Andere rhetorische Schriftsteller. Vor allem ist das dem Traktat Suetons de grammaticis et rhetoribus vorausgeschickte Verzeichnis der rhetores (p. 99 Reifferscheid) ins Auge zu fassen. Eine Hauptstelle ist weiterhin die, an der Quintilian die rhetorischen Schriftsteller der Römer anführt, hier heisst es (3, 1, 21): scripsit de eadem materia (d. h. über die Rhetorik) non pauca Cornificius, aliqua Stertinius, non nihil pater Gallio, adcuratius vero priores [Gallione] Celsus et Laenas et aetatis nostrae Verginius, Plinius, Tutilius (über die Stelle vgl. oben p. 328). Von diesen ist Popilius Laenas im 2. T.2 1. H. § 336 p. 310, Celsus oben § 473 und Plinius unten § 494, 4 ausführlicher besprochen. Es bleiben sonach: 1. Verginius Flavus; derselbe war der Lehrer des Persius (oben § 382); er hatte grossen Zulauf von der studierenden Jugend; der Ruhm seines Namens sollte ihm verhängnisvoll werden, er wurde von Nero (65) ins Exil getrieben; Tacit. annal. 15, 71 Verginium Flavum et Musonium Rufum claritudo nominis expulit: nam Verginius studia iuvenum eloquentia, Musonius praeceptis sapientiae fovebat. Quintil. 7, 4, 40 hoc tamen admiror, Flavum, cuius apud me summa est auctoritas, cum artem scholae tantum componeret, tam anguste materiam qualitatis terminasse. Seine Rhetorik ist öfters von Quintilian berücksichtigt (3, 6, 45; 4, 1, 23; 7, 4, 24; 11, 3, 126). Prosopogr. imp. Rom. 3 p. 403 Nr. 283. 2. Tutilius. Auch Martial erwähnt diesen Rhetor, als er dem Lupus auf seine Frage, wem er seinen Sohn zur Ausbildung anvertrauen solle, Aufschluss erteilt 5, 56, 6 famae Tutilium suae relinquas; vgl. auch Plin. epist. 6, 32, 1. Prosopogr. imp. Rom. 3 p. 346 Nr. 316. Hier sollen auch die an anderen Stellen angeführten Rhetores angereiht werden: 3. Visellius schrieb de figuris". Quintil. 9, 3, 89; 9, 2, 101 Celsus et non neglegens auctor Visellius; 9, 2, 106 Visellius, quamquam paucissimas faciat figuras. Verschieden von ihm ist C. Visellius Varro (Cic. Brut. 264), dem das Fragment bei Priscian (Gramm. lat. 2 p. 386, 7) angehören wird. 4. Sex. Jul. Gabinianus, ein Gallier. Hieronym. zum J. 2092 76 n. Chr. (2 p. 159 Schöne) Gabinianus celeberrimi nominis rhetor in Gallia docuit. Er war ein sehr berühmter Mann, wie aus folgenden Stellen ersichtlich: Hieronym. in Isaiam 8 praef. (4 p. 328 Vall.) qui si flumen eloquentiae et concinnas declamationes desiderant, legant Tullium, Quintilianum, Gallionem, Gabinianum; Tacit. dial. 26 quotus quisque scholasticorum non hac sua persuasione fruitur, ut se ante Ciceronem numeret, sed plane post Gabinianum? 5. Septimius. Quintil. 4, 1, 19 fuerunt etiam quidam suarum rerum iudices. Nam et in libris observationum a Septimio editis adfuisse Ciceronem tali causae invenio. Ob diese observationes eine rhetorische Schrift waren, lässt sich jedoch nicht sicher entscheiden. Auch die Identifizierung dieses Septimius mit dem Septimius Severus, an den Statius silv. 4, 5 gerichtet, ist unsicher; vgl. Vollmer, Ausg. p. 468. Noch weniger wahrscheinlich ist die Identifizierung unseres Septimius mit dem Severus des Martial, vgl. Friedländer zu 2, 6, 3. 