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seiner stufenweisen Ausbildung nicht seinen Ursprung verläugnen kann, sondern stets alle niederen Phasen und Seiten der vorhergehenden Entwickelung in sich birgt, so lebt auch die menschliche Gesellschaft, gleichzeitig mit der Kundgebung geistiger Kräfte und Bedürfnisse, ein physisches Leben. Gleich den Naturorganismen ist auch der sociale Organismus von der rein physischen Umgebung und von rein materiellen Entwickelungsbedürfnissen abhängig. Als solche müssen erstens die durch die Erblichkeit bedingte rein physische Abhängigkeit und Blutsverwandtschaft der auf einander folgenden Generationen und zweitens alle physischen Bedürfnisse des Menschen, die, gleichwie die Bedürfnisse aller übrigen Naturorganismen, nur vermittelst der physischen Umgebung befriedigt werden können, hervorgehoben werden. Und eben diese materielle Verknüpfung und Abhängigkeit bekundet am meisten, wenn wir von der höheren geistigen socialen Entwickelung absehen, die Analogie der für die Ausbildung der menschlichen Gesellschaft geltenden Grundgesetze mit denen der übrigen Organismen in der Natur. Und je mehr in der Gesellschaft die physischen Lebensbedingungen vorherrschen, um so inniger tritt diese Analogie zwischen den socialen und Naturorganismen hervor. Die Familie der Urtypus jeder Gesellschaft ist in ihrer Organisation den Naturorganismen namentlich desshalb so ähnlich, weil, die geistigen Elemente abgerechnet, in ihr die physischen Bedingungen der organischen Wechselseitigkeit so deutlich hervortreten.

Die Nervenreflexe, wie überhaupt jede Bewegung, Schwingung, Wechselwirkung, können aber entweder offenbar erfolgen oder in potentiellem Zustande, in latenter Spannung verharren. So können in der politischen Sphäre der Gesellschaft Unterordnung, Einfluss, Macht sich in den Händen einzelner Personen, Stände, Institutionen oder Nationalitäten concentriren, ohne gerade positive Formen anzunehmen oder immer in bestimmten Handlungen Ausdruck zu gewinnen. Die staatliche Einheit wird bisweilen nur durch gewisse vorherrschende Gedanken, Ideen und Gefühle einer grösseren oder geringeren Anzahl der Mitglieder einer Gesellschaft, in ihrem latenten, potentiellen Verhalten in Bezug auf gemeinsame Ziele bedingt. Das Verlangen und Streben nach kirchlicher, socialer, politischer Einheit oder Absonderung können lange Zeit eine Gesellschaft, ein Volk, einen Staat, ja die ganze Menschheit nur als blosse Spannung

der Gedanken und Gefühle erfüllen und durchdringen, bevor es in dieser oder jener Form, in dieser oder jener bestimmten Richtung nach aussen zur Erscheinung kommt.

Ein solcher potentieller Spannungszustand des socialen Organismus, der noch nicht irgend welche äussere Form gewonnen hat, ist für die Entwickelung, der Gesellschaft von der grössten Bedeutung und kann zur Erklärung vieler socialen Erscheinungen in der politischen, juridischen und ökonomischen Sphäre der gesellschaftlichen Entwickelung dienen. Ja man könnte sagen, alles organische Leben beruhe auf dieser potentiellen Spannung der Kräfte. Die Kundgebung der Kräfte nach aussen ist nur ein äusserer, bisweilen schnell vorübergehender und zufälliger Ausdruck dieser Spannung. So thut sich in der politischen Sphäre die administrative, richterliche und Herrschermacht nur in besonderen ausserordentlichen Fällen offen, entschieden und in bestimmten Formen nach aussen kund. Eine viel grössere Bedeutung liegt für jede Macht in dem, was sie thun kann und in dem Ansehen, das ihr die Gesellschaft zuerkennt, als in ihren äusseren Handlungen. Die höchste staatliche Macht dient als Organ der politischen Einheit der Gesellschaft nicht desshalb, weil sie beständig äussere Thätigkeiten entfaltet, welche diese Einheit in fasslichen Formen darthun, sondern hauptsächlich desshalb, weil auf die souveraine Macht, als Repräsentant der socialen Einheit, ohne dass man es wahrnimmt, in noch potentiellem Zustande Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse, Furcht und Hoffnung einzelner Personen und Theile der Gesellschaft gerichtet sind. Diese innere latente Spannung manifestirt sich durch in äusseren Handlungen zur Wirkung kommende Kraft nur bei ausserordentlichen Gelegenheiten und Ereignissen. So offenbart sich die Anhänglichkeit des Volkes an sein angestammtes Herrscherhaus in Zeiten allgemeiner Drangsal; so thut beim Einfall eines fremden Volksstammes das Nationalgefühl sich kund durch Thaten von ungewöhnlicher Energie.

