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monda, der Untersuchungen über die Natur der Felsen anstellen sollte, die nach dem Entwurfe Médails zu durchbohren seien.

Menge, sondern auch in sogenannten wissenschaftlichen technischen
Blättern.

O hätten all die, welche die drei kühnen Ingenieure verspotteten, mit jenem ersten Zuge durch den Tunnel fahren können, der bei Bardonnecchia hineinfuhr und bei Modane herauskam, nachdem er in 19 Minuten die Länge von 12,233,55 Metern durchmessen hatte, ohne die kleinste Störung, ohne Rauch, ohne erstickende Luft, ohne Unbequemlichkeit für die Respiration. Es war Zeit, daß die Wissenschaft endlich alle Schreckgespenste zu Boden schlug! An jenem 20. September 1871 haben denn auch Abgesandte aus allen Gegenden Italiens vor der Mündung des neuen Tunnels fraternisirt, und alle Parteien vereinigten sich in der Freude über das große gelungene Werk, das für alle Nationen Europas von Wichtigkeit ist!

Beide vereinigten sich darüber, den vorgelegten Plan anzunehmen, und Mautt machte sich an die Construction einer Maschine, die den Felsen durchbohren sollte, da die gewöhnlichen Mittel sich als zu langsam und zu kostspielig erwiesen; zum Betriebe dieser Maschine verwandte Mautt das Wasser der Gebirgsströme, die sich an den beiden Enden der zuerst entworfenen Gallerie befanden. Diese Maschine wurde in Valdocco bei Turin construirt und probirt, aber sie ließ unsicher, ob ihre | Bewegungskraft sich auf eine Entfernung. von über 6000 Meter erstrecken würde, auch hatte sie nicht für Ventilation gesorgt. Andere Pläne wurden zahlreich vorgelegt; einige schlugen vor, statt der Gallerie oder des langen Ganges nur einen Uebergang zu bewirken oder doch in Ansehung der sich entgegenstellenden mechanischen Schwierigkeiten, die Länge des Weges abzukürzen; aber diese Vorschläge, die im Vergleich zu dem ursprünglichen | Montcenis-Tunnels den „Guida al traforo del Cenisio“ von A. CoPlan, wie Nothbehelfe aussehen, fanden weder im Publikum,

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noch bei der Regierung Beifall. Menabrea selbst sagte darüber in der Session vom 25. Juni 1856: Wissen Sie, was es heißt, fich über die Gebirge zu erheben? es heißt eine Kraft besiegen wollen, die man nicht leicht stören kann: die Schwere. Und wollen Sie wissen, was die Schwere vom Gesichtspunkt des Eisenbahnwesens aus für eine Bedeutung hat? Es bedeutet, daß um sich zu einer Höhe von fünf Metern zu erbeben, man dieselbe Kraft anwenden muß, die zur horizontalen Durchmessung eines Kilometers genügen würde. Da sich nun der Paß des Montcenis 2000 Meter über dem Niveau des Meeres befindet, so wollen die, welche den Uebergang statt des Durchgangs vorschlagen, (da letterer nur 1300 Meter über dem Meeresniveau sein würde) den Weg selbst um 140 Kilometer verlängern. Die Aufgabe ist ja aber gerade, die Distanzen zu vermindern, statt fie zu vermehren und deshalb müssen wir nicht über die Alpen hinweg, sondern durch sie hindurch zu kommen suchen.“

Man kehrte also zu dem Projecte Médail's und zum Durchbruch zurück; es fehlte aber immer noch die DurchbohrungsMaschine; der Ingenieur Piatti aus Mailand schlug einen durch comprimirte Luft getriebenen Durchstoßer vor, Bartlett eine durch Dampf getriebene Maschine und Professor Colladon eine mit comprimirter Luft getriebene Lokomobile. Allein alle diese Vorschläge entsprachen nicht ganz der Nothwendigkeit; endlich erfand der Ingenieur Sommeiller, den man das durchbohrende Genie der Alpen nennen könnte, eine Maschine, die zugleich einfach und im höchsten Grade sinnreich war, indem er Bartlett's Vorschlag erweiterte und bedeutend veränderte, sowie mit comprimirter Luft in Verbindung brachte. Am 17. Juni 1856 legte er den Entwurf zu dieser Maschine dem Parlamente vor und erschien selber als Deputirter. Der Plan wurde auch von Cavour lebhaft befürwortet und angenommen, und ein Jahr später legte Victor Emanuel mit eigner Hand Feuer an die erste Mine, durch welche die Arbeiten begonnen wurden.

So verflossen vierzehn Jahre unausgeseßter und unermüdlicher Arbeit, voller Selbstverleugnung und beispiellosesten Eifers, unter tausend Gerüchten, die von übelwollenden oder abergläubischen Leuten in Umlauf gesetzt wurden. „Arbeitet nur, sagten die Feinde italiänischen Ruhmes, wühlt Euch nur in die Eingeweide der Erde, wenn Ihr recht hineingedrungen seid, dann werden glühende Hiße und giftige Luft Euch ersticken, oder Wasserstürze oder große Steinmassen werden Euch und Eure Maschinen verschütten.“ Das hatte man den Muth zu sagen, zu schreiben, zu wiederholen, und nicht etwa bloß in der ungebildeten

Herr Julius Schanz, der bei der vorliegenden, hauptsächlich für die Benuhung von Touristen berechneten Beschreibung des

vino in Turin zum Grunde gelegt, hat damit ein wahrhaft mustergiltiges Werk geliefert, welches die Verlagshandlung in würdigster Weise ausgestattet hat.

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Böhmen.

Franz Palacky und die böhmische Geschichtsschreibung.

Die vielfachen Angriffe, welche Palacky's böhmische Geschichte gerade in den lezten Jahren von Seiten deutscher Gelehrten zu erfahren gehabt hat und der Entschluß, die Fortseßung dieses großen Werkes in jüngere Hände zu legen, haben den Verfasser bewogen, seinem Vaterlande, seinen Verehrern und seinen Gegnern über seine Thätigkeit als königl. böhmischer Landes-Historiograph Rechenschaft abzulegen und den Versuch zu machen, die Vorwürfe gegen die Methode der Forschung und die Art und Tendenz der Darstellung zu entkräftigen. Seine neueste Schrift: 3ur böhmischen Geschichtsschreibung; actenmäßige Aufschlüsse und Worte der Abwehr"") ist die Geschichte von Palacky's Geschichte Böhmens, und die bedeutsame Stellung, welche dieses Werk in der neueren Historiographie einnimmt, läßt das Referat über seine Entstehung und Entwicklung ebenso interessant als lehrreich erscheinen lehrreich, weil mancher angehende Historiker in demselben beherzigenswerthe methodische Winke, die weiteren Kreise der Gebildeten aber die Gelegenheit finden werden, einen Blick in die Werkstatt eines Gelehrten zu werfen und zu erkennen, in welchem Mißverhältniß durchschnittlich die wissenschaftliche Arbeit zum Ertrage steht.

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Ursprünglich von dem böhmischen Landesausschuß als Fortseher der chronologischen Geschichte Böhmens von Franz Pubitschka, welche die Erzählung der Begebenheiten bis zum Jahre 1618 in zehn Bänden fortführte und von 1770-1801 erschienen@war, in Aussicht genommen, sah Palacky bald ein, daß eine Behand. lung der neueren Geschichte unter der drückenden Aufsicht der Censurbehörden viel ergerniß und Schwierigkeiten der verschiedensten Art mit sich bringen werde und daß eine nicht nur auf die schon veröffentlichten, sondern noch weit mehr auf die in Archiven und Bibliotheken verborgenen Urkunden und ander

*) Prag, 1871, Verlag von Friedrich Tempsky.

weitigen Geschichtsquellen gestüßte Neubearbeitung der böhmischen Geschichte der Fortsetzung des unwissenschaftlichen, wenn auch fleißigen Werkes Pubitschka's im Interesse des Landes und der Wissenschaft vorzuziehen sei. Die böhmischen Stände gingen auf feine darauf bezüglichen Vorschläge ein, bestimmten ein jährliches Gehalt von 1000 Gulden dem neuen „Landes-Historio- | graphen" und wandten sich an den Kaiser mit dem Gesuch um Bestätigung ihrer Beschlüsse, welche jedoch von der Hofkanzlei verweigert wurde. Die Gründe hiervon blieben unklar; das Wahrscheinlichste ist, daß die Regierungspartei in Wien an der tschechischen Gesinnung Palacky's Anstoß nahm und fürchtete, daß die Darstellung der mittleren Geschichte Böhmens in nationalem Sinne die Erinnerung an die glänzenden Zeiten des „Königreichs“ Böhmen in den weiteren Kreisen des Volkes erwecken und der ständischen Opposition gefährliche historische Waffen in die Hand legen könne. Diese Opposition fand nun gerade in der ablehnenden Haltung der österreichischen Regie rung neue Nahrung. Der oberste Kanzler" (damalige Minister), so sprach man laut, ist keine Instanz für den böhmischen Landtag; ihm steht die Entscheidung über dessen Beschlüsse mit nichten zu; verfassungsgemäß ist er als böhmischer Kanzler, als College der böhmischen obersten Landesbeamten, selbst ein Mitglied des Landtags, und seine Stimme wird in dessen Collectivbeschluß als mitenthalten vorausgesezt; wie kann er mit sich selbst in Widerspruch treten? Er hat kein Recht, sich zwischen den Monarchen und die Stände zu stellen und ist kraft seines Amtes verpflichtet, die Wünsche Letterer unmitttelbar vor den Thron zu bringen."

Die böhmischen Stände kommen endlich auf den Ausweg, die Anstellung eines ständischen Historiographen nicht mehr zu betonen und Palacky einfach mit der Abfassung eines neuen, auf 4-5 Bände berechneten Geschichtswerkes zu beauftragen. Gegen den Gegen den Titel „designirter Historiograph der böhmischen Stände", welchen Palacky sich bei legte, wurde von Wien aus zwar noch später Protest eingelegt; Palacky aber ging rüstig an's Werk, durchforschte zunächst die Archive Böhmens und der angränzenden Länder, im Jahre 1837, auch nach Ueberwindung der erschwerendsten Bedenklichkeiten und Hemmungen, das Archiv und die Bibliothek des Vaticans, legte ausgedehnte Sammlungen von Abschriften und Regesten der aufgefundenen Urkunden an und erstattete über seine wissenschaftlichen Forschungen und selbständigen Arbeiten ausführliche Berichte dem böhmischen Landesausschuß. Nicht bloß körperliche Leiden, welche den Verfasser wiederholt nöthigten, die kältere Jahreszeit in Oberitalien zuzubringen, sondern noch mehr die Ausstellungen der Censurbehörde erschwerten und verzögerten die Veröffentlichung der einzelnen Bände. Bis zum Jahre 1848 mußte Palacky die druckfertigen Theile seines Manuscriptes zur Censur nach Wien senden, wo sie oft monatelang der Durchsicht warteten. Mit den Abschnitten über die ältere Geschichte verfuhren die Gelehrten der Hofkanzlei verhältniß mäßig glimpflich; die erste und zweite Abtheilung des dritten Bandes aber, welcher die Anfänge der husitischen Bewegung be handelt, fanden so wenig den Beifall des Censors, Prof. der Theologie, Scheiner, daß dieser glaubte, auf gänzliche Unterdrückung des Werkes antragen zu müssen. Der Fürst Metternich, dem dieser Fall vorgetragen ward, zeigte sich aber einer so radicalen Maßregel abgeneigt und entschied, „man solle mißliebige Raisonne ments streichen, wirkliche Facta jedoch zu berichten, dürfe dem Verfasser nicht verwehrt werden." Was nun die kaiserliche Cenfurbehörde unter „mißliebigen Raisonnements" verstanden hat,

zeigt ihr officieller Bericht, welchen Palacky als interessanten Beitrag zur Geschichte dieses geistigen ObervormundschaftsGerichtes zum Abdruck hat gelangen lassen. Darin wird Palacky folgende Rüge und Lehre ertheilt: Seite 62 kömmt vor: „daß der in diesen Scenen bewiesene Muth des Hus selbst seinen entschiedensten Gegnern laute Bewunderung abnöthigte.“ — Die katholische Kirche erkennt in allem diesen nicht sowohl unerschütterlichen Muth, sondern auf tiefe Verblendung gebauten Troh und Starrsinn. Seite 70 in der Mitte wird der Ausdruck: ,,alt hergebrachtes hierarchisches System" gebraucht, während die Sache selbst das wahre Princip der katholischen Kirche betrifft. — Von Seite 79 bis 85 folgt eine Charakteristik des Hieronymus von Prag. Dieselbe ist wörtlich genommen aus einem brieflichen Berichte, welchen von Constanz aus der damalige päpstliche Secretär Poggio Bracciolini abgefaßt haben soll. Dieser Bericht bezeichnet den Hieronymus, von welchem doch selbst im vorigen Hefte nicht das beste Zeugniß gegeben wurde, und welcher in der That nicht die besten Zeugnisse der Geschichte für sich hat, - als einen Mann der Bewunderung, als Philosophen, als ausgezeichneten Charakter u. s. w. Wohl wird auch dessen | Heterodorie erwähnt, allein das Ganze der Schilderung ist das Gemälde und die Apologie eines Mannes, dessen Verlust noch jest betrauert werden sollte. Diese Schilderung ist hier nicht am Plaze, weil ste das Urtheil jener, die in der Geschichte minder bewandert sind, irreleitet." Doch genug von diesen Nergeleien, auf welche auch Palacky nicht die Antwort schuldig geblieben ist.

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Die ersten Bände der Geschichte von Böhmen waren zuerst in deutscher, später in böhmischer Sprache erschienen; die nationalen Kämpfe des Jahres 1848 änderten jedoch den Plan des Ganzen insofern, als Palacky nun glaubte, daß die Ansprüche des böhmisch lesenden Publikums, bei einem auf Landeskosten erscheinenden Werke gleiche Berücksichtigung zu finden, weder länger ignorirt, noch abgewiesen werden dürften" und beabsichtigte die Fortsetzung seines Werkes aus dem früher herauszugebenden tschechischen Original unter seiner Aufsicht in das Deutsche überseßen zu lassen. Obgleich nun der Landesausschuß bei seinem ursprünglichen Beschlusse stehen blieb, daß die Geschichte Böh mens als Originalwerk, nicht als Uebersetzung in deutscher Sprache veröffentlicht werden solle, ließ doch der Verfasser gerade jene Theile, welche die für die politische Entwicklung der tschechischen Nation bedeutsamen Zeitabschnitte des Ausganges der husitischen Bewegung und der Regierung Georg's von Podiebrad behandeln, zuerst in tschechischer Sprache erscheinen, und troß der wiederholten officiellen Mahnung, nach den Bestimmungen des Vertrages bei der Veröffentlichung zu verfahren, auch die beiden Abtheilungen des 5. Bandes dem tschechischen Publikum eher als den deutschen Gelehrten bekannt werden. Die Fortsetzung des Werkes über das Jahr 1526 hinaus hat Palacky abgelehnt, bestimmt durch sein Alter, körperliche Leiden und den Wunsch, Zeit für die Umarbeitung der Geschichte des Husitismus und seiner Folgen zu gewinnen. Als Nachfolger in seinen Pflichten als Landes-Historiograph hat er den Professor Anton Gindely vorgeschlagen.

Es kann nicht geleugnet werden, daß Palacky zuerst die Geschichte Böhmens in wissenschaftlicher Weise behandelt hat und unermüdlich thätig gewesen ist in Zusammentragung des urkundlichen Materials, in Sichtung der Quellenschriften und in Prüfung des vor ihm veröffentlichten Urkunden-Schatzes; daß er außer dem die außerordentliche Fülle des historischen Stoffes mit Klarheit zu disponiren und nicht ohne Eleganz zu veroæbeiten verstanden hat. Und doch ist bei allen Vorzügen und dem unbe

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schen Maßregeln gegen die verhaßten Fremdlinge aufforderte.
‚Nie hat der böhmische Nationalhaß gegen die Deutschen, urtheilte
der gelehrte Dobrowsky in seiner Geschichte der böhmischen
Sprache, einen so hohen Grad erreicht, als ihn hier der Dichter
schildert. Groß und tapfer sind seine Helden, die böhmischen
Herren und Ritter, wenn sie die Deutschen aus ihrem Vater-
lande hinausjagen, klein und ohnmächtig die Könige, wenn sie
deutschen Räthen Gehör geben. Heftig und grob ist sein Schimpf
auf Deutsche, die er für erklärte Feinde des böhmischen Ruhmes,
der böhmischen Nation und Sprache ansieht und die er durchgängig
für die Urheber alles Unglücks hält. Lüge und Erdichtung nahm
er zu Hülfe, um sie allen Böhmen noch verhaßter zu machen, als
sie es seit Ottokar's Niederlage schon waren.“ Als seine Sprache
nicht mehr verstanden wurde, da griff das tschechische Volk, wenn
es sich an den Großthaten seiner Vorfahren begeistern wollte, zu
dem Geschichtswerk Wenzel Hajek's, das seinem Verfasser den
Beinamen des „böhmischen Livius“ eingebracht hat, weil es, dem
Deutschthum nicht weniger ungünstig als Dalimil's Reimchronik,
die alten Sagen und Lügen in neuer Form wieder auftischte.
Und diese aus dem vierten Jahrzehnd des 16. Jahrhunderts stam-
mende Schrift blieb so lange in ungeschwächtem Ansehen, daß
noch Duchowsky ihren Verfasser im Jahre 1765 als „Dictator
der Wahrheit" preisen konnte. Unmöglich wird es den Tschechen
sein, einen diesem oder jenem Geschichtsschreiber gleichzeitigen
deutschen Historiker namhaft zu machen, welcher, wie diese, durch
Entstellung und Fälschung den nationalen Haß zu erregen ge-
trachtet hat,

streitbaren Werthe dieses großen Werkes die Kenntniß der geschichtlichen Verhältnisse Böhmens durch Palacky nur nach Einer Seite hin gefördert worden. Als Tscheche hat der Verfasser die Geschichte Böhmens als eine Geschichte des tschechischen Volkes behandelt und an mehreren Stellen offen ausgesprochen, daß er selbst den Gegensatz seiner Darstellung zu einer deutschen Auffassung der böhmischen Geschichte sich bewußt sei, ja sogar der tschechischen Bearbeitung einen dem Inhalte mehr entsprechenden | Titel vorangestellt: „Geschichte des tschechischen Volkes in Böhmen und Mähren.“ Die Tschechen wollen nun einmal nicht Böhmen als ein zweisprachiges Land, die Deutschen als einen gleich berechtigten Theil der böhmischen Bevölkerung ansehen; Palacky spricht von einer „böhmischen Sprache", wo er die „tschechische“ Sprache im Sinne hat, und seine Partei liebt es, die politischen Forderungen ihrer Nationalität der Welt unter dem Namen des „böhmischen Staatsrechtes“ vorzulegen. Diese nationale Einseitigkeit macht sich besonders in jenen Abschnitten von Palacky's Geschichte bemerklich, welche die Entwicklung des deutschen Bürgerthums, seinen Einfluß auf die Landeskultur und die Rechtsverhältnisse, die nationale Reaction der Tschechen im Husitenkriege und die Stellung Böhmens zum deutschen Reiche behandeln. Die Dürftigkeit der Darstellung ist an sich schon eine Ungerechtigkeit, und diese Ungerechtigkeit wird um so größer, wenn der Verfaffer sich darin gefällt, in breiter Ausführlichkeit nachzuweisen, wie mit den Deutschen Feudalismus und Leibeigenschaft in Böhmen eingezogen und die urslavische Freiheit in Knechtschaft umgewandelt worden sei, wenn jene Periode als der Höhepunkt der böhmischen Geschichte angesehen wird, in welcher der Versuch gemacht wurde, das Deutschthum zu vernichten und auf den Trümmern deutscher Kultur ein slavisches Staatswesen zu begründen die Zeit der husitischen Bewegung und das Königthum Georg's von Pediebrad. Welche traurige Folgen dieser Versuch dem Lande eingebracht hat, verkannte Palacky selbst nicht; er giebt im 5. Bande seiner Geschichte zu, daß das Königreich Böhmen in den ersten Jahrzehnden des 16. Jahr-thum geschrieben. Beauftragt von den ständischen Vertretern hunderts „seine Stellung unter den Mächten Europas verloren habe, und daß seine Stimme in dem Areopag der christlichen Fürsten verhallt sei, die Existenz der einst so glorreichen Krone Böhmens zweifelhaft zu werden beginne und selbst im Innern des eigenen Landes das Staatsleben nur ein Bild der Zerfahrenheit, der Anarchie und Ohnmacht sei“; er will aber nicht zugestehen, daß diese trostlose Erscheinung das nothwendige Resultat der vorhergegangenen nationalen Kämpfe, des Sieges

Die Tschechen waren es allein, welche auch in der Geschichtsschreibung die nationalen Gegensäße hervorhoben und verschärften. Palacky hat Unrecht, wenn er nur von „deutschen Fanatikern" spricht; er freilich, der Mann der Wissenschaft, ist andere Wege gegangen, als Dalimil und Hajek; sein Ziel war aber nicht weit von dem jener entfernt. Auch sein Werk hat eine nationale Tendenz, obgleich er leugnet, daß er gegen das Deutsch

eines zweisprachigen Landes, auf Staatskosten, also auch auf Kosten des deutschen Theiles der Bevölkerung, eine Geschichte Böhmens zu verfassen, hat er nur eine „Geschichte des tschechischen Volkes in Böhmen und Mähren“ geliefert; es konnte nicht verlangt werden, daß der Tscheche Palacky „die böhmische Geschichte nach herkömmlichen deutschen Ansichten darstellen sollte"; Gerechtigkeit und Billigkeit forderten aber, daß in objectiver Weise auch die Entwickelung des Deutschthums in Böhmen und der

hältnisse nach Maßgabe der geschichtlichen Bedeutung und der Verbreitung der Deutschen dem böhmischen Volke zum Bewußtsein gebracht würde.

der tschechischen Aristokratie über das die nationalen Gegensäße | segensreiche Einfluß unserer Nation auf die tschechischen Ververmittelnde und ausgleichende Königthum gewesen. Palacky betrachtet es als ein „Uebel, welches die ganze Zukunft Europas mit schweren Gefahren bedroht, daß in unseren Tagen das nationale Moment die Haupttriebfeder der Geschichte bildet;" wenn er aber den Deutschen vorwirft, daß sie in die Darstellung der böhmischen Geschichte dieses Uebel hineingetragen und den neutralen Boden der Wissenschaft zum Schauplah erbitterter nationaler Kämpfe gemacht, so verwechselt er Abwehr mit Angriff, Folge mit Ursache.

Seit einem halben Jahrtausend haben vielmehr tschechische | Geschichtsschreiber es sich angelegen sein lassen, den Haß gegen das Deutschthum zu schüren. Dalimil's Reimchronik, deren Entstehung in den Anfang des 14. Jahrhunderts fällt, erlangte wohl gerade dadurch ihre ungemeine, durch die außerordentliche Anzahl von Handschriften bezeugte Verbreitung, daß sie mit Lügen und Verdrehungen die Deutschen als die Verderber des Landes schilderte und den slavischen Adel zu energi- |

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Die Reaction gegen die Palacky'sche Geschichtsauffassung konnte nicht ausbleiben, so schwer es auch war, mit Hülfe der von diesem selbst und seinen Vorgängern publizirten Quellenschriften den deutschen Standpunkt in wirksamer Weise zur Geltung zu bringen und neben die Geschichte des tschechischen Volkes" eine Geschichte der Deutsch - Böhmen zu stellen. Palacky hatte, so sehr er sich auch gegen diesen Ausdruck sträubte, das Monopol der böhmischen Geschichtsschreibung in den Händen, und es war vor allen Dingen nothwendig, um ihm dieses zu entreißen, das urkundliche Material für die Geschichte des Deutschthums in Böhmen zu sammeln, also eine Arbeit zu unternehmen, welcher sich Palacky selbst mit Unterstügung des Staates zum Theil schon unterzogen hatte, und dann diese Quellenschriften zu veröffentlichen, was der tschechische Geschichtsforscher unterlassen hatte.

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durch die geringe Anzahl von Vorarbeiten über die Geschichte der Deutschböhmen entschuldigt werden, deffen Vorzüge aber darin bestehen, daß in diesem Werke zuerst in umfassender Weise der Versuch gemacht worden ist, die geschichtliche Entwickelung der deutschen Bevölkerung Böhmens bis auf die neueste Zeit zu schildern, und daß die Darstellung, sich fernhaltend von prunkender Gelehrsamkeit, in ihrer Einfachheit und Klarheit auch den deutschen Landleuten verständlich ist.

Eine dauernde Polemik schwächt endlich das Interesse an der Sache; über der Abwehr tschechischer Angriffe und dem Kampfe in den großen nationalen Fragen der Gegenwart möge der Verein nicht vergessen, daß eine seiner Hauptaufgaben die Sammlung und Veröffentlichung der auf die Geschichte des Deutschthums in Böhmen sich beziehenden Urkunden sein soll, nach Art der Werke von Stenzel für Schlesten und von Wuttke für Posen. R. 3.

