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fehr mit ihnen gepflogen. Und Nikolaj Irtenjew führt uns auch in sein Unterrichtszimmer, wo der biedre empfindsame deutsche Bürgerssohn des Bakels waltet, in das Arbeitszimmer, wo Papa seine Geschäfte erledigt, in das Gastzimmer, wo die Hausgenossen zur Mahlzeit um den Tisch herumsißen, in die Bodenkammer wo die bösen Kinder Grischa bei seinen tollen Verzückungen belauschen. Wir dürfen zuhören, wie Mauer den beiden Knaben diktirt und wie sie fröhlich spielen, wie Groß und Klein, Männlein und Weiblein sich an der Jagd | ergößt und wie sie nach dem lustigen Tage heimfahren und reiten. Dieses Kindesleben in dem engen Landhaus ist wie das vieler Kinder: ebenso reich an kleinen Freuden, ebenso voll von tesen Eindrücken für alle Zukunft, ebenso anmutend in seiner Harmlosigkeit.

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Die erste Veränderung der äußeren Umstände wie des inneren Menschen vollzieht sich mit der Uebersiedlung nach Moskau. Fern von der milden Güte der Mutter, in weniger engen Umgange mit dem Vater, der in der spielfrohen Stadt heitere Gesellschaft aufsucht, unter dem Auge der patriarchaltschtyrannischen, vornehm-zurückhaltenden Großmutter, und in der Erziehung des neuangenommenen Gouverneurs, des Franzosen St-Jérôme, ward allmälig das Kind zum Knaben. Der Umgangskreis der Großmutter bietet seiner nie müden Beobachtung neue Persönlichkeiten, neue Verkehrsformen, neue Beziehungen von Mensch zu Menschen dar. Die Fürstin Kornakow und ihr liebliches Töchterchen, Fürst Iwan Iwanowitsch, die Iwins der Geburtstag der Großmutter, der Kinderball, der Umgang mit anderen Knaben, besonders aber die feine Scheidewand, die sich kaum merklich und doch so deutlich zwischen den Knaben und Mädchen aufbaut, wecken eine neue Welt von Gedanken und Gefühlen in ihm. Die Anschauungen des Kindes sind wie von einem plöglichen Sturm verweht und alles, Welt und Menschen, zeigen ein anderes Gesicht, als ob, sie ihm „plößlich eine andere noch unbekannte Seite zugekehrt hätten." (n. III.) und vollends weicht das Wesen des Kindes dem bewußtvolleren Leben des Knaben, da der grausame Erlöser Tod in den teuren Kreis hineingreift, der dem Kinde die Welt war. Die Mutter, die ganz Liebe, Hingebung, Frömmigkeit war, stirbt, und die treue Pflegerin ihrer ersten Lebensjahre, die dienende Freundin der Frau und ihrer Angehörigen, die treue Schaffnerin des Landhauses von Petrowskoje, Natalia Ssawischna folgt ihr. An zwei Gräbern trauert Nikolaj Jrtenjem. Zum ersten Mal hat er das Werk des Todes mit eigenen Augen gesehen, zum | ersten Mal hat er in Natalia Ssawischna ein Menschenwesen erkannt, dessen ganzes Leben „weise, selbstlose Liebe und Auf- | opferung gewesen“. Und er richtet schon Fragen an den Himmel: „Hat mich die Vorsehung nur darum mit diesen beiden Wesen verewigt, um mich dieselben ewig betrauern zu lassen?“

Mit diesem Seufzer, welcher den ersten Zweifel enthält, schließt Nikolaj Irtenjew die Erzählung aus seinen Kinderjahren. Er tritt in das Knabenalter. Immer deutlicher treten die Zweifel vor seine Seele und immer klarer werden die neuen Anschauungen, die bisher nur, wie Ahnung, in ihm geschlummert. Er begreift, daß es auch außer ihm und seiner Umgebung noch eine Welt giebt, und daß diese Welt Unterschiede von Arm und Reich, von Hoch und Niedrig kennt. Und wie diese Vorstellungen mit einer schärferen Deutlichkeit in ihm aufleben, so erwachen auch andre, ganz neue, die er selbst ahnend nicht empfunden hat. Daß es dem Mann zum Weibe hindrängt, sagt ihm eine Regung des Neides gegen den wenig älteren Bruder Wolodja, der schon den Mut hat, dem Hausmädchen Mascha sich kühn zu nähern, und die verwante Empfindung der Eifersucht erweckt

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ein Kuß, den Ssonitschka, das anmutige Töchterchen der Walachina im Pfänderspiel halb verstohlen Sergej Jwin giebt. Der Tod der Großmutter klärt ihm immer mehr das Verhältnis der Menschen zu einander auf. Er erkennt, daß der Eigennuß unsere Empfindungen regiert und der Genuß. Er wagt zu prüfen und zu urteilen, wo er bisher ohne nachzudenken sich gebeugt hat; selbst die Handlungen des Vaters erscheinen ́ihm nicht mehr bedingungslos gut und schön. Wolodjas und seiner Freunde Tun fordert sogar oft seine Mißbilligung heraus, nur einer von ihnen gewinnt sein Herz, Fürst Nechljudow. Sein Wesen ist Irtenjews Art verwant. Er philosophirt gern mit dem klugen „Diplomaten“, (wie Nikolaj im Scherz von Wolodjas Freunden genannt wird) und versucht sich gern an den Problemen der sittlichen Vervollkommnung des Einzelwesens und der Gesammtheit. Durch diesen Freund erkennt Frtenjew sich selbst, er macht sich seine Lebensanschauungen zu eigen und reift durch diesen Gewinn vom Knaben zum Jüngling.

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Nechljudoms sittlicher Einfluß führt zu dem Beginn eines neuen Lebens. Alle alten Sünden abstreifen, und von nun an nur dem Vervollkommnungsideal leben! Das erste soll durch die Beichte erreicht werden, das zweite höhere durch die Anlegung der „Lebensregeln". Und bewirkte auch die Beicht nur vorübergehend eine gehobene Stimmung, und werden auch die „Lebensregeln“, die nicht mehr so einfach erscheinen, da man sie zu Papier bringen will, wie sie sich dem weitstrebenden Besserungsdrange zeigten - so veredelt sich Jrtenjews Wesen doch durch das bloße Wollen. Die glücklich bestandenen Aufnahmeprüfungen in die Universität sind schon die Folge der ernsteren Anschauung und gewissenhaften Arbeit. Die Ver= gnügungen der jungen Leute, in deren Kreis Nikolaj nun als Gleichberechtigter eintritt, erweitern wiederum seinen Gesichtskrets. Sein Examenglück wird durch einen lustigen Schmaus gefeiert und im leichten Rausch läßt sich Irtenjem eine Beleidigung gefallen, die ein händelsüchtiger Lump thm zufügt. Der Verkehr in der Gesellschaft, die Höflichkeitsvisiten, Liebeständeleten und tiefere Neigungen, der Eintritt einer jungen hübschen, gefallfüchtigen Stiefmutter in die Familie, der Umgang mit den Studenten bet fröhlichen Gelagen und Vorbereitungen zur Uebergangsprüfung sind überreich an Eindrücken, die der grübelndende Geist des Jünglings auf seine Weise verarbeitet. Er ist seinen „Lebensregeln" nicht mit ganzer Strenge treu geblieben. Als er nun bei dem zweiten Examen durchfällt, packt ihn die Reue mit unnachsichtiger Selbstquälerei. Er greift wieder zu seinen „Lebensregeln“, um die Arbeit von neuem zu beginnen, in diