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Musikalische Zeitfragen.

Von Marie Gerdes.

Unter dem Titel „Musikalische Zeitfragen" hat der bekannte Musikschriftsteller Hermann Kretschmar kürzlich ein Buch herausgegeben (erschienen bei C. F. Peters in Leipzig), welches jeder Musiker und Jeder, der sich für das Musikleben unseres Volkes interessiert, lesen sollte. In zehn Vorträgen behandelt der Verfasser die verschiedensten Gebiete und deckt in klarer, sachlicher Form die Schäden auf, an denen unser heutiges Musikleben und, damit eng zusammenhängend, der ganze Musikerstand leiden. Gleichzeitig macht er reformatorische Vorschläge, die sich zum größten Teil bei gutem Willen der Beteiligten ohne große Schwierig feiten durchführen lassen würden.

In einer Betrachtung über den Nutzen und die Gefahren der Musik beklagt der Verfasser mit Recht, daß in unseren Gelehrtenkreisen während des neunzehnten Jahrhunderts das Interesse und das Verständnis für Musik nachweislich zurückgegangen ist. Aus dieser Tatsache erklärt er auch die mannigfachen Verluste in der allgemeinen Musikpflege. Hätten die Juristen und die Theologen," schreibt Kretschmar, die in den Gemeinderäten und Staatsbehörden saßen, das rechte Herz für die Musik gehabt, so wären die alten Stadtpfeifereien, die Kirchen- und Schulchöre nicht abgeschafft, sondern nach den Vorschlägen Forkels aufgebessert worden."

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Diese Verminderung der Musikliebe in den Kreisen edelster Vildung hat gleichen Schritt gehalten mit der Vermehrung musikalischen Banausentums." Deshalb verlangt Kretschmar gerade von unserer Zeit, die auf allen Gebieten nach Klarheit, Wahrheit und Solidität trachtet, auch von der Musik echte Früchte und einen höheren Nuzen. Er verweist uns auf die hellenistische Musikauffassung, auf ihre Lehre vom Ethos in der Musik, von ihren moralischen Wirkungen. Von den Beziehungen, die griechische Staatsmänner, Philosophen und Dichter zwischen dem Ton und der menschlichen Seele angenommen haben, müßte jeder gebildete Musikfreund wenigstens die Hauptsachen kennen." Die ganze Lehre vom griechischen Ethos faßt Kretschmar kurz in die Formel zusammen: „Die Musik ist eine Sprache." Eine Sprache, welche die Worte erseht und ergänzt, welche da einseht, wo das Sprachvermögen fehlt oder nicht mehr ausreicht. Ja, Kretschmar geht so weit, zu behaupten: „Der wirklich Unmusikalische lebt kein volles inneres Leben." Ganz besonders unserer Zeit mit besonders unserer Zeit mit ihren Aufgaben und Kämpfen hält er die Musik für unentbehrlich, denn ihre Hauptwirkung besteht darin, daß der Empfindungsapparat bis auf die höchsten Grade von Leichtigkeit und Stärke eingespielt wird." Und weiter: Der im griechischen Sinne musikalische Mensch übertrifft den übertrifft den im übrigen gleichbegabten Amusischen an Zartgefühl und Begeisterungsfähigkeit, so daß man sagen kann, musikalisch begabte und gut erzogene Naturen gelangen zu einem natürlichen Adel der Seele, die Musik gleicht bis zu gewissem Grade

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JAN 26 1903

CAMBRIDGE MASS.

selbst geringe Herkunft aus und hilft Lücken der Bildung schneller beseitigen."

In einem anderen Kapitel verbreitet Kretschmar sich über den Musikunterricht in der Volksschule und auf den höheren Lehranstalten. Er vertritt die Ansicht, daß heute, wo der Gesangunterricht in den Schulen für große Kreise die einzige Wurzel der musikalischen Volkskraft ist," der Gesangunterricht in den Volksschulen nicht bloß eine musikalische Zeitfrage, sondern eine allgemeine Kulturfrage bedeutet, an der mitzuarbeiten, die Pflicht aller Berufenen ist. Die Behörden haben bereits mit der Einführung des methodischen Unterrichts den richtigen Weg zu einer Reform beschritten, aber um diese Reform wirksam durchführen zu können, verlangt Kretschmar vor allem gründlichere Ausbildung der Gesanglehrer. Der Musikunterricht auf den Seminarien," schreibt er, müßte nicht Chorsänger, sondern Solosänger ausbilden, Gesanglehrer, die die Natur der Kinderstimme genau kennen und die es verstehen, die Jugend bei den musikalischen Elementen zu fesseln und durch die Elemente lernfreudig zu machen."

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Während der Gesangunterricht in den Volksschulen nach Kretschmars Ausführungen bereits in der Reform begriffen ist, leistet das Gymnasium für Musik und Musikliebe heute viel weniger als in früheren Jahrhunderten. Früher war durch die überall bestehenden Schulchöre die ganze Sphäre der Gymnasien musikalisch, während heute, weil durch die übliche Dispensation der Gesangunterricht aus einem obligatorischen in einen fakultativen Lehrgegenstand verwandelt ist, das Gymnasium für die Musik so gut wie verloren ist. Die Ahwendung von der Musik in den gelehrten und ge= bildeten Ständen, die bereits früher erwähnt wurde, erklärt sich zum großen Teil durch die musiklose Gymnasialerziehung.

Die erste Bedingung zur Reform sieht Kretschmar in der Aufhebung der Dispensation. Dann aber verlangt er für den Gesangunterricht „studierte, den übrigen Schulkollegen in Bildung und Stellung ebenbürtige Männer, die den Gegenstand im Geiste der Schule und im Einklang mit ihren Ideen und Interessen zu behandeln wissen." "Der Gesangunterricht auf den Gymnasien," schließt Kretschmar seine Betrachtungen, ist eine der wichtigsten musikalischen Zeitfragen; sie umschließt das Verhältnis zwischen höherer Bildung und Musik, das nur zum Schaden beider Teile gelöst werden kann."

Auch den musikalischen Privatunterricht unterzieht der Verfasser einer scharfen Kritik und kommt zu dem Schluß, daß bei quantitativer Zunahme der musikalische Privatunterricht qualitativ stark im Rückschritt begriffen ist. Mit Recht verwirft er die scharfen Grenzen, die heute zwischen der Ausbildung des Dilettanten und der des Musikers gezogen werden. In In früheren Jahrhunderten war die gründliche Ausbildung für die Dilettanten durchschnittlich gerade so selbstverständlich wie

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für die Musiker, und das Hauskonzert in den Familien, das von Martin Luther, S. Bach und vielen anderen als ihre größte häusliche Freude geschildert wird, bildete einen Hauptbestandteil der Musikpflege. Heute erhalten wir durch Lehrer, die selbst in Gehör und Gedächtnis schwach und zu bequem sind, den Schüler in das Formenwesen, in die innere, geistige Seite der Musik einzuweihen, Pianisten, die mit den Fingern Fugen und Sonaten beherrschen, im Grunde aber gänzlich unmusikalisch geblieben sind. Die Folge davon ist die Mattigkeit des musikalischen Empfindens unter den Klavierdilettanten. Niemand," verlangt Kretschmar, sollte zum Klavier zugelassen werden ohne gutes Gehör und gutes Tongedächtnis. Die Bildungsfähigkeit von Fingern und Händen kommt erst in Betracht, wenn diese allgemeinen musikalischen Eigenschaften feststehen. Andererseits ist es die erste Pflicht des guten Klavierlehrers, die musikalische Natur seiner Schüler zu entwickeln und zur größtmöglichen Reife zu bringen. Nach diesem Grundsah sollten Eltern die Männer und Frauen aussuchen, denen sie ihre Kinder zum Unterricht anvertrauen." Nachdem der Verfasser sich ausführlich über die Vortragskunst verbreitet hat, schließt er seine Betrachtungen wie folgt: „Gelingt es dem Privatunterricht, lauter echt musikalische, d. h. musik verständige Dilettanten, Spieler und Hörer, die sich an guter Musik wirklich innerlich und bewußt delektieren, zu erziehen, dann wird die Verbreitung des Klavierspiels, seine Vorherrschaft sich als Gewinn und als Segen für den künstlerischen Sinn der Menschheit erweisen. Dann wird auch die Musikflucht der Gebildeten von selbst sich wesentlich mindern.“

