen Kräften alle die Lücken ausgefüllt haben sollte, über die er klagte, und zu deren Abhilfe er die Thätigkeit einer Generation nothwendig erachtete, lässt sich natürlich nicht annehmen. Seine Absicht war daher nicht sowohl, jenes Ideal einer wissenschaftlichen Darstellung zu erreichen, das ihm bei Abfassung des Saggio über Settembrini vorschwebte, als die grossen Linien hinzuzeichnen, die Perioden der Entwicklung scharf zu charakterisiren, bei den bedeutendsten Gestalten zu verweilen, sie möglichst der Vollendung nahe zu bringen und das Uebrige mehr in den Hintergrund zu drängen, eine Aufgabe, zu deren Lösung ihm die Studien seines ganzen bisherigen Lebens zu Statten kamen. So konnte er vielleicht kein abschliessendes Resultat erzielen, aber doch ein höchst nützliches, höchst erwünschtes Buch liefern, und wir müssen dem Zufall danken, der uns mit einem so werthvollen Werke beschenkte, meiner Meinung nach der werthvollsten unter De Sanctis' Schriften, als Zusammenfassung des Besten, was er je gedacht und gefunden.* Die Basis, auf der die ganze Darstellung beruht, ist des Verfassers Ueberzeugung, dass jede echte poetische Produktion aus dem Leben des Volkes, aus dem Bewusstsein der Zeit hervorspriesst. Die Kunst ist keine individuelle Laune. Die Kunst, wie Religion und Philosophie, wie politische und administrative Institutionen, ist ein sociales Faktum, ein Resultat der nationalen Cultur des nationalen Lebens (Stor. let. II, p. 423). „Es ist meine Aufgabe," heisst es anderswo (p. 43), „darzustellen, was sich im italienischen Gedanken regt; denn nur das ist lebendig in der Literatur, was lebendig im Bewusstsein ist." Mögen daher diejenigen, welche sich gewöhnt haben, die Litera * Viele Capitel der in Florenz geschriebenen Literaturgeschichte wurden je nachdem sie entstanden, zuerst, mit geringen Veränderungen, als selbständige Saggi in der Nuova Antologia abgedruckt, wie der über Ariosto, über Pietro Aretino, über Tasso, über Metastasio u. s. w. Wo die Veränderungen bedeutender waren, sind die Saggi dann später in die Nuovi Saggi aufgenommen worden, wie der über Parini, l'uomo del Guicciardini u. s. w. Der zweite Theil der Literaturgeschichte trägt zwar das Datum 1870, ist aber in diesem Jahre nur begonnen, vollendet 1872; man verkaufte ihn, wegen der grossen Nachfrage, bogenweise, so wie die Arbeit des Autors und der Druck fortschritten. 1873 erschien eine 2. Auflage, unverändert, nur dass das erste Capitel des 2. Bandes das letzte des 1. geworden ist. turgeschichte als eine bunte Mischung gelehrter, historischer, biographischer und bibliographischer Notizen zu betrachten, sagen, was sie wollen, De Sanctis' Buch ist wirklich eine Geschichte der Literatur, weil es diese als Manifestation des Volksgeistes in seiner fortschreitenden Entwicklung behandelt. Sie zeigt uns in der Literatur den Spiegel der ganzen Cultur. Die italienische Poesie trug bei ihrer Geburt einen greisenhaften Charakter; es fehlte ihr die natürliche Jugendfrische, eben weil sie aus dem Auslande, von den Provenzalen, importirt worden und sich die reale Grundlage im Volk erst suchen Das Ritterthum war keine national-italienische Institution; die ritterliche Liebes poesie blieb kalt und conventionell. Ihr gegenüber trat ein wahrhaft nationaler Gehalt, die ascetische Idee des Mittelalters, welche das ganze damalige Leben durchdrang und bewegte, welche die Legenden und Mysterien hervorbrachte, in den gebildeten Klassen sich mit philosophischen Formen bekleidete, zur platonischen, intellektuellen Auffassung der Liebe wurde und endlich in Dante's Lyrik und der göttlichen Komödie ihre Realisirung, ihren Abschluss fand. Allein das Mittelalter, das bei den andern Nationen sich in langsamer Entwicklung regelmässig entfaltete und kräftige politische und religiöse Formen schuf, wurde in Italien durch den Einfluss der wiedergefundenen