Billeder på siden
PDF
ePub

entdeckten Boden mit Sorgfalt und Liebe zu pflegen und zu bearbeiten.

Nun bildet aber ein jeder Mensch, das Kind, der Jüngling, der Mann, der Greis, nur den Theil eines organischen Ganzen, der menschlichen Gesellschaft. In diesem Gesammtorganismus nimmt ein jedes Individuum irgend eine besondere Stellung ein, füllt irgend einen bestimmten Beruf aus, ist irgend welcher speciellen Arbeit ergeben, hat einen mehr oder weniger bestimmten, weiteren oder engeren Wirkungskreis.

In Folge dessen entwickelt sich ein jedes Individuum, als Mitglied dieser oder jener socialen Gruppe, durch Vererbung und Anpassung an die Lebensverhältnisse der gegebenen Sphäre mehr oder weniger, nach dieser oder jener speciellen Richtung. Der eine gelangt durch Geburt, Erziehung oder durch seine gesellschaftliche Stellung zur vollen Entwickelung seines Nervensystems, der andere bleibt auf einer niederen Stufe stehen, der dritte geht nicht über den Urmenschen hinaus oder wird zu demselben herabgewürdigt. Da keine absolute Gleichheit überhaupt, also auch nicht in der menschlichen Gesellschaft, möglich ist, so stellt uns ein jeder sociale Organismus in höherem oder niederem Grade eine Vereinigung von Abstufungen der Entwickelungsgeschichte der Menschheit in der Person einzelner, auf verschiedenen Stufen der Entwickelung stehender, Individuen dar.

Also das Uebereinander nicht nur im einzelnen Individuum, sondern noch mehr, weil noch ausgeprägter, in jeder socialen Gruppe, als individuellen Einheit, bietet ein reales Objekt zur Begründung der Entwickelungsgeschichte der Menschheit dar. Und so wie wir, auf den festen Boden unserer Erde uns stützend, die Himmelsräume durchmessen und die Bewegungen der entferntesten Himmelskörper berechnen, so wird es auch möglich sein, die Evolutionsbewegungen der Menschheit für die entfernteste Vergangenheit und noch entferntere Zukunft zu bestimmen, sobald die Wissenschaft sich auf den festen Boden der individuellen Entwickelung des Menschen und der menschlichen Gesellschaft, als realen Organismus, stützen wird. —

Wenn nun die menschliche Gesellschaft im Uebereinander eine folgerechte Abstufung der Bionten darbietet, die derjenigen im Nacheinander der Geschichte entspricht, so finden wir die dritte Parallele im Nebeneinander der in verschiedenen Ländern

auf verschiedenen Stufen der Barbarei und Kultur befindlichen Zweige des jetzt lebenden Menschengeschlechts: einerseits den dem Urmenschen sich nähernden Buschmann oder Australneger, anderseits den hochentwickelten Europäer. Das sind die beiden Enden einer langen Kette von Entwickelungsstufen, die von zwischen diesen Extremen stehenden Racen und Geschlechtern ausgefüllt werden. Sind da nicht alle Epochen der ganzen Entwickelungsgeschichte der Menschheit räumlich neben einander gestellt? Und dieses Nebeneinander, entspricht es nicht im Grossen und Ganzen dem Nacheinander und dem Uebereinander? Denn der jetzt lebende Papua reicht gewiss nicht weit über den Urmenschen hinaus und der jetzige Fellah nicht über den des Alterthums. Und schliesst nicht eine jede sogenannte civilisirte Gesellschaft mehr oder weniger alle Abstufungen der Entwickelung in sich, angefangen von der rohesten Barbarei bis zu solchen Geistern, welche in ihrer Entwickelung alle Zeitgenossen überflügeln und in die Zukunft hineinragen? Daher ist es, um die Urgeschichte und die Barbarei zu studiren, nicht immer nöthig, die Wilden in ihren Einöden aufzusuchen. Eine jede Gesellschaft besitzt auch ihre Wilden, die in ethischer und geistiger Hinsicht sich nicht über den affenähnlichen Urmenschen erheben.