6. Palfurius Sura. Ueber den Vornamen M. vgl. Prosopogr. imp. Rom. 3 p. 7 Nr. 46. Juv. 4, 53 si quid Palfurio, si credimus Armillato, quidquid conspicuum pulchrumque est aequore toto, res fisci est, ubicumque natat, hierzu das Scholion: Palfurius Sura, consularis filius, sub Nerone luctatus est cum virgine Lacedaemonia in agone. Post inde a Vespasiano senatu motus transivit ad stoicam sectam, in qua cum praevaleret et eloquentia et artis poeticae gloria, abusus familiaritate Domitiani acerbissime partes delationis exercuit. Quo interfecto senatu accusante damnatus, cum fuisset inter delatores. Potentes apud Domitianum hi, Armillatus, Demosthenes et Latinus archimimus, sicut Marius Maximus scribit; vgl. E. Matthias, De schol. Juv., Halle 1875, p. 14. Suet. Domit. 13 Capitolino certamine cunctos ingenti consensu precantis, ut Palfurium Suram restitueret pulsum olim senatu ac tunc de oratoribus coronatum (vgl. oben § 361 p. 16), nullo responso dignatus; Dio Cass. 68, 1, wo mit Friedländer (Darst. aus der Sittengesch. Roms 36 p. 687 Anm. 2) Zupas statt Zégas zu schreiben ist. แ 7. Valerius Licinianus. Ueber das bewegte Leben dieses Rhetors verbreitet sich der anmutige Brief des Plinius 4, 11 audistine Valerium Licinianum in Sicilia profiteri? ........ Praetorius hic modo inter eloquentissimos causarum actores habebatur, nunc eo decidit, ut exul de senatore, rhetor de oratore fieret. Itaque ipse in praefatione dixit dolenter et graviter quos tibi, Fortuna, ludos facis? facis enim ex senatoribus professores, ex professoribus senatores." Aus den letzten Worten schliesst man auf eine Schrift. Dieser Licinianus wird mit dem Licinianus des Martial (vgl. Friedländer zu 1, 49) identifiziert. Mit Recht wird aber diese Identifizierung beanstandet Prosopogr. imp. Rom. 2 p. 270 Nr. 113. 8. C. Asinius Gallus (cos. 8 v. Chr.), der Sohn des Asinius Pollio, schrieb eine Schrift, in der er seinen Vater als Stilisten höher stellte als Cicero. Plin. epist. 7, 4, 3 libri Asini Galli de comparatione patris et Ciceronis .... (6) cum libros Galli legerem, quibus ille parenti | ausus de Cicerone dare est palmamque decusque. Vgl. § 178. Dieselbe machte, wie es scheint, grosses Aufsehen, sie rief eine Gegenschrift des Kaisers Claudius hervor; Suet. Claud. 41; vgl. § 359. Quintil. 12, 1, 22 Asinio utrique, qui vitia orationis eius etiam inimice pluribus locis insequuntur; Gellius 17, 1, 1 (s. den folgenden Absatz). Sein Epigramm auf den Grammatiker M. Pomponius Marcellus haben wir oben § 475a mitgeteilt. Ueber seine Beziehungen zur 4. Ekloge Vergils vgl. 2. T.2 1. H. § 222. 9. Largius Licinus ging ebenfalls gegen Cicero vor. Seine Broschüre führte den Titel Ciceromastix"; Gellius 17, 1, 1 nonnulli tam prodigiosi tamque vecordes exstiterunt, in quibus sunt Gallus Asinius et Largius Licinus, cuius liber etiam fertur infando titulo Ciceromastix, ut scribere ausi sint, M. Ciceronem parum integre atque improprie atque inconsiderate locutum. In der Kapitelüberschrift schwankt die Ueberlieferung zwischen Larcius und Lartius. Es erscheint nun ein Larcius Licinus bei den beiden Plinii, aber auch hier herrscht bezüglich des ersten Namens Verschiedenheit in der handschriftlichen Ueberlieferung; Larcius heisst er Plin. n. h. 31, 24 und in einem Teil der Codices bei Plin. epist. 