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Man pflegt zur Reconstruktion der Lehre Epikur's neben den Resten der griechischen Schriftstellerei der Schule unterschiedslos auch das Lehrgedicht des Lucrez zu verwenden. Die eigenthümliche Erscheinung, dass den Inhalt einer durch mehrere Jahrhunderte sich erstreckenden Literatur die geistige Thätigkeit nur eines Mannes bildet, wird dadurch erklärt, dass die epikureische Schule Neuerungen der Doctrin principiell verbiete, dass strenges Festhalten an der Lehre des Gründers zu ihren obersten Grundsätzen gehöre. Indes ist man von dem unbedingten Vertrauen in die Einheit und Gleichartigkeit dieser Ueberlieferung doch mit Recht zurückgekommen. Gewiss sind die Grundanschauungen Epikurs mit einer starreren Energie von seiner Schule festgehalten worden, als in irgend einem anderen Kreis, aber innerhalb beschränkter Grenzen hatte auch der Epikureismus seine Entwicklung. Das eigentliche Gerüst des Systems stand freilich grundsätzlich als unerschütterlich da, aber die Erklärung der Natur im Einzelnen, τὸ κατὰ μέρος ἀκρίβωμα, liess eine weitere Ausbildung zu. Epikur selbst stellte verschiedene Erklärungen für eine Erscheinung gewissermassen zur Auswahl auf 1). Ob er die Freiheit der Einzelforschung ausdrücklich ausgesprochen

1) Seneca nat. qu. 5, 20, 5: Omnes istas posse esse causas Epicurus ait pluresque alias temptat et alios, qui aliquid unum ex istis esse adfirmaverunt, corripit, cum sit arduum de his quae conjectura sequenda sunt, aliquid certi promittere.

Bruns, Lucrez-Studien.

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hat, wissen wir nicht. Die Einleitungsworte zum Herodotbrief scheinen sie vorauszusetzen. Wenn von den Vorgeschritteneren seiner Anhänger dort gesagt wird, dass sie von den Grundsätzen dieser Epitome aus am Besten in das Einzelne der Erkenntniss eindringen werden (v ty μνήμῃ τοσοῦτον ποιητέον ἀφ ̓ οὗ ἥ τε κυριωτάτη ἐπιβολὴ ἐπὶ τὰ πράγματ ̓ ἔσται καὶ δὴ καὶ τὸ κατὰ μέρος ἀκρίβωμα πãν ¿§εupedýσetat), so kann dabei freilich gemeint sein, dass dies in seinen Schriften Alles schon im Voraus geleistet sei und auch das συνεχές ἐνέργημα ἐν φυσιολογία kann als ein beständiges Nachbeten seiner Resultate verstanden sein. Wahrscheinlicher aber ist es, dass Epikur selbst den Gesinnungsgenossen ein Feld für eigene geistige Arbeit offen gelassen. Die Schule jedenfalls fasst ihr Verhältniss zu Epikur so auf. Auch Correktur, ja das Aufgeben einzelner epikureischer Erklärungen wird principiell gebilligt. An der Untrüglichkeit der sinnlichen Wahrnehmung durfte nicht zweifeln, wer sich zur Fahne Epikurs bekannte. Das einzelne Problem der Phänomene konnte auch durch die in der Schule gültige Lösung nicht richtig erklärt sein: et si non poterit ratio dissolvere causam, cur ea quae fuerint iuxtim quadrata, procul sint visa rutunda (vgl. IV, 353) tamen praestat rationis egentem reddere mendose causas utriusque figurae, quam manibus manifesta suis emittere (Lucr. IV, 500).

Innerhalb dieser beschränkten Grenzen also ist eine Entwicklung der epikureischen Doctrin nicht ausgeschlossen. Sie liegt sehr versteckt, dennoch aber hat man neuerdings mit Recht begonnen, ihr nachzuspüren und die Differenzen innerhalb der epikureischen Schule aufzuweisen 1).

