Sprachliche Sünden der Gegenwart. Von Direktor Dr. August Lehmann. Vorbemerkung. Die reissenden Fortschritte der Gegenwart in allen Gebieten des Wissens und Könnens wollen auch die Sprache und deren Formen im Fluge mit sich fortreissen. Die Pflicht der Sprache aber ist es, mit besonnener Ruhe und Ueberlegung das unbrauchbare Alte zu verbessern oder ganz abzulegen und das brauchbare Neue in sich aufzunehmen. Es ist in der That interessant und lehrreich, in dem Fortschreiten der Sprachbildung sowohl die Lichtseiten wahrzunehmen und als mustergültig darzustellen, als auch die Schattenseiten zu beobachten und mit Warnungstafeln zn bezeichnen. Die Gegenwart scheint vorzugsweise das Letztere nöthig zu haben. Ihre Sprünge sind oft zu keck und bedürfen wie der Kandare so der Trense. Daher entstand in mir, inmitten meiner Forschungen über die Sprache der Deutschen Klassiker, der lebhafte Wunsch, einige der hervorragendsten und auffallendsten sprachlichen Irrthümer und Sünden der Gegenwart ans Tageslicht zu ziehen und weitere grammatische Untersuchungen in systematischer Ordnung hiebei anzuknüpfen. Ich fasste die Wortstellung und die Wortzusammensetzung zunächst ins Auge und beschloss, als Aufgabe eines ersten Heftes die Begleiter der Substantiva und der Adjektiva im Neuhochdeutschen mir zu wählen, in der Absicht, um darzulegen, wie wenig die Grammatik gewillt sein dürfe, bei ihren unantastbaren Gesetzen und Grundsätzen irgendwie der Willkür und der Laune überstürzender Geister nachzugeben. In beiden Beziehungen, in der Wortstellung wie in der Wortzusammensetzung, besonders in der letzteren, liegt vorzugsweise Ein Prinzip zu Grunde, die Kürze. Man kann wohl mit vollem Rechte die Kürze in der Ausdrucksweise und überhaupt in der Sprache eine der schönsten Tugenden nennen. Sie führt die Klarheit und Eindringlichkeit der Rede in ihrem Gefolge mit sich. Alle Klassiker seit und mit Luther, insbesondere die Heroen des vorigen Jahrhunderts, wie Klopstock, Göthe und vor allen Lessing, * haben, bei allem ihrem wunderbaren Reichthum an Gedanken und Ideen, eine liebenswürdige Kürze nicht bloss in der Poesie, wo sie vorzugsweise geboten erscheint, sondern auch in der Prosa auf die schönste Weise an den Tag gelegt und höchst einflussreich auch auf unsre heutige Sprache eingewirkt. Es lässt sich nicht leugnen, dass das Streben der heutigen Zeit in der That dahin geht, sich der Kürze auch in der Ausdrucksweise zu befleissigen. ** Allein wo dieses Streben ausartet in Unverständlichkeiten und Unrichtigkeiten, wo es dahin drängt, soviel als äusserlich möglich in Eine Periode oder gar in Einen Satz, in Ein Ganzes zusammenzuzwängen, wo es in ein Chaos von Fügungen und Verbindungen sich verirrt, deren Mangel an Uebersicht über das Einzelne und an gründ * Ueber Luthers Kürze habe ich mich in meiner Schrift Luthers Sprache in seiner Uebersetzung des Neuen Testaments" (1873) vielfach ausgesprochen und der Göthischen Kürze in meinem Buche „Göthes Sprache und ihr Geist ein besonderes Kapitel gewidmet. Ueber Lessings Kürze bietet meine Schulprogrammsabhandlung „Sprachliche Bemerkungen über Lessing, 1862" Bruchstücke dar, die ich, so Gott will, noch in einer besondern Schrift durch fernere sprachliche Forschungen einmal zu erweitern und zu vervollständigen gedenke. **Die wunderbaren Verdienste der die Welt in Krieg und Frieden völlig umgestaltenden Telegraphik sind noch nicht allseitig genug gewürdigt. Insbesondere werden sie von den Sprachforschern und Schriftstellern noch lange nicht genug anerkannt. Wenn das gross und hoch stolzirende I der Habeaskorpusak ten-Männer gleich dem bescheiden in den Hintergrund tretenden Deutschen ich über Bord geworfen