Der Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen" ging | Böhmens" ist ein echtes Volksbuch geworden, deffen Mängel rüftig an diese Aufgabe und es erschienen nun sowohl von einzelnen Mitgliedern desselben, als von ihm nahestehenden deutschen Gelehrten werthvolle Untersuchungen besonders über die Geschichte des für das Deutschthum in Böhmen verhängnißvollen 15. Jahrhunderts. Der Prager Profeffor Constantin Höfler erwarb sich durch die Veröffentlichung der wichtigsten „Geschichtsschreiber der husitischen Bewegung" ein unleugbares Verdienst, wenn auch zugegeben werden muß, daß er bei der Publication dieser Quellen nicht mit jener Sorgfalt zu Werke gegangen ist, welche einem hervorragenden Gelehrten eigen sein sollte und seinem Gegner Palacky auch wirklich eigen ist. Der Charakter des großen tschechischen Reformators ward jezt durch die Berichte seiner Zeitgenossen in ein neues, helles Licht gestellt, und der Nachweis konnte nun leicht geführt werden, daß jene große Revolution, welche Böhmen in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts erschütterte, weit mehr der Versuch einer sozialen und politischen Umwälzung, als einer kirchlichen Reformation gewesen ist, daß die Husitenkriege ihren religiösen Charakter sehr bald verloren und sich vorzüglich gegen die besißenden Klassen und die Deutschen des Landes gewendet haben. Johannes Hus, der tschechische National-Heilige, ward seines erborgten Flitterkrames entkleidet, der Widerstand, den seine kirchlichen Forderungen besonders bei den Deutschböhmen fanden, aus seiner feindseligen Stellung zum Deutschthum erklärt, und an den Folgen der husttischen Bewegung wurde den Deutschböhmen gezeigt, welche Stellung ihre Vorfahren in einem tschechischen Nationalstaat eingenommen, welche Leiden sie erduldet und welche Bedeutung sie doch wiederum durch unablässige Kulturarbeit sich im Laufe der Zeit errungen haben. Die Tschechen fühlten sich durch die neue Darstellung der husitischen Periode in ihrer Nationalehre verlegt, und der Kampf entbrannte bald auf der ganzen Linie; in Büchern und Zeitungsartikeln, in Flugschriften und Volksversammlungen. Palacky verfuhr mit strategischem Geschick, indem er C. Höfler eine große Anzahl von Versehen in seinen Publicationen nachwies und hiermit das unwissenschaftliche Verfahren seiner deutschen Gegner zu dokumentiren versuchte.

Die Berechtigung der Vorwürfe, welche Palacky den von Höfler besorgten Quellen-Ausgaben gemacht hat, zugegeben, so erscheint doch der Ton, in welchem der tschechische Gelehrte von den deutschböhmischen Historikern spricht — auch seine neueste Schrift Zur böhmischen Geschichtschreibung" giebt davon Proben in reicher Auswahl auch dann als eines wissenschaftlich gebildeten Mannes unwürdig, wenn man verletztes Selbstgefühl und die bittere Stimmung eines seit Jahrzehnden als einzige Autorität in Sachen der böhmischen Geschichte gefeierten und nun von den verschiedensten Seiten befehdeten Gelehrten in Anrechnung bringen will. Daß die Gegner Ausdrücke wie „unüberwindlicher Ekel vor dieser ebenso niedrig begründeten als hochtrabenden historischen Salbaderei und Rabulisterei" gebührend zurückzuweisen für eine nationale Ehrensache hielten, darf auch Palacky nicht Wunder nehmen; vor allen Dingen aber kommt es diesem nicht zu, den Verleßten zu spielen und mit seinen deutschfreundlichen Gesinnungen zu prahlen.

Der Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen ist noch jung; in dem ersten Jahrzehnd seines Bestehens hat er jedoch nicht nur in der Wissenschaft Anerkennenswerthes geleistet, sondern auch das Nationalgefühl unserer Stammesgenossen in Böhmen zu einer Lebhaftigkeit gesteigert, welche nicht ohne Einfluß auf die politische Gestaltung des Landes geblieben ist. Die im Auftrage dieses Vereines von L. Schlesinger verfaßte „Geschichte

Rußland.

Rußlands Bilanz am 1. Januar 1871.

Daß in Rußland seit Kaiser Alexander's Regierung ein frischeres Leben pulsirt, daß dieser Länderkoloß allgemach sich anschickt, Bewegung zu gewinnen, ist eine Erscheinung, welche den Optimisten zu Jubelgesängen hinreißen mag. Von dem Anfang solcher Bewegung aber bis zum Eintritt Rußlands in die Reihe der Kulturstaaten ist's wahrlich noch ein weiter Schritt. Es darf uns Deutschen, die wir in den lezten Jahren einen so mächtigen Schritt nach vorwärts gethan haben, noch nicht bange sein, von dem östlichen Nachbar überflügelt zu werden. Ein Beweis dafür liegt in den Ausführungen einer aus russischer Feder deutsch geflossenen, mit viel Einsicht und großer Objec tivität geschriebenen und deshalb sehr instructiven Broschüre, welche vor Kurzem unter dem Titel „Rußland am 1. Januar 1871") veröffentlicht worden ist.

Als die weitaus wichtigsten Thatsachen auf dem Felde materieller Entwickelung nennt der Verfasser die Entdeckung zahl reicher Steinkohlenlager in fast allen Theilen des Reichs und die zum Erstaunen schnelle Verbreitung der Eisenbahnen.

Der Reichthum an Steinkohlen ist überraschend, und wenn es an Anzeichen für die Existenz derselben auch seither nicht ge mangelt hat, so ist doch die Entdeckung eigentlich neuesten Datums. Die Aussicht auf die Hebung dieses Schayes hat unter den Hellsehenden Rußlands ein wahres Goldfieber hervorgerufen, und auch der Verfasser discontirt schon im Voraus den Gewinn, welchen die Ausbeutung aller der unerschöpflichen Kohlenreviere am Don und Donez, am Waldai-Gebirge 2. auf die Eisen-, Rübenzucker- und Eisenbahn-Industrie zu schaffen nicht verfehlen kann. Er geht noch weiter; er verspricht sich unter Umständen von der Kohlennußung eine neue Aera des Landbaues in Nußland, zumal in den südlicheren Bezirken. Dort herrscht fast absoluter Mangel an Brennmaterial, und der Dünger, welcher dem Boden zu gute kommen sollte, bildet dessen Surrogat. Die Kraft des Bodens hatte man sich überschwenglich vorgestellt man hat

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ihre Ersetzung durch Dung für überflüssig gehalten. Allgemach erkennt man das als Irrthum. Die Kohle wird den Dünger seiner eigentlichen Bestimmung zurückführen, und der Landbau wird bemerkbaren Nuzen davontragen.

Das Bauen von Eisenbahnen, wie es gegenwärtig in Rußland betrieben wird, berechtigt zu der Vorstellung, daß man dort zur Zeit eine andere Beschäftigung gar nicht kennt. Der große Gewinn, welchen einige Erbauer erzielt haben, hat die Unternehmungsluft zu solcher Höhe gesteigert, daß im Laufe des Jahres 1869 an 160 verschiedene Personen die Erlaubniß zu Vorarbeiten ertheilt worden ist. Am Ende des Jahres 1870 waren 9600 Werft Eisenbahnen eröffnet, 3500 im Bau begriffen.

Die Bahnen find so gelegt, daß sie sich meist in einer der beiden Hauptstädte concentriren und von diesen strahlenförmig auslaufen. Die Hauptstädte sind aber weit im Osten des Reichs gelegen, und deshalb sollen in nächster Zeit mehrere das Baltische und Schwarze Meer unmittelbar verbindende Linien gebaut werden. Außerdem stehen einige Bahnen in Aussicht, welche die asiatischen Provinzen mit dem Centrum in Verbindung sehen sollen. Die Regierung hat, wie man sagt, beschlossen, jährlich nicht mehr als 2000 Werft Eisenbahnen zu concessioniren; mit der Bedingung, daß ein Viertel davon zu rein strategischen Zwecken angelegt werden müsse, eine Bedingung, welche, in Rücksicht russischer Verhältnisse, mit gränzenloser Geldverschwendung gleichbedeutend ist.

Der Ertragsfähigkeit des russischen, so ungemein geförderten Eisenbahnneßes stellt der Verfasser kein günstiges Prognostikon. Wenn auch einzelne Bahnen recht gute Geschäfte gemacht haben, so ist doch im Ganzen die Bevölkerung des Reiches zu dünn, als daß ste diese ungeheuren Linien von Bahnen rentabel machen könnte. Der bisherige Verkehr vermittelt sich fast ausschließlich zwischen den Endpunkten und den Centren der Bahnen; die Zwischenstationen bedeuten nichts. Der Verfasser steht auch in der Zukunft den Personen-Verkehr nur in sehr geringen Verhältniffen steigen; für den Güterverkehr in Korn, Steinkohlen, Salz und Eisen wollen sich ihm die Umstände günstiger darstellen; aber auch hierin sind nach ihm ziemlich enge Gränzen gezogen. Wohl niemals, sagt er, wird der Verkehr auf den russischen Bahnen die Höhe des Verkehrs auf den europäischen Bahnen erreichen. Die Cöln-Mindener Bahn scheint ihm auf dem Höhe punkte zu stehen: auf dieser Bahn, sagt er, die 544 Werft lang ist, sind 1867 6,741,000 Passagiere und 124 Mill. Centner Waaren befördert worden, d. h. mehr als die Hälfte aller Waaren und Passagiere, die 1869 auf sämmtlichen 6849 Werst russischer Eisenbahnen den Verkehr ausmachten! Auch die Verwaltung, namentlich der Staatsbahnen, läßt viel zu wünschen übrig. Unregelmäßigkeiten und Unglückfälle mehren sich in erschreckender Weise.