Carpenter sagt: Wer an der Versunkenheit einzelner Menschenklassen in England zweifelt und glaubt, dass diese vor den niedrigsten Menschenstämmen etwas voraus haben, der lese das Buch: London Labour and London Poor, und er wird zu seinem Erstaunen die grösste Aehnlichkeit finden. <*)

[ocr errors]

Die Ethnographie und die Anthropologie haben in den letzten Jahrzehnten mit grossem Eifer das Gebiet der Naturvölker bearbeitet. Das umfangreiche Werk von Waitz: > Anthropologie der Naturvölker‹ und die › Völkerkunde‹ von Peschel enthalten in Kurzem das von der Wissenschaft auf diesem Gebiete Errungene und Gesammelte.

Alles im Gebiete der Anthropologie und Ethnologie gesammelte Material über die jetzt lebenden wilden Völker hat sich nun in erstaunlicher Weise als übereinstimmend mit den von der Geschichte überlieferten Nachrichten über den Kulturzustand der verschiedenen Epochen erwiesen und dient als unumstösslicher Beweis für das Gesetz des dreifachen Parallelismus zwi

*) Die Einheit des Menschengeschlechts, von P. M. Rauch, S. 42.

schen dem Nebeneinander, Nacheinander und Uebereinander in der menschlichen Gesellschaft.

Das Nacheinander muss vorzugsweise als Objekt der Geschichte, das Nebeneinander vorzugsweise als Objekt der Anthropologie und Ethnologie, das Uebereinander vorzugsweise als Objekt der Socialwissenschaft im engeren Sinne angesehen werden. Das ganze Gebiet wird von der Sociologie im weiteren Sinne umfasst und erforscht.

Tylor hat in seiner > Urgeschichte der Menschheit< eine grosse Masse richtiger und feiner Beobachtungen über die auch inmitten der höher civilisirten Gesellschaften vorzufindenden Ueberbleibsel (survivals) früherer Kulturepochen zusammengestellt. Zu solchen survivals gehören, nach Tylor, diejenigen Gebräuche, Sitten, Anschauungen, Einrichtungen, welche durch verschiedene Verhältnisse und durch die Macht der Gewohnheit aus früheren Zeiten in ein späteres Stadium der socialen Entwickelung übergeführt worden sind. Als Beispiele von dergleichen Ueberbleibseln führt Tylor die noch bis jetzt gebräuchlichen Ordalien, das Anzünden der Johannisfeuer, die Todtenfeier der Bauern in der Bretagne etc. an. Oft dient, was früher in vollem Ernst geglaubt und gethan wurde, den späteren Generationen als Zeitvertreib und Belustigung. Sehr viele unserer jetzigen Kinderspiele und Kindermärchen leiten ihren Ursprung von der grauen Vorzeit ab, als diese Spiele und Märchen eine civilisatorische Bedeutung für die Menschheit hatten. Jetzt dienen Pfeil und Bogen, diese mörderischen Waffen unserer Vorfahren, nur als Spielzeug der Dorfjugend. Ebenso dient das Schiessen mit der Armbrust zu jetziger Zeit nur als Zeitvertreib. Das Zählen nach Fingern gehört jetzt der Kinderstube an, diente aber früher als einziges Hülfsmittel für jegliche Berechnung. Als Beweis dafür dient, dass in den meisten Sprachen in der Benennung und Bezeichnung der Zahlen noch Spuren der Berechnung nach Fingern an Händen und Füssen vorhanden sind. Viele wilden Völker sagen statt sechs eine Hand und ein Finger, statt sieben eine Hand und zwei Finger, statt eilf zwei Hände und ein Finger, statt sechszehn zwei Hände, ein Fuss und ein Finger etc. In allen indogermanischen Sprachen ist die Benennung der Zahlen auf das Decimalsystem gegründet; in der französischen hat sich sogar in den Zahlen (70 und 90)

das Vingtesimalsystem erhalten. Der erste, der unter den Urvölkern nach den Fingern zu zählen begann, ist gewiss ein Pythagoras, Archimedes oder Newton gewesen. Jetzt dient dieser Modus als Hülfe für die Kinderwelt.

Tylor unterscheidet ausserdem das Sichüberleben der socialen Erscheinungen vom neuen Aufleben derselben. >Nicht selten‹, sagt er, tauchen zur Verwunderung Aller plötzlich uralte Ideen oder Gebräuche wieder auf, welche längst als abgestorben angesehen wurden.< Als Beispiel dafür führt Tylor das Erscheinen des modernen Spiritismus an.

Tylor hat aber vorzugsweise nur den äusseren Ausdruck, die äusseren Formen der sich im socialen Organismus überlebenden Kräfte im Auge gehabt. Seine Beobachtungen beschränken sich in dieser Hinsicht fast ausschliesslich auf die Interzellularsubstanz des socialen Organismus.