klassischen Literatur unterbrochen und löste sich in eine frühreife Cultur auf. Petrarca ist der Dichter des Ueberganges; in ihm drückt sich nur erst leise die Reaktion der Natur gegen den mittelalterlichen Spiritualismus aus. Der Widerspruch bleibt noch in der Imagination, erzeugt in seiner Poesie das lyrische Schwanken, die melancholische Färbung; die kräftige innere Welt Dante's, der Glaube als Grundlage der Dichtung ist erschüttert; dagegen verfeinert sich der künstlerische Sinn in der Berührung mit den Alten. Die fortschreitende Cultur macht den Widerspruch greller, und je grösser die Uebertreibung der Ascetik gewesen, um so gebieterischer machen sich die Forderungen des Fleisches und des realen Lebens geltend. „Wäre die Reaktion gegen den übertriebenen Spiritualismus aus lebhaften Kämpfen in den hohen Regionen des Geistes hervorgegangen, so würde die Bewegung langsamer, gehemmter gewesen sein, wie bei den andern Völ kern, aber zugleich fruchtbarer. Der Gegensatz hätte den Glauben der Einen, die Ueberzeugungen der Anderen gestärkt und eine kräftige, substantielle Literatur erzeugt. Aber wo die Kühnheit des Gedankens unerbittlich gestraft, wo die gibellinische Oppostion im Blute erstickt wurde, wo das Papstthum unumschränkt, nahe, argwöhnisch und wachsam war, da konnte jene religiöse Welt, die so verderbt in den Sitten wie absolut in den Doktrinen und grottesk in den Formen war, bei der Berührung mit einer so raschen Cultur und dem im Studium der Alten gereiften und erwachsenen Geiste nicht ernsthaft von der gebildeten Klasse genommen werden" (I, p. 341). So kann die neue Cultur nicht in die mittelalterlichen Formationen eindringen, sie nicht modifiziren, umgestalten und im Bewusstsein herstellen, wie später in Deutschland; sie setzt sich sogleich ausserhalb jener; die christlichen Doktrinen bleiben unbekämpft, aber sie verharren müssig im Intellekt. Es folgte, bei so hoher Blüthe der Cultur, religiöse und politische Gleichgiltigkeit; das moralische Gefühl stumpfte sich ab. Das Gefühl der Familie, der Natur, des Vaterlandes, der Glaube an eine höhere Weltordnung, die reinen Freuden der Freundschaft und Liebe, die Idealität und der Ernst des Lebens gehen zu Grunde. Es fehlen dem Dichter all' die hohen Güter, an die er sein Herz hängen könnte, und damit fehlt die dichterische Inspiration. Was übrig bleibt, ist das literarische Bewusstsein, das künstlerische Gefühl. Dante besang die Erlösung der Seele, Boccaccio das Ende der Barbarei und das Reich der Cultur (p. 327). Sein Dekameron ist die Rehabilitation des Fleisches; Gegenstand der Literatur wird nicht mehr das Abstrakte, das Göttliche, sondern das Reale, rein Menschliche. Da aber zugleich alle früheren Ideale dahin sind, und neue noch nicht emportauchen, so erstirbt die hohe Poesie; es bleiben als Dichtungsgattungen nur das Komische und das Idyllische: Die Negation des Vergangenen, das Lachen der aufgeklärten Gesellschaft über den betrogenen Pöbel und nicht weniger über die ihn betrügenden Pfaffen, und die Darstellung des aller höheren Interessen baren verfeinerten Lebensgenusses in ruhiger Zurückgezogenheit. Diese beiden Gattungen beherrschen die ganze folgende Literatur. Im 15. Jahrhundert findet die erste besonders ihren Ausdruck in Lorenzo de Medici und Pulci, die zweite in dem feinen, eleganten Polizian. Der Mensch scheidet sich vom Schriftsteller; anders denken und anders handeln, wird die Lebensmaxime. Die Dichter sinken zu den Literaten herab, welche, leer von allem moralischen Bewusstsein, an den Höfen für Schmeicheleien Lob und Reichthümer ernten. Die Gesellschaft spaltete sich in die gebildete Klasse, die mit feinster klassischer Cultur Zügellosigkeit der Sitten und einen spöttischen Geist verband, und den abergläubischen Pöbel, welcher, der Bildung unzugänglich, jener zum Spotte diente. Die Blüthe der Civilisation, das stolze Gedeihen der Künste und Wissenschaften verbarg die beginnende Auflösung. So sind hier zwei Entwicklungsperioden in der italienischen Literatur zu unterscheiden; die erste umfasst das 13. und 14. Jahrhundert; ihr Hauptwerk ist die göttliche Komödie; die zweite beginnt mit dem Boccaccio und findet ihre Vollendung und Zusammenfassung im 16. Jahrhundert. Petrarca ist der Uebergang von der einen zur andern. Das 15. Jahrhundert bildet die Vorbereitung zum 16. (p. 415). Die so rapide Befreiung aus dem Mittelalter liess den Intellekt in höchster Entwicklung, aber müssig die übrigen Fähigkeiten der Seele. Karl VIII. konnte Italien mit dem Gyps und dem Holze" erobern, weil er eine Nation fand, der es nicht an intellektueller, auch nicht an physischer Kraft fehlte, wohl aber an „der moralischen Kraft, die uns an eine Idee gebunden hält und entschlossen, für sie zu leben und zu sterben" (II, p. 132). Es mangelt der Poesie nunmehr jeder ernsthafte Gehalt. Sie ist negativ als lächelnde Auflösung der vergangenen Ideale; ihre positive Seite ist „der Cultus der Form als Form, das einsame Herrschen der Kunst in einer ruhigen, idyllischen Seele" (p. 5 u. 6). „In der Gesellschaft ist eine Kraft noch unverletzt, die in so grosser Verderbniss sie lebendig erhält, d. i. im Publikum die Liebe und Schätzung der Cultur, und im Künstler und Literaten der Cultus der schönen Form, das Gefühl der Kunst" (p. 10). Dies ist das einzige Ernsthafte im Künstler, wird selber zur Inspiration und vertritt die Stelle des Glaubens. Das Ideal dieser Kunst ist die Form geliebt und studirt als Form, bei Gleichgiltigkeit des Gehaltes" (p. 13), und ihren 99 vollen Ausdruck findet sie im Orlando Furioso. Der Dichter ist da eigentlich nicht mehr vorhanden, sondern nur noch der Künstler. „Es ist eine Welt leer von religiösen, patriotischen, moralischen Motiven, eine reine Welt der Kunst, deren Absicht ist, im Gebiete der Imagination das Ideal der Form zu realisiren. Der Verfasser bemüht sich mit dem grössten Ernste, einzig darauf gerichtet, seinem Stoffe die höchste Vollendung zu geben, so im Ganzen wie in den kleinsten Details." Aber, da das Ganze nur ein Spiel der Imagination ist, so durchdringt es sich mit einer höheren Ironie, und ihr Lächeln „das Bewusstsein der Realität in den genialsten Schöpfungen ist die negative Seite der Kunst, der Keim der Auflösung und des Todes" (p, 16). Die Entfaltung eines neuen Bewusstseins, eines neuen Gehaltes beginnt mit der neuen Wissenschaft, deren wahrer Begründer Macchiavelli ist. Eine religiöse Reformation, wie in Deutschland, war nicht möglich, wo man über den Verdruss der Kirche lachte und Luther als Barbaren und Gegner der geliebten Cultur hasste oder verachtete. Der Materialismus bestand der Sache nach, und nur in Worten wurde er geleugnet. So auch beim Macchiavelli. Der Geist befreit sich aus den Fesseln des Mittelalters, hat zum Gegenstande seiner Betrachtung die reale Welt, wie sie ist, wie sie uns Beobachtung und Erfahrung bieten, den realen Menschen in der Natur, der, ohne Einmischung übernatürlicher Gewalten, mit seinen geistigen Kräften sich das Schicksal schafft und die Geschichte produzirt. Macchiavelli ist gleichsam das Gewissen seiner Zeit; er erkennt unter dem glänzenden Scheine die Krankheit seiner Nation, und die Basis aller seiner Spekulationen ist diese Thatsache, die Corruption der italienischen, ja der lateinischen Race und die Gesundheit der germanischen" (p. 108). Er verlangt, dass man den Ernst des Lebens herstelle, dass man die inneren Kräfte des Menschen, den Charakter erneuere, dass man, der Erde zugewandt, hier ein würdiges Ziel des Strebens sähe, und dieses Ziel ist ihm das Vaterland, der unabhängige, freie, nationale Staat, der Gedanke des modernen Zeitalters. Allein ihren wahren Repräsentanten fand jene Epoche nicht sowohl in Naturen wie Macchiavelli, wie Michelangelo, wie |