Dasselbe lässt sich auch in Bezug auf die juridische Sphäre nachweisen. Einzelne Personen, Stände, Korporationen, Institutionen sind auch in dieser Sphäre nicht beständig innerhalb bestimmter Grenzen thätig, geben ihre Thätigkeit nicht ununterbrochen nach aussen in bestimmten Handlungen und Thaten kund. Ihr Verhalten zu einander und zur ganzen Gesellschaft

ist grossentheils ein latentes, potentielles; besteht vorzugsweise in dem Streben nach bestimmten Grenzen und Formen. Nur in besonderen Fällen tritt dieses Streben nach aussen in der Form bestimmter Thaten, Abgrenzungen und Gestaltungen her

Ein eigenthümliches Beispiel dafür liefert die richterliche Gewalt selbst. Indem sie die Reflexe der einzelnen Theile des gesellschaftlichen Organismus, hinsichtlich der äusseren formell, abgegrenzten Thätigkeit der einzelnen Persönlichkeiten und Organe in sich concentrirt, reflektirt sie ihrerseits wieder die Kraft, welche die einzelnen Theile des Organismus in bestimmten Grenzen hält, zurück. Die beständige Wirksamkeit der Richtermacht besteht gerade vorzugsweise in diesem latenten, potentiellen Einfluss, welchen die Justiz auf die Gesellschaft hat. Nur in Ausnahmefällen, wenn wirklich irgend eine einzelne Person oder ein gesellschaftliches Organ die Grenzen ihrer gesetzlichen Thätigkeit überschreitet, wenn das Recht verletzt, das Gesetz verleugnet wird, tritt die richterliche Gewalt als thätiges Princip auf und bekundet ihr Dasein durch äussere Handlungen.

In der ökonomischen Sphäre geschieht dasselbe. Das ursprüngliche Motiv zu jeglicher ökonomischen Thätigkeit liegt in den dem Menschen eigenen Bedürfnissen. Das Streben nach Befriedigung der Bedürfnisse bedingt seinerseits eine auf bestimmte Gegenstände und nutzbare Güter gerichtete, von einzelnen Individuen oder ganzen socialen Gruppen ausgehende Spannung der physischen und geistigen Kräfte, die zum Zwecke hat, solche Gegenstände und Güter sich anzueignen, den eigenen Bedürfnissen anzupassen und selbige dadurch zu befriedigen. Die Bedürfnisse eines jeden Menschen sind als relativ unbegrenzte anzusehen, die Befriedigung derselben aber ist in Betracht der Mittel, durch welche sie erreicht werden kann, mehr oder minder beschränkt. Daraus folgt, dass die Production, Vertheilung und Consumtion von Gütern, im Vergleich zu dem unbegrenzten Streben Aller und jedes Einzelnen nach Befriedigung zahlloser und unendlich verschiedener Bedürfnisse, sich nur als einzelne, sehr beschränkte Thätigkeitsäusserungen kund geben können. In derselben Weise wird vermittelst des Kredits das Bedürfniss der Industrie nach Kapital befriedigt, ein Bedürfniss, das man ebenfalls unbegrenzt nennen kann, während der Kredit in seinen Mitteln und Resultaten beschränkt ist.