Für die Ausbildung der Fachmusiker verlangt Kretschmar zunächst die Unterlage der allgemeinen Bildung, die heute leider in vielen Fällen fehlt, so daß der Musikerstand heute intellektuell weit unter dem Niveau der früheren Zeit steht und von den höheren Gesellschaftsklassen mit Mißtrauen betrachtet wird. Diesem Mangel an gediegener, allgemeiner Bildung schreibt er die häufige Geistlosigkeit der Aufführungen und Vorträge zu, das Kleben am Sinnlichen und Formellen, das in unserem Konzertleben so oft zu Tage tritt und ebenso die Unfähigkeit der Musiker, rechtzeitig Reformen zu verlangen und durchzuführen.

Interessant sind Kretschmars Ausführungen über die Musik auf den Universitäten. Er weist nach, daß Er weist nach, daß seit dem fünfzehnten Jahrhundert die Musik auf den Universitäten eifrig betrieben wurde und zwar nicht zum Vergnügen", sondern, daß die Kenntnis der Musik, in voller Gleichberechtigung mit den gelehrten Fächern, obligatorisch war für jeden Studenten. Eine Folge davon war, daß im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert die Universitäten und Studenten wichtige Förderer der deutschen Musik bildeten. Nicht nur daß eine Menge Kompositionen für Studenten geschrieben wurden, sie waren auch selbst als Komponisten tätig. So verdankt unser heutiges begleitetes Sololied, der stärkste und originellste Zweig unserer deutschen Kunst, seine Entstehung den Universitäten des siebzehnten Jahrhunderts. Der erste Liederkomponist war ein Leipziger Student, ihm folgten Professoren und Studenten anderer Universitäten, die das Lied allmählich zu einer hohen Blüte brachten und noch bis ans Ende des achtzehnten Jahrhunderts nahmen die Akademiker unter den Liederkomponisten einen hervorragenden Plah ein. Auch die Oper hat von dem starken Kunstsinn der alten deutschen

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Studentenschaft Nußen gezogen. Sie wären hier die besten Stühen des nationalen Gedankens gegenüber dem italienischen Musikdrama und kämpften uner müdlich für das Zustandekommen einer selbständigen deutschen Oper.

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Am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts gründet ein Leipziger Student das erste collegium musicum. Zwei Jahrzehnte später bestehen schon drei studentische Konzertvereine; einen derselben dirigiert kein Geringerer als Sebastian Bach. Erst nach dem Beispiel der Studentenschaft bilden die bürgerlichen Kreise ihr Großes Konzert", aus dem sich das heutige Gewandhauskonzert entwickelt hat. Und ähnlich wie in Leipzig ist es in ganz Deutschland. Die Studenten wirken in diesen Konzerten als Sänger sowie als Instrumentalisten und sind berühmt als „treffliche Musiker". Bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein gelten die akademischen Konzerte der Universität Göttingen weithin als Muster. Der ungünstige Umschwung in der Stellung der deutschen Universitäten zur Musik, schreibt Kretschmar, wird zu derselben Zeit bemerkbar, wo auch die Kirche unmusikalisch zu werden beginnt und die Liturgie verfallen läßt: in der Periode des Pietismus und des Rationalismus. Als Kirche und Gesellschaft gegen die Musik gleichgültiger wurden, verlor die Musik an den Universitäten alle Bedeutung. Am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts waren die alten studentischen Collegia musica bis auf Reste verschwunden, die musikalische Kraft der akademischen Jugend schien verfiegt."