2, 14, 9; Lartius bei Plin. n. h. 19, 35; Largius bei Plin. epist. 3, 5, 17. Weniger Bedeutung hat, dass auch zwischen Licinus und Licinius die Ueberlieferung manchmal schwankt. Vgl. Mommsen, Ind. Plin. p. 416. Vielleicht ist dieser mit dem Erstgenannten identisch. Von dem Letzten wissen wir aus Plinius (epist. 2, 14, 9), der sich auf Quintilian beruft, dass er in Centumviralprocessen thätig war. Er starb in Spanien, wo er nach seiner Prätur als legatus praetorius ad ius dicendum fungierte. In Spanien suchte er die Collectaneen des älteren Plinius zu erwerben; vgl. Plin. epist. 3, 5, 17; unten § 491. Prosopogr. imp. Rom. 2 p. 263 Nr. 54. 2. M. Fabius Quintilianus. 481. Biographisches. Quintilians Heimat ist Calagurris in Spanien. Seine Ausbildung erhielt er aber in Rom, wo sein Vater ebenfalls als Rhetor wirkte. Seine vorzüglichsten Lehrer waren der Grammatiker Remmius Palaemon und der Rhetor Domitius Afer. Doch waren auch die berühmten Redner der damaligen Zeit sicherlich nicht ohne Bedeutung für seine rhetorische Entwicklung. Nachdem er seine Studien vollendet hatte, kehrte er nach Spanien zurück. Im Jahre 68 nahm ihn der damalige Statthalter des tarraconensischen Spaniens, Galba, nachdem er Kaiser geworden war, mit nach Rom. Quintilian war der erste öffentliche Lehrer der Rhetorik und erhielt als solcher aus dem Fiskus eine Besoldung. Daneben war er auch als Gerichtsredner thätig, hier lag seine Stärke in der Klarlegung des Falls, und gern übertrug man ihm daher, wenn mehrere Redner plädierten, diese Aufgabe. Doch veröffentlichte er selbst nur eine Rede, und auch diese Veröffentlichung bedauerte er; die Reden, die noch unter seinem Namen kursierten, erkannte er, da sie von fremder Hand nach stenographischer Niederschrift publiziert waren, nicht an. Sein Ruhm wurde durch seine Lehrthätigkeit begründet; sein Ansehen war ein gewaltiges, erhielt er doch sogar die konsularische Ehrenauszeichnung. Martial (2, 90, 1), der freilich in seinem Lob oft stark aufträgt, nennt ihn den Ruhm der römischen Toga. Unter seinen Schülern befand sich der jüngere Plinius. Nachdem er 20 Jahre seinem Lehrberuf obgelegen, zog er sich zurück und legte die Früchte seiner reichen Erfahrung in einem grossen Werke, der Institutio oratoria, nieder. Zuvor hatte er in einer kleineren Schrift, die aber leider verloren ist, die Ursachen des Verfalls der Beredsamkeit behandelt. Doch wurde er nochmals zur Lehrthätigkeit zurückgeführt; er wurde Prinzenerzieher; Domitian übertrug ihm die Ausbildung der Enkel seiner Schwester Domitilla, der Söhne des Flavius Clemens, welche zur Thronfolge bestimmt waren. Diese Auszeichnung erfüllte unseren Rhetor mit grosser Befriedigung, und die Lobsprüche, die er Domitian erteilt,1) werden dadurch einigermassen entschuldigt. Den äusseren glänzenden Verhältnissen entsprachen nicht ganz die häuslichen; hier wurde Quintilian von schweren Schicksalsschlägen heimgesucht; er verlor durch den Tod seine junge Frau und auch die beiden Söhne, die er von ihr hatte (6 prooem.). Sein Todesjahr kennen wir nicht, es wird etwa um 96 fallen. Die Briefe des jüngeren Plinius (2, 14, 10; 6, 6, 3) setzen allem Anschein nach den Tod des Rhetors voraus. Lebensverhältnisse Quintilians. Seine Heimat Calagurris in Spanien bezeugen Hieronymus und Ausonius 16, 2, 7 (p. 56 K. Schenkl) adserat usque licet Fabium Calagurris alumnum. Vgl. dazu Fierville, Ausg. des 1. Buches Introd. p. I. Dass sein Vater in Rom war, geht hervor aus der inst. orat. 9, 3, 73, wo der Rhetor seinen Vater als Beispiel anführt; Sen. controv. 10 praef. 2 quomodo. Quintilianus senex declamaverit; vgl. noch 10, 33, 19. Ueber seine Lehrer erteilen Aufschluss a) über Palaemon (s. oben § 475): schol. Juv. 6, 452, wo zu Palaemonis des Textes bemerkt wird: grammatici magistri Quintiliani oratoris; 3) über Domitius Afer (s. oben § 450, 3 p. 280): Quintil. 10, 1, 86 utar verbis isdem, quae ex Afro Domitio iuvenis excepi: qui mihi interroganti etc.; 5, 7, 7 sufficiebant alioqui libri duo a Domitio Afro in hanc rem compositi, quem adulescentulus senem colui, ut non lecta mihi tantum ea, sed pleraque ex ipso sint cognita; 12, 11, 3 vidi ego longe omnium, quos mihi cognoscere contigit, summum oratorem, Domitium Afrum, valde senem cotidie aliquid ex ea, quam meruerat, auctoritate perdentem etc.; vgl. Plin. epist. 2, 14, 10; Quintil. 10, 1, 24 nobis pueris insignes pro Voluseno Catulo Domiti Afri, Crispi Passieni, Decimi Laelii orationes ferebantur. Dass Quintilian den damaligen Rednern grosse Aufmerksamkeit zuwandte, sehen wir allenthalben; z. B. 10, 1, 102 mihi egregie dixisse videtur Servilius Nonianus (s. § 440, 3) .... qui et ipse a nobis auditus est; 6, 1, 14 egregie nobis adulescentibus dixisse accusator Cossutiani Capitonis videbatur. Dass Quintilian später wieder in seine Heimat zurückkehrte, muss gefolgert werden aus Hieronym. zum J. 2084 68 n. Chr. (2 p. 157 Schöne) M. Fabius Quintilianus Romam a Galba perducitur. Hieronym. zum J. 2104 88 n. Chr. (im cod. Amandinus zum J. 2103 87 n. Chr.; 2 p. 161 Sch.) Quintilianus ex Hispania Calagurritanus (qui fügt Vollmer, Rhein. Mus. 46 (1891) p. 348 hinzu) primus Romae publicam scholam et salarium e fisco accepit et (et tilgt Vollmer) claruit. Dieses Eröffnungsjahr der Schule ist sicherlich zu spät angesetzt, wahrscheinlich liegt eine Verwechslung mit dem Jahre vor, wo sich Quintilian vom Amte zurückzog. Ueber die konsularische Ehrenauszeichnung vgl. Ausonius grat. act. 7, 31 (p. 23 K. Schenkl) Quintilianus consularia per Clementem ornamenta sortitus. Seinen materiellen Wohlstand berührt Juv. 7, 188 unde igitur tot | Quintilianus habet saltus? Der Quintilian bei Plin. epist. 6, 32 ist nicht mit dem Rhetor identisch, vgl. Fierville, Ausg. des 1. Buches, Introd. P. VIII. Kurze Résumés bei Mommsen, Ind. Plin. s. v., und in der Prosopogr. imp. Rom. 2 p. 50 Nr. 48. Quintilian als Lehrer und Prinzenerzieher. Quintil. 1 prooem. 1 post inpetratam studiis meis quietem, quae per viginti annos erudiendis iuvenibus inpenderam; 3, 6, 68 frequenter quidem, sicut omnes qui me secuti sunt, meminisse possunt, testatus; Martial. 2, 90, 1 Quintiliane, vagae moderator summe iuventae, | gloria Romanae, Quintiliane, togae. Als sein Schüler erscheint der jüngere Plinius epist. 