In der organischen und unorganischen Natur sehen wir dasselbe. Die schweren Körper auf der Erdoberfläche befinden sich unter dem Einflusse der Anziehungskraft der Erde in einer beständigen Spannung; nach aussen aber wirkt diese Kraft nur bei ausserordentlichen Anlässen: beim Emporheben, beim Fall der Körper u. s. w. Die Aethertheilchen, die vermöge verschiedener Schwingungen in uns die Empfindungen des Lichtes und der Farben zu Wege bringen, sind in beständiger Spannung zu einander, in Schwingung aber gerathen sie und erzeugen Licht und Farbenerscheinungen nur unter bestimmten Bedingungen und innerhalb bestimmter Grenzen. Alle Theile eines jeden pflanzlichen und thierischen Organismus befinden sich stets zu einander und zu der sie umgebenden Aussenwelt in einem erregten Zustande, nach aussen jedoch giebt sich dieser Zustand nur zeitweilig, periodisch als Bedürfniss nach Nahrung, Schlaf, geschlechtlicher Befriedigung u. s. w. kund. Ganz eben so ist die ganze Atmosphäre der Gesellschaft fortwährend, so zu sagen, mit einer Spannung potentieller, den sie bildenden Personen angehörender Kräfte geschwängert, und in dieser Spannung ist die anregende Ursache zu allen socialen Thätigkeiten, Erscheinungen und Begebenheiten enthalten, die beständig, und bisweilen scheinbar plötzlich und unfolgerecht, nach aussen bald als dieses oder jenes Ereigniss, bald in dieser oder jener Form, oder als irgend welche Erschütterung oder Umwälzung zu Tage treten. Unter dem Einfluss dieser Spannung ist jedes Glied der Gesellschaft, je nach dem Grade seiner persönlichen Ausbildung, seiner persönlichen Leistungsfähigkeit, seiner persönlichen Neigungen und Strebungen, mit grösserer oder geringerer Freiheit, Zweck- und Vernunftmässigkeit thätig.

Dadurch wird auch klar, wie Umstände, wie der Zeitgeist, wie die ganze Gesellschaft bestimmte Begebenheiten, Ereignisse oder grosse Männer hervorzubringen im Stande sind. Gesetzt, das gesellschaftliche Leben habe sich in einem gegebenen Moment so gestaltet, dass ein besonderes Bedürfniss nach einem. wissenschaftlichen Genie, einem Künstler, einem Heerführer empfunden wird, so erzeugt dieses Bedürfniss eine Anspannung sämmtlicher Glieder der Gesellschaft in einer bestimmten Richtung. Jeder fühlt mehr oder weniger dieses Bedürfniss und wünscht vielleicht, es persönlich zu befriedigen. Und siehe da, in der Gesellschaft erscheint eine besonders begabte Persönlichkeit,

welche dieses Bedürfniss noch stärker empfindet, und welche die bezüglichen Reflexe der Gesellschaft kräftiger, deutlicher, vielseitiger in sich aufnimmt und concentrirt. Kann nun eine

solche Persönlichkeit über genügende Fähigkeiten und Kräfte verfügen, um nicht nur den eigenen, sondern auch den Bedürfnissen der übrigen Glieder der Gesellschaft zu genügen, ist sie im Stande, die von einzelnen Persönlichkeiten empfangenen Reflexe vielseitiger und in grösserer Fülle zurück zu geben, ist sie vermögend, in sich mit grösserer Energie das zu concentriren, was in der Gesammtheit anderer Persönlichkeiten zerstreut und getheilt vorhanden ist, so wird eine solche Persönlichkeit durch ihre Handlungen, ihre Werke und ihren Einfluss eine mehr oder weniger hervorragende Bedeutung für und auf die ganze Gesellschaft erlangen. In ein anderes Medium, in andere Zeitverhältnisse versetzt, würden die Talente und Leistungen einer solchen Persönlichkeit gewiss eine völlig andere Richtung und Bedeutung erhalten haben. Anstatt eines grossen Dichters, Gelehrten und Philosophen würde etwa ein grosser Feldherr oder Staatsmann zum Vorschein gekommen sein. Mit Recht lässt sich daher behaupten, dass Zeit und Umstände grosse Männer hervorbringen.

Durch die innere Spannung, welche jeden socialen Organismus erfüllt und bedingt, lässt sich auch erklären, wie bisweilen ein einfaches Wort, eine unbedeutende Handlung, ein zufälliges Ereigniss so mächtig, wohlthätig oder zerstörend, aut das sociale Bewusstsein, auf Leben und Entwickelung der Gesellschaft einzuwirken im Stande ist. Der Grund davon liegt eben darin, dass der Boden für die gegebene Erscheinung schon vollständig durch die vorhergegangene Anhäufung einer bestimmten Spannung vorbereitet ist. Unter solchen Umständen bedarf es nur eines geringfügigen äusseren Anstosses, um die latenten Kräfte zur Kundgebung ihrer Wirkung nach aussen zu veranlassen. So erzeugt auch in der Natur nicht selten eine unbedeutende äussere Erschütterung unberechenbare Wirkungen, jedoch nur dann, wenn die Spannung der Kräfte schon so weit gediehen ist, dass ein geringfügiger äusserer Anstoss zur Entfaltung von Erscheinungen hinreicht.

Nicht nur die äussere Manifestation der Spannung der socialen Kräfte in der Form von bestimmten Wirkungen, Hand

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