Die Landwirthschaft ist großer Entwickelung fähig, zumal die Entdeckung zahlreicher Lager phosphorsauren Kalkes im Innern von Rußland alle Besorgnisse einer Boden-Erschöpfung verscheuchen kann; aber abgesehen von den zeitigen Schwierigkeiten, welche die Bauern-Emancipation geschaffen hat, ist dem Fortschritte der Hemmschuh der Unwirthschaftlichkeit angelegt, von welcher die Russen, wie die Slaven überhaupt, nicht zu befreien sind.

Handel und Industrie könnten raschen Aufschwung nehmen (in den lezten zehn Jahren hat sich die Ausfuhr um 68 Procent, dagegen aber auch die Einfuhr um 136 Procent vermehrt), aber das Schutzoll-System hält ihn zurück, und die Regierung kann Rich zum Freihandels-System nicht bekehren, weil die Industrie nach innen jener leidigen Unfreiheit der Bevölkerung in der Wahl des Wohnorts, dem Auslande aber mit einer maaßlosen Papiergeld - Circulation nebst einer kolossal gestiegenen auswärtigen Staatsschuldenlast gegenübersteht.

Die Bauern haben theoretisch durch die Emancipation Alles gewonnen, praktisch noch sehr wenig. Sie wiffen mit der persönlichen Freiheit nichts anzufangen. Zäh an dem herkömmlichen Gemeinde-Besize hängend, der eigenen Kraft mißtrauend, widersteht fast der gesammte Stand den Neuerungen der Emancipation. Dies ist insofern natürlich, als mit der Emancipation nicht zugleich Freizügigkeit eingeführt ist, der Bauer vielmehr sich nach wie vor an seine Scholle gefesselt sieht, und der Staat hinwiederum, was seinen Tribut betrifft, noch keine Individuen, sondern immer noch lediglich Gemeinden kennt, welche die Verpflichtungen ihm gegenüber garantiren, so in Bezug auf die Militär-, wie auf die Steuerpflicht. Beides, Freizügigkeit und Einführung individueller Staatspflichten, ist unbedingtes Erforderniß des Besseren. Beides aber wird noch lange auf sich warten lassen. Der Geldmarkt hat sich insofern nach europäischem Muster gebildet, als jezt wohl in jeder nennenswerthen Stadt eine Bank besteht. Dennoch ist der Geldmangel groß; nur wenige Anleihen können im Reiche selbst effectuirt werden. Die Steuern sind ungemein drückend, der Staat heftet sich an die Fersen des gemeinen Mannes, der Bauer scheint nur für die Staatscaffe zu arbeiten und zu leben. Die Verschwendung der Staatseinkünfte ist gleichwohl geradezu erstaunlich. Im Jahre 1869 hatte man z. B. an 141,345 Officiere und Beamte 96,358,439 Rubel Gehalt zu zahlen; im Jahre 1866 zählte man 100 Admirale, während der Seedienst deren nur 18 erforderte. Die Staatsschuld ist in zehn Jahren um 59 Procent gewachsen, eine Erscheinung ohne Beispiel im übrigen Europa.

Eine Steuerreform ist im Gange, man hat nur nicht den Muth, ein ganzes Princip durchzuführen. So ist's in der gesammten Verwaltung. Alles wird auf die Halbheit gestellt, und so wirkt jeder fortschrittliche Gedanke statt zum Heile, zum

„Das Publikum scheint es vorzuziehen, durch die Schuld ruf- | Unsegen. Der Mangel an Bildung im Volke (man behauptet,

sischer Maschinisten und Bahnwärter um's Leben zu kommen, statt sich von Ausländern regelmäßig und sicher befördern zu lassen."

Den verhältnißmäßig günstigen Aussichten, welche sich dem Reiche in den Eisenbahnen und Steinkohlen-Lagern darbieten, stehen indeß andererseits gar trübe Erscheinungen gegenüber. Die freie Entwickelung stößt auf diesem ungeheuren Gebiete, sobald sie Bewegung annehmen will, auf die härtesten Hindernisse; eine dreihundertjährige Unterdrückung des frischen lebendigen Wesens im Volke hat den Fluch im Gefolge, daß nun das Leben, das man dem Lande einblasen möchte, im Moder erstickt und es höchstens zu einem Zerrbilde bingt, das nimmer dem guten Willen seiner Schöpfer sich dankbar zu erweisen Miene macht.

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daß im Durchschnitt kaum 15 Procent aller Knaben und 6 Procent aller Mädchen Unterricht genießen) thut das Uebrige. Wie löblich auch der Aufschwung der periodischen Literatur ist, die sich nur vor Ueberhebung zu hüten hat, wie sehr auch der Besuch der höheren Unterrichtsanstalten steigt, wie große Beachtung auch die Einführung des Instituts der Geschworenen - Gerichte und einiger Provincial-Vertretungen verdient — so lange die Kirche in ihrem trostlosen Zustande des bildenden Einflusses ermangelt, so lange das Volk dem Trunke in dem bisherigen Maaße fröhnt, so lange auf den Bauern der Fluch des Gemeindebesißes und der Familientheilungen haftet, so lange kann von einem Segen der fortschrittlichen Anregung keine Rede sein.

Jedenfalls, und dies ist der uns angenehmste Schluß, den

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