wird; wenn die ewig murrenden Soldlinge unsrer Sprache, die Hülfsverba das gleiche Schicksal haben; wenn die Lust der heutigen Zeit an langgeschwänzten, furchtbar sich dahinschleppenden Zusammensetzungen der Dekomposital - Ungeheuer (s. S. 363 etc.) beschränkt und gehemmt wird; und wenn auf sonstige Weise bie Telegraphik für Kürze in der Ausdrucksart und in der Sprache überhaupt Sorge trägt, sei es auch nicht aus sprachlichen Gründen: so sollten wohl insbesondere die Sprachkenner und Sprachliebhaber dankbarer für eine Erfindung sein, welche für eine der schönsten Sprachtugenden, die Kürze, so freundlich mitsorgen hilft. licher Auffassung und Darstellung nur zu bald ins Auge fällt: da muss der Ernst und die Strenge der Grammatik hemmend entgegentreten und die Auswüchse abschneiden. Denn so rühmenswerth auch die Kürze in der Ausdrucksweise an sich sein mag, so ist sie doch nicht die erste Bedingung der Sprache. Ihr voran steht die Richtigkeit, und erst durch innige Verbindung mit dieser gewinnt sie jene Klarheit und Bestimmtheit, durch welche unsre Muttersprache so einzig in ihrer Art dasteht. Also die Richtigkeit ist das erste Gesetz, und wo sie mit der Kürze in Streit gerathen könnte, muss man sich auf ihre Seite stellen und der Kürze Valet sagen. Lessing spricht einmal (,,Zum Laokoon", Lachmann XI 138) von nothwendigen Fehlern und sagt: „Ich nenne nothwendige Fehler solche, ohne welche vorzügliche Schönheiten nicht sein würden, denen man nicht anders als mit Verlust dieser Schönheiten abhelfen kann." Bei dieser an sich sehr richtigen Bemerkung hat er nichts weniger als grammatische Fehler im Auge. Man gestatte jedoch einmal hie und da auch auf die Grammatik jene Bemerkung zu beziehn, so muss doch ein jeder, der von solcher Beziehung Gebrauch zu machen wagt, nothwendigerweise nicht bloss sich seines Fehlers klar bewusst sein, sondern auch zweierlei beweisen können, erstlich, dass er durch seinen Fehler eine vorzügliche Schönheit der Form wirklich hervorgebracht habe, zweitens, dass solche Hervorbringung nicht anders als durch Anwendung seines Fehlers möglich sei. Wer das nicht kann, der strebe danach, jedem grammatischen Fehler fern zu bleiben. Die systematische Anordnung in meinem Aufsatz ist um so nothwendiger, als es gilt, das, was sich in den Grammatiken über den genannten Gegenstand nur zerstreut und meistens zu kurz und sehr unvollständig oder gar nicht behandelt vorfindet, übersichtlich und ausführlich in folgerichtigem Zusammenhange darzulegen. Die einzelnen Exkursionen, welche hin und wieder nicht nothwendig zur Hauptsache gehören, mögen um so mehr Entschuldigung finden, als sie nahe am Hauptwege liegen und, da sie sonst nicht leicht die gebührende Beachtung finden, gerne mitgenommen werden wollen. Danzig, Januar 1875. I. Die Begleiter einfacher Substantiva und Adjektiva. Unter der Bezeichnung „Begleiter" des Substantivs fassen wir alle diejenigen Wortarten oder Wortverbindungen zusammen, welche demselben untergeordnet, gleichsam als Diener und Untergebene vorangehn oder nachfolgen, also sein Gefolge bilden und somit zu seiner Sphäre gehören. Solche Begleiter zerfallen in zwei Klassen. Die erstere bilden die Artikel, die Pronomina und die Zahlwörter. Ueber diese Klasse ver handeln wir hier nicht. Dagegen wenden wir auf die zweite Klassen unsre Aufmerksamkeit. Zu ihr gehören folgende Begleiter: erstlich, die Adverbien, jedoch nur dann, wann sie vor den zu Substantiven avancirten Adjektiven oder Partizipien stehen, z. B. der gut Geartete, das ungeheuer Grosse; zweitens, die Adjektiva, mögen sie dem Substantiv vorangehn oder nachfolgen, mögen sie zugleich mit ihm deklinirt werden, z. B. der grosse und schöne Stern, der