Tylor hat

nur die letztere im Auge gehabt, indem er die scharfsinnige Bemerkung machte, dass wir uns nur in unserem Zimmer umzusehen brauchen, um an der Lage ein Karnies mit einer griechischen Bordüre, einen Spiegel, der im Style Ludwig XIV eingerahmt ist, u. s. w. zu erblicken. Die lächerlichen Kurzchaisen der deutschen Postillone, die Kragen der anglicanischen Prediger sind gleichfalls nur Ueberbleibsel früherer Epochen.

Sogar die Ueberbleibsel früherer Epochen in Sitten und Gebräuchen, in Redensarten und Sprachausdrücken gehören immer nur zur Interzellularsubstanz. Woher stammen aber diese Ueberbleibsel in der Interzellularsubstanz? Es unterliegt keinem Zweifel, dass sie von den Zellen, das heisst von den Indivi duen herstammen. Gewisse Gebräuche, Sitten, Anschauungen, Sprachausdrücke aus früheren Epochen erhalten sich als Interzellularsubstanz auch in späteren Zeiten, weil eine gewisse Zahl von Individuen in der Gesellschaft sich auf der Entwickelungsstufe jener Epochen noch befindet und sie nicht überschreitet. Kinder zählen nach Fingern, glauben an Märchen und legen oft einen wilden Zerstörungstrieb an den Tag, weil ihre Geistesfähigkeiten und ihre ethischen Anlagen denjenigen des Urmenschen gleichkommen. Der geistig und moralisch rohe und unentwickelte Mensch fühlt und denkt wie der Wilde auch inmitten einer hochcivilisirten Gesellschaft; seine Sprache besteht fast aus eben so wenig

Worten, wie die des Wilden, und diese Worte drücken meistentheils nur die alltäglichsten concreten Gegenstände und Begriffe aus. >Häufig genug, sagt Büchner, kann man lesen, wie vor den Zuchtpolizeigerichten grosser Städte, wie Paris oder London, fortwährend Menschen erscheinen, welche von den Begriffen, die man mit den Worten Gott, Unsterblichkeit, Religion und dergl. verbindet, auch nicht die leiseste Ahnung besitzen. Der letzte Census in England hat nachgewiesen, dass daselbst sechs Millionen Menschen leben, die nie die Schwelle einer Kirche betreten haben und die nicht wissen, welcher Sekte oder welchem Glaubensbekenntniss sie angehören. <*) >Man rechnet gegenwärtig in England eine Million Menschen, die nicht getauft sind und die sich zu keiner religiösen Gemeinschaft zählen. >> Was können Sie mir über Jesus Christus sagen?<< frug ein Geistlicher einen der Londoner Strassen-Menschen. >>Ich habe nie von dem Gentleman gehört! << war die Antwort.< **)

Sind das nicht Wilde? Diese unentwickelten oder halbentwickelten Naturen sind Ueberbleibsel früherer Epochen, weil sie mit der neueren Zeit nicht gleichen Schritt halten, und die von Tylor hervorgehobenen Ueberbleibsel in Sitten, Anschauungen, Sprache, in Werkzeugen, Wohnungsweise, Lebensverhältnissen u. s. w. sind mehr oder weniger, direkt oder indirekt durch die Anwesenheit von auf verschiedenen Stufen der geistigen und ethischen Entwickelung stehenden Gliedern der Gesellschaft bedingt. Dieses letzte Moment hat Tylor ausser Acht gelassen und daher nur einen Theil der Frage, obgleich mit sehr viel Scharfsinn und Gewissenhaftigkeit, gelöst.

Wenn noch jetzt in Kärnthen der Bauer eine Schale mit Speise vor seinem Hause während eines Ungewitters ausstellt, damit der Sturm sich sättigen könne; wenn der Landmann in einigen Gegenden Schwabens, Tyrols und der Oberpfalz noch jetzt eine Hand voll Mehl in den Wind wirft und dabei ausruft: Da, Wind, hast du Mehl für dein Kind, aber aufhören musst du<; wenn in Pommern der am Fieber leidende Mann aus dem Volke sich noch jetzt an die aufgehende Sonne mit der Bitte wendet, bald unterzugehen und seine siebenundsiebenzig

*) Kraft und Stoff S. 215.

**) Ebendas.

« ForrigeFortsæt »