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Kurz vor den Freiheitskriegen entstanden aus der patriotischen Begeisterung heraus studentische Männerhöre an den Universitäten, in Form akademischer Liedertafeln. Aber schon um 1840 sind diese Chöre von den Universitäten wieder verschwunden. In neuerer Zeit wird, wieder auf Anregung von Leipzig, der Chorgesang an den Universitäten wieder mehr gepflegt, allerdings in kunstloserer Form als früher.

Für einen Zweig der Musik sind jedoch die Universitäten heute wichtiger als je geworden, das ist die Musikwissenschaft. Im Gegensah zu früher haben wir heute eigene Lehrstühle für Musikwissenschaft und Musikgeschichte. Die Zahl der musikalischen Dissertationen wächst von Jahr zu Jahr. Kretschmar begrüßt diese Tatsache als einen erfreulichen Fortschritt; er hofft, daß es den Universitäten gelingen werde, den Musikerstand vor der drohenden Plebejerherrschaft zu bewahren und Musiker und Musikfreunde zu erziehen, die mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Arbeit ausgerüstet an die Kunst herantreten. Vor allen Dingen aber verlangt Kretschmar von dem Musikkritiker Geschichtskenntnisse und Universitätsbildung. Und mit Recht. Denn es ist eine bedauerliche Tatsache, daß gerade die Musikkritik häufig von Leuten ausgeführt wird, die gar nicht oder höchst mangelhaft für diesen Beruf vorbereitet sind. Es ist aber äußerst wichtig, daß der musikalische Kritiker, der jeder Art von Kunstleistung, produktiver und reproduktiver, überlegen gegenüber stehen soll, seinen Mangel an praktischer Erfahrung durch Weite des Gesichtskreises, durch Verständnis und durch ein bedeutendes Wissen auszugleichen imstande sei.

Nachdem Kretschmar sich ausführlich über die heute höchst mangelhafte Gelegenheit zur Weiterbildung und die mehr als traurigen Erwerbsverhältnisse der Musiker verbreitet hat, kommt er zu dem Schluß, daß ein engerer Zusammenschluß aller Musiker, ein reges und wolge

ordnetes Vereinsleben, das den ganzen Stand umfaßt, nötig sei und daß vor allem das Agententum aus dem modernen Musikwesen wieder ausgeschaltet und an dessen Stelle eine von rein künstlerischen Interessen ge= leitete Zentralstelle für Solisten und Stellenvermittlung gesetzt werden müsse.

In ihrer Verwendung unterscheidet Kretschmar die Musik als dienende und als freie Kunst. Dienend ist sie überall da, wo sie sich ins öffentliche und bürgerliche Leben einfügt, frei nur da, wo das musikalische Kunstwerk rein und allein wirken soll. Kretschmar weist nach, daß in früheren Jahrhunderten die Musik als dienende Kunst in innigem Zusammenhang mit dem Leben stand. Die alte Zeit erhob die Musikpflege um des Volkes willen zur Gemeindesache. Die Schulchöre, die amtlichen Spielleute hatten die Aufgabe, die Bürger zu bestimmten Tageszeiten, an Sonn- und Feiertagen und bei allen festlichen Gelegenheiten durch Musik zu erfreuen, so daß die Musik die teilnehmende Freundin und Trösterin unserer Vorfahren auf allen Lebenswegen bildete.