2, 14, 10 ita certe ex Quintiliano, praeceptore meo, audisse memini; vgl. 6, 6, 3. Da Juvenal von Quintilian mehrfach mit Hochachtung spricht (6, 75; 280; 7, 186), hat man vermutet, dass auch er Schüler Quintilians war; vgl. Friedländer, Juvenalausg., Einl. p. 16. Ueber die Frage, ob Tacitus Schüler Quintilians war vgl. oben § 427. Quintil. 4 prooem. 2 cum vero mihi Domitianus Augustus sororis suae nepotum delegaverit curam; über die beiden Zöglinge vgl. Suet. Domit. 15 Flavium Clementem patruelem suum, ... cuius filios etiam tum parvulos successores palam destinaverat et, abolito priore nomine, alterum Vespasianum appellari iusserat, alterum Domitianum. Die neue Lehrthätigkeit fiel also in die Zeit, da Quintilian sich mit der Abfassung seiner institutio oratoria beschäftigte und bereits drei Bücher vollendet hatte. Quintilians Pädagogik. Βρατσανός, Περὶ τῆς παρὰ Κοιντυλιανῷ παιδαγωγικής, Évaisiuos diaton, Leipz. Diss. 1879; Loth, Die pädagog. Gedanken der inst. or. Quintilians, Leipz. 1898; vgl. auch unten p. 363 Litt. zum Fortleben Quintil. Quintilian als Gerichtsredner. Froment, Quintilien avocat, Annales de la fac. des lettres de Bordeaux 2 (1880) p. 224 (nichts Neues). Ueber die von ihm selbst und von anderen veröffentlichten Reden vgl. § 482. In seinem Lehrbuch nimmt er öfters Bezug auf seine Gerichtspraxis; z. B. 4, 2, 86 me certe, quantacumque nostris experimentis habenda est fides, fecisse hoc in foro, quotiens ita desiderabat utilitas, probantibus et eruditis et iis, 1) 4 prooem. 3-5; 10, 1, 91 f. qui iudicabant, scio; 7, 2, 5 fuerunt tales etiam nostris temporibus controversiae atque aliquae in meum quoque patrocinium inciderunt. Quintilian als Kunst- und Litteraturkritiker. Froment, La critique d'art dans Quintil. (Annales de la fac. des lettres de Bordeaux 4 (1882) p. 1). Seine litterarischen Urteile sind in unserer Darstellung öfters berührt; vgl. über Cicero 1. T.2 p. 351 (vgl. auch Wölfflin, Rhein. Mus. 47 (1892) p. 640); über Maecenas 2. T. 1. H. p. 16; über C. Asinius Pollio ebenda p. 26; über Domitius Marsus ebenda p. 149; über P. Pomponius Secundus s. oben p. 62; über Persius p. 67; über Caesius Bassus p. 71; über Lucan p 91; über Saleius Bassus und Serranus p. 149; über den Philosophen Seneca p. 314. Allgemeine Litteratur. Dodwell, Annales Quintilianei, Oxford 1698 (auch abgedruckt in Burmanns Ausg., 1. Bd., Leyden 1720, p. 1117, und in anderen Ausg.); Hummel, Quintil. vita, Gött. 1843; Driesen, De Quintil. vita, Cleve 1845; F. Müller, Quaest. Quintil., Halle 1840. 482. Die verlorene Schrift Ueber die Ursachen des Verfalls der Beredsamkeit (De causis corruptae eloquentiae). Ueber den tiefen Verfall der Beredsamkeit seit der Kaiserzeit konnte sich kein sehendes Auge mehr täuschen, denn die Hohlheit der Rhetorschulen mit ihren unnatürlichen Uebungen lag zu offenkundig vor. Verständige Männer hielten auch nicht mit ihrer Meinung zurück. Petronius fügte in seinen Roman eine scharfe Charakteristik der Deklamatoren ein, Tacitus schrieb seinen wundervollen Dialog. Vor Tacitus hatte auch Quintilian über die Ursachen des Verfalls der Beredsamkeit eine Schrift geschrieben. Es war ihm gerade damals ein fünfjähriger Sohn gestorben (6 prooem. 