1) Hirzel, Untersuchungen zu Ciceros philosophischen Schriften Bd. 1, 98-190, Leipzig 1877.

Auch in Beziehung auf Lucrez ist die Frage aufgeworfen worden, ob er reiner Epikureer sei oder sich Aenderungen des Ueberlieferten erlaube. Ritter war der letzteren Meinung. Seine Aufstellungen sind indes seit Zellers Gegengründen fast allgemein aufgegeben worden und auch die letzte systematische Vergleichung des Lucrez mit Epikur kommt zu dem Resultat, dass wir in ihm einen stricten Epikureer zu sehen haben 1); nur in der Naturerklärung der letzten Bücher hat man fremde Einflüsse nachzuweisen gesucht 2).

Diesen und ähnlichen Untersuchungen soll ihr Werth nicht bestritten werden, aber sie ermangeln gewisser notwendiger philologischer Vorarbeiten. Für diese Fragen nützt es wenig, inhaltlich den Lucrez mit der sonst überlieferten epikureischen Doktrin zu vergleichen oder gar, wo diese nicht ausreicht, Demokrit zu Hilfe zu nehmen und danach über die philosophische Bedeutung des Lucrez zu urteilen. Ein solches Urteil wird stets ganz subjektiv bleiben. Denn was für Differenzen sich hier auch ergeben mögen, wer bürgt uns, dass sie nicht in der zwischen Epikur und Lucrez liegenden Literatur der Schule entstanden sind, von der keiner a priori behaupten kann, dass sie Lucrez nicht benützt habe?

Das Werk des Lucrez ist ein so eigenthümliches Produkt und in so seltsamer Verfassung erhalten, dass es als Gegenstand quellenhistorischer Behandlung eine Reihe von Vorfragen an uns stellt, die bei einem Hermarch, Apollodor oder Zeno, die dem engeren Kreis der Schule angehören, selbstverständlich fortfallen würden.

Sie aber sind bisher kaum gestellt, geschweige denn

1) Woltjer, Lucretii philosophia cum fontibus comparata. Groningen 1877.

2) Rusch, de Posidonio Lucreti auctore in 1. VI Greifsw. 1882.

beantwortet, teilweise vielleicht desshalb, weil sie zu nahe liegen. Und doch ist es seltsam, dass in der Sündflut lucrezischer Literatur, deren wir uns seit Lachmann erfreuen, sich nicht ein einziger Versuch einer systematischen Vorbereitung der Quellenfrage findet, ich meine einer Untersuchung, welche die Fragen stellt: Was bezweckt Lucrez mit seinem Gedicht, für wen schrieb er, wie musste er disponiren? Bot die griechische Literatur ähnlich angelegte Vorarbeiten? Der relativ günstige Bestand der epikurischen Hinterlassenschaft und der unfertige Zustand des lucrezischen Gedichts lassen diese Frage nicht von vornherein aussichtslos erscheinen.

Für wen schrieb Lucrez? Die Frage ist nicht so überflüssig, wie sie auf den ersten Blick vielleicht erscheint. Zu Nutz und Frommen seines Gönners, des Memmius, wie Jedermann weiss. Aber nur für ihn? Soll das Gedicht de rerum natura nur ein zum Privatgebrauch des vornehmen Römers bestimmtes Compendium sein ?

So.

Wenn man das erste Buch durchliest, scheint es fast Venus wird angerufen, den Dichter zu unterstützen bei den Versen, die er für den Memmius schreibt: quos ego de rerum natura pangere conor Memmiadae nostro, quem tu, dea, tempore in omni omnibus ornatum voluisti excellere rebus. Der Grund und zwar der alleinige Grund für das ganze schriftstellerische Beginnen liegt nach V. 140 in der Vortrefflichkeit dieses Mannes und dem Wunsch, ihm zu genügen:

sed tua me virtus tamen et sperata voluptas
suavis amicitiae quemvis sufferre laborem
suadet et inducit noctes vigilare serenas,
quaerentem dictis quibus et quo carmine demum
clara tuae possim praepandere lumina menti etc.

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