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Mit der Beseitigung dieser alten Bräuche", schreibt Kretschmar, „ist der Nußen der Musik bedeutend eingeengt worden". Viele offene Herzen entbehren ihres Segens, die musikalischen Regungen, die gehobenen Augenblicke und Stunden, die auch im einfachsten Lebenslauf auftreten, bleiben unbefriedigt. Die Musik fehlt da am häufigsten, wo sie am nötigsten gebraucht wird, sie wird denen, die sie nicht jederzeit aufsuchen können, entfremdet." Der Verfasser wendet sich dann gegen die vornehm abweisende Haltung, welche die deutschen Musiker augenblicklich gegen alles, was zur Musik als dienender Kunst gehört, bewahren. Der Musik als freier Kunst räumt er nur einen Play unumschränkt ein: das Lehr- und Studienzimmer. Mit Recht verwirft er auch für die Musik die Anschauung des l'art pour l'art!" Er verlangt, daß die Musik wieder einen breiteren Platz im Volksleben einnehme und von der reichen Macht, die sie als dienende Kunst besigt, größeren Gebrauch mache.

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Zum Schluß beschäftigt sich Kretschmar mit der Frage, ob Stand oder Staat? Er stellt fest, daß im Gegensatz zu allen anderen Ständen die Musiker organisationslos geblieben sind und erklärt daraus ihre Machtlosigkeit, Resignation und Gleichgültigkeit. Der Korporationsgeist ist einem kleinlichen Egoismus gewichen; dem Musiker wird heute mehr als jedem andern der Lebensweg erschwert. Um den vielen Schäden, die immer drohender werden, zu steuern, schlägt Kretschmar vor, daß die Regierungen die Sache in die Hand nehmen. „Es ist eine Existenzfrage für die Musik“, meint er, daß der Staat den Stand mit seiner Autorität, mit seiner Polizeigewalt unterstüßt, daß er die Berufs musiker erst in einen wirklichen, organisierten Stand sammelt, sei es gütlich oder zwangsweise." Und weiter: Der ungeheure Einfluß, den die Musik auf den Charakter des Volkes ausübt, rechtfertigt, ja er nötigt dazu, daß der Staat ihre Pflege nicht bloß beachtet, sondern daß er die Kontrolle und Verantwortung übernimmt". Das Zusammenwirken obligatorischer Tonfünstlervereine mit den Kultusministerien hält Kretschmar für den besten Weg, die Zukunft der deutschen Musik | und der Musiker vollständig zu sichern und er schließt seine Betrachtungen, indem er die zu Beginn gestellte Frage mit der Formel beantwortet: „Stand und Staat!"

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Gedichte.

Großmutter.

Und Herbst auf Herbst neigt sich zum Winter und Winter auf Winter dem Frühling zu, manch braune Locken sind weiß geworden und manche modern in Grabesruh.

Längst hast du verlernt das kindliche Staunen,
daß wieder und wieder ein Jahr vorbei,
gelassen siehst du das alte scheiden,
dir ist das neue Jahr nicht neu.

Es wird wol schweres mit sich führen,
das trägst du schon, du weinst nicht oft,
wenn's auch ein Lächeln dir vergönnet,
so bringt es mehr, als du gehofft.
Wenn dann vor deinem stillen Fenster
die Linde knospt und duftend blüht,
zieht dir vielleicht aus alten Tagen
ein Frühlingstraum durch dein Gemüt.

Wo die Bäume brechen wollten
unter der Blüten jubelnder Last,
wo die Vögel alle sangen,
wo auch du gesungen hast!

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Wo aber du des Abends harrst, des Abends, der die Freude bringen soll, o segne all die langen, bangen Stunden, da harrend du die Freude vorgenießt! Wenn du, die Haare lösend, kindisch spielend die Locken durch die Finger gleiten läßt, des Sonnenstrahls dich freust, der sie vergoldet, dich heimlich grämst, daß einer es nicht sieht, wol hundertmal das Haar zum Knoten schlingst, und nie zufrieden stets von neuem löst. Zuleht verbirgst du seine Lieblingslocke, die er so gern um seinen Finger rollt, um sie beim ersten Hall von seinen Tritten, mit Hast aus ihrem Dunkel vorzuziehn. O kindisch, göttlich kindisch, närrisch, tolle, o wunderbare, lange, bange Stunden, wo man des Abends harrt, des Abends, der die Freude bringen soll!