Stern, der grosse und schöne, oder undeklinirt nachfolgen, der Stern gross und schön ; drittens, die blossen abhängigen Kasus eines andern Substantivs oder eines Stellvertreters desselben, z. B. der Schrecken des Todes, der Anblick derselben; viertens, die adverbialartigen Begleiter, oder, wie man sie kurz bezeichnet, die Adverbialien, welche, gewissermassen zusammengesetzte Adverbia, völlig den Charakter eines Adverbs haben. Diese sind bald Zusammenfügungen einer Präposition mit einem Substantiv oder einem Stellvertreter desselben, also präpositionale Zusätze, wie die Freude über den Sieg, das Verweilen bei ihnen, bald als Adverbia gebrauchte Kasus mit ihrem Anhange, wie der heitres Blickes vortretende Jüngling, die den ganzen Tag dauernde Freude. * In allen vier Fällen kann die Begleitung des Substantivs entweder eine unmittelbare oder eine mittelbare sein, je nachdem der Begleiter * Dr. Andresen spricht in einem Aufsatze „Präpositionen neben dem Substantiv" (s. Neue Jahrb. fur Philolog. u. Pädag. 1872. 2. Abtheil. S. 321 etc.) bloss von prapositionalen Zusätzen bei den Substantiven. Diese bilden aber die dritte Klasse von Begleitungen nicht allein, wie oben bemerkt. Daber ziehe ich den Namen „Adverbialien" vor. sich entweder unmittelbar oder mittelbar dem Substantiv unterordnet. Nämlich der Begleiter kann auch noch einen ihm untergeordneten Begleiter mit sich führen, welcher als Begleiter des Begleiters oder als Diener des Dieners oder als Adjutant des Adjutanten mittelbar zugleich auch als Begleiter, Diener, Adjutant des Substantivs fungirt. Und wenn nun der Begleiter des Begleiters auch seinerseits noch einen ihm untergeordneten Begleiter hat und das nun gar in noch niedrigere Stufen so fortgeht, so entsteht für die Mittelbarkeit der Begleitschaft eines Substantivs eine grössere Abstufung in niedrigere Grade. Wenn es z. B. heisst, der mit liebreicher Hülfe des Freundes am letzten Tage vollzogne Vertrag: so hat das Substantiv Vertrag zunächst einen unmittelbaren Begleiter an dem Adjektiv vollzogne. Dieser unmittelbare Begleiter aber hat erstlich einen ihm untergeordneten Begleiter an dem Adverbiale am letzten Tage, sodann aber auch noch einen zweiten ihm untergeordneten, dem ersteren koordinirten Begleiter an dem Worte mit Hülfe etc., welcher seinerseits auch wieder zwei ihm untergeordnete Begleiter mit sich bringt, erstlich das Adjektiv liebreicher, zweitens den blossen abhängigen Genitiv des Freundes. Es steigt also hier bei der Begleitschaft des Substantivs Vertrag die Mittelbarkeit zwei Grade oder Stufen hinab. Denn liebreicher ist der Begleiter des Begleiters Hülfe von dem unmittelbaren Begleiter vollzogne des Substantivs Vertrag. Doch verfolgen wir nicht weiter solche Abstufungen der Mittelbarkeit. Es erkennt und fühlt ein jeder sogleich, dass mit der Steigerung der Mittelbarkeit und mit der Häufung koordinirter Begleiter auch die Verwickelung zunimmt und gar bald in Unverständlichkeit und Verwirrung ausartet. Wir werden auf eine ganz ähnliche Steigerung und Verwickelung im 2. Abschnitt bei den Dekompositis wieder zu sprechen kommen. Vorausschicken aber müssen wir hier im Allgemeinen noch erstlich, dass die Partizipien bald die Stelle der Adjektiva bald der Substantiva vertreten und dann als partizipialische Adjektiva oder als partizipialische Substantiva eine besondere Rücksichtnahme erfordern, zweitens, dass die Partizipien auch als Adjektiva zu Substantiven erhoben einer besondern Beachtung bedürfen. Uebrigens bleibt noch zu bemerken, dass wir für das Subordinirte. auch die Bezeichnung der Spezies oder des Bestimmenden, und für das Superordinirte auch den Namen Genus oder das Bestimmte gebrauchen. |