3 und 6); um seinen Kummer zu vergessen, versenkte er sich in dieses Thema, das ihm ja Herzenssache war. Leider ist das Werkchen verloren gegangen, doch teilt er uns einiges daraus in seiner Lehrschrift mit, so dass wir über den Gang der Untersuchung im allgemeinen orientiert sind. Der Sitz des Uebels war leicht zu erkennen, es war die Rhetorschule mit ihren Deklamationen. Quintilian verfolgte den Ursprung der Themata mit fingierten Fällen und fand, dass schon zur Zeit des Demetrius Phalereus solche im Gebrauch waren. Allein diese Themata wurden im Laufe der Zeit in unnatürliche, phantastische Bahnen geleitet, so dass sie den Zusammenhang mit dem Leben gänzlich verloren. Solche Uebungen bekämpfte die Schrift aufs entschiedenste; sie entbehren nach seiner Meinung der männlichen Kraft, sie geben uns den Schein statt des Wesens, sie sehen nur auf den blendenden Glanz. Der Verfall zeigt sich aber am auffallendsten im Stil; der Wortschatz ist gesucht und überladen und von einem lächerlichen Haschen nach gleichen oder schillernden Worten erfüllt, der Aufbau unklar und schlotterig. Quintilian scheint im einzelnen die verschiedenen Gebrechen des Stils erörtert zu haben, so hatte er z. B. das Masslose und Fehlerhafte bei der Anwendung der Hyperbole gerügt. Das Schriftchen wird also vorwiegend die Darstellung ins Auge gefasst haben. Dieser drohte allerdings noch von einer nichtrhetorischen Seite grosse Gefahr. Der Philosoph Seneca hatte mit seinem pikanten Stil ungemeinen Anklang bei der Jugend gefunden, und doch musste dieser Stil mit seinen „süssen Gebrechen" Quintilian sehr missfallen. Ohne ihn zu nennen, griff er Seneca scharf an, aber doch so deutlich, dass die Leser auf eine Feindseligkeit des Rhetors gegen den Philosophen schliessen konnten (10, 1, 125; vgl. § 469). Soviel lässt sich über den Inhalt feststellen. Ziehen wir zum Vergleich den Tacitus heran, so erkennen wir, dass beide das gleiche Thema von einem verschiedenen Standpunkt aus behandelt haben. Quintilian schrieb als Rhetor, Tacitus als Historiker; Quintilians Blick reichte nicht über die Schule hinaus, Tacitus' Geist rückte die ganze Frage in den Rahmen der Kultur. Quintilians Darstellung fand ihren Mittelpunkt in der Betrachtung des degenerierten Stils und in der Aufdeckung und Heilung der Fehler desselben, Tacitus sah den Verfall der Beredsamkeit als eine unabänderliche Thatsache an, welche in der geschichtlichen Entwicklung begründet sei; der eine will die gegenwärtige Rhetorik reformieren, der andere will die Blicke von der Rhetorik auf andere Fächer hinlenken. Nur wenn der Dialog des Tacitus der Schrift des Quintilian nachfolgte, gewinnen wir das richtige Verhältnis; den Ausführungen Quintilians, der immer noch den Glauben an die Zukunft seiner Kunst bewahrte, konnte Tacitus gut den Satz gegenüberstellen und erweisen, dass die Blüte der Beredsamkeit für immer dahin sei. Wäre des Tacitus Dialog aber vorausgegangen, so musste Quintilian seiner Schrift eine ganz andere Tendenz geben, er musste zeigen, dass auch in der Gegenwart noch Raum für das lebendige Wort ist. Von dieser Schrift abgesehen, haben wir noch den Verlust von Reden und von zwei Lehrschriften zu beklagen. .... Zeugnisse über die Schrift de causis corruptae eloquentiae. Den Titel gibt an die Hand 6 prooem. 3 eum librum, quem de causis corruptae eloquentiae emisi; vgl. auch 8, 6, 76. Ueber den Inhalt geben folgende Stellen Aufschluss: 5, 12, 17-23, wo er sich gegen die marklosen Deklamationen wendet (20), eloquentiam, licet hanc (ut sentio enim, dicam) libidinosam resupina voluptate auditoria probent, nullam esse existimabo, quae ne minimum quidem in se indicium masculi et incorrupti, ne dicam gravis et sancti viri ostentet (23) sed haec et in alio nobis tractata sunt opere et in hoc saepe repetenda; 2, 4, 41 fictas ad imitationem fori consiliorumque materias apud Graecos dicere circa Demetrium Phalerea institutum fere constat. An ab ipso id genus exercitationis sit inventum, ut alio quoque libro sum confessus, parum comperi; 8, 3, 57 (über das xazónλov) est autem totum in elocutione corrupta oratio in verbis maxime impropriis, redundantibus, comprehensione obscura, compositione fracta, vocum similium aut ambiguarum puerili captatione consistit ... (58) de hac parte et in alio nobis opere plenius dictum est; 8, 6, 76 (über die Fehler bei der Hyperbole) de hoc satis, quia eundem locum plenius in eo libro, quo causas corruptae eloquentiae reddebamus, tractavimus. .... Die Abfassungszeit wird aus der praef. zum 6. Buch bestimmt. Die Bestimmung hängt von den Zeitverhältnissen der Institutio ab. Reuter (p. 51) setzt unsere Schrift zwischen 87 und 89, Vollmer (Rhein. Mus. 46 (1891) p. 348) ins Jahr 92. Das Jahr ist ziemlich gleichgültig, von Wichtigkeit ist aber, dass dieselbe vor der Institutio geschrieben ist, da sie bereits im 2. Buch erwähnt wird, und dass sie somit die Vorgängerin des taciteischen Dialogs (s. p. 217) ward. Litteratur. Th. Vogel, Fleckeis. Jahrb. Supplementbd. 12 (1881) p. 254; A. Reuter, De Quintil. libro qui fuit de causis corruptae eloquentiae, Gött. Diss. 1887; Norden, Die antike Kunstprosa 1, Leipz. 1898, p. 271; Grünwald, Quae ratio intercedere videatur inter Quintil. inst. or. et Tac. dial., Berl. 1883; Gercke, Seneca-Studien (Fleckeis. Jahrb. Supplementbd. 22 (1896) p. 140). Verlorene Reden Quintilians. 1. Die Rede pro Naevio Arpiniano. Quintil. 7, 2, 24 teilt uns die Rechtsfrage mit: id est in causa Naevi Arpiniani solum quaesitum, praecipitata esset ab eo uxor an se ipsa sua sponte iecisset. Diese Rede war die einzige, die er veröffentlichte: cuius actionem et quidem solam in hoc tempus emiseram, quod ipsum me fecisse ductum iuvenali cupiditate gloriae fateor. 2. Reden, die von Stenographen wider Willen Quintilians veröffentlicht wurden. Er fährt nämlich an der obigen Stelle fort: nam ceterae, quae sub nomine meo feruntur neglegentia excipientium in quaestum notariorum corruptae minimam partem mei habent; welches diese Reden waren, wissen wir nicht. Er nennt uns noch zwei, die er gehalten: Die Rede für die Königin Berenice (4, 1, 19); Berenice war die schöne (Tacit. hist. 2, 81) Tochter des älteren Agrippa, des Judenfürsten und stand in Beziehungen zu Titus (Suet. Tit. 7); worin der Rechtshandel bestand, ist nicht bekannt. Die zweite wurde in einer Erbschaftsangelegenheit gehalten; 9, 2, 73 |