für die Musiker, und das Hauskonzert in den Familien, das von Martin Luther, S. Bach und vielen anderen als ihre größte häusliche Freude geschildert wird, bildete einen Hauptbestandteil der Musikpflege. Heute erhalten wir durch Lehrer, die selbst in Gehör und Gedächtnis schwach und zu bequem sind, den Schüler in das Formenwesen, in die innere, geistige Seite der Musik einzuweihen, Pianisten, die mit den Fingern Fugen und Sonaten beherrschen, im Grunde aber gänzlich unmusikalisch geblieben sind. Die Folge davon ist die Mattigkeit des musikalischen Empfindens unter den Klavierdilettanten. Niemand," verlangt Kretschmar, sollte zum Klavier zugelassen werden ohne gutes Gehör und gutes Tongedächtnis. Die Bildungsfähigkeit von Fingern und Händen kommt erst in Betracht, wenn diese allgemeinen musikalischen Eigenschaften feststehen. Andererseits ist es die erste Pflicht des guten Klavierlehrers, die musikalische Natur seiner Schüler zu entwickeln und zur größtmöglichen Reife zu bringen. Nach diesem Grundsatz sollten Eltern die Männer und Frauen aussuchen, denen sie ihre Kinder zum Unter richt anvertrauen." Nachdem der Verfasser sich ausführlich über die Vortragskunst verbreitet hat, schließt er seine Betrachtungen wie folgt: „Gelingt es dem Privatunterricht, lauter echt musikalische, d. h. musikverständige Dilettanten, Spieler und Hörer, die sich an guter Musik wirklich innerlich und bewußt delektieren, zu erziehen, dann wird die Verbreitung des Klavier spiels, seine Vorherrschaft sich als Gewinn und als Segen für den künstlerischen Sinn der Menschheit erweisen. Dann wird auch die Musikflucht der Gebildeten von selbst sich wesentlich mindern."

Für die Ausbildung der Fachmusiker verlangt Kretschmar zunächst die Unterlage der allgemeinen Bildung, die heute leider in vielen Fällen fehlt, so daß der Musikerstand heute intellektuell weit unter dem Niveau der früheren Zeit steht und von den höheren Gesellschaftsklassen mit Mißtrauen betrachtet wird. Diesem Mangel an gediegener, allgemeiner Bildung schreibt er die häufige Geistlosigkeit der Aufführungen und Vorträge zu, das Kleben am Sinnlichen und Formellen, das in unserem Konzertleben so oft zu Tage tritt und ebenso die Unfähigkeit der Musiker, rechtzeitig Reformen zu verlangen und durchzuführen.

Interessant sind Kretschmars Ausführungen über die Musik auf den Universitäten. Er weist nach, daß seit dem fünfzehnten Jahrhundert die Musik auf den Universitäten eifrig betrieben wurde und zwar nicht zum Vergnügen", sondern, daß die Kenntnis der Musik, in voller Gleichberechtigung mit den gelehrten Fächern, obligatorisch war für jeden Studenten. Eine Folge davon war, daß im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert die Universitäten und Studenten wichtige Förderer der deutschen Musik bildeten. Nicht nur daß eine Menge Kompositionen für Studenten geschrieben wurden, sie waren auch selbst als Komponisten tätig. So verdankt unser heutiges begleitetes Sololied, der stärkste und originellste Zweig unserer deutschen Kunst, seine Entstehung den Universitäten des siebzehnten Jahrhunderts. Der erste Liederkomponist war ein Leipziger Student, ihm folgten Professoren und Studenten anderer Universitäten, die das Lied allmählich zu einer hohen Blüte brachten und noch bis ans Ende des achtzehnten Jahrhunderts nahmen die Akademiker unter den Liederkomponisten einen hervorragenden Plah ein. Auch die Oper hat von dem starken Kunstsinn der alten deutschen

Studentenschaft Nutzen gezogen. Sie wären hier die besten Stützen des nationalen Gedankens gegenüber dem italienischen Musikdrama und kämpften unermüdlich für das Zustandekommen einer selbständigen deutschen Oper.

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Am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts gründet ein Leipziger Student das erste collegium musicum. Zwei Jahrzehnte später bestehen schon drei studentische Konzertvereine; einen derselben dirigiert kein Geringerer als Sebastian Bach. als Sebastian Bach. Erst nach dem Beispiel der Studentenschaft bilden die bürgerlichen Kreise ihr Großes Konzert", aus dem sich das heutige Gewandhauskonzert entwickelt hat. Und ähnlich wie in Leipzig ist es in ganz Deutschland. Die Studenten wirken in diesen Konzerten als Sänger sowie als Instrumentalisten und sind berühmt als treffliche Musiker". Bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein gelten die akademischen Konzerte der Universität Göttingen weithin als Muster. Der ungünstige Umschwung in der Stellung der deutschen Universitäten zur Musik, schreibt Kretschmar, wird zu derselben Zeit bemerkbar, wo auch die Kirche unmusikalisch zu werden beginnt und die Liturgie verfallen läßt: in der Periode des Pietismus und des Rationalismus. Als Kirche und Gesellschaft gegen die Musik gleichgültiger wurden, verlor die Musik an den Universitäten alle Bedeutung. Am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts waren die alten studentischen Collegia musica bis auf Reste verschwunden, die musikalische Kraft der akademischen Jugend schien verfiegt."

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Kurz vor den Freiheitskriegen entstanden aus der patriotischen Begeisterung heraus studentische Männerhöre an den Universitäten, in Form akademischer Liedertafeln. Aber schon um 1840 sind diese Chöre von den Universitäten wieder verschwunden. In neuerer Zeit wird, wieder auf Anregung von Leipzig, der Chorgesang an den Universitäten wieder mehr gepflegt, allerdings in kunstloserer Form als früher.

Für einen Zweig der Musik sind jedoch die Universitäten heute wichtiger als je geworden, das ist die Musikwissenschaft. Im Gegensatz zu früher haben wir heute eigene Lehrstühle für Musikwissenschaft_und Musikgeschichte. Die Zahl der musikalischen Dissertationen wächst von Jahr zu Jahr. Kretschmar begrüßt diese Tatsache als einen erfreulichen Fortschritt; er hofft, daß es den Universitäten gelingen werde, den Musikerstand vor der drohenden Plebejerherrschaft zu bewahren und Musiker und Musikfreunde zu erziehen, die mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Arbeit ausgerüstet an die Kunst herantreten. Vor allen Dingen aber verlangt Kretschmar von dem Musikkritiker Geschichtskenntnisse und Universitätsbildung. Und mit Recht. Denn es ist eine bedauerliche Tatsache, daß gerade die Musikkritik häufig von Leuten ausgeführt wird, die gar nicht oder höchst mangelhaft für diesen Beruf vorbereitet sind. Es ist aber äußerst wichtig, daß der musikalische Kritiker, der jeder Art von Kunstleistung, produktiver und reproduktiver, überlegen gegenüber stehen soll, seinen Mangei an praktischer Erfahrung durch Weite des Gesichtskreises, durch Verständnis und durch ein bedeutendes Wissen auszugleichen imstande sei.

Nachdem Kretschmar sich ausführlich über die heute höchst mangelhafte Gelegenheit zur Weiterbildung und die mehr als traurigen Erwerbsverhältnisse der Musiker verbreitet hat, kommt er zu dem Schluß, daß ein engerer Zusammenschluß aller Musiker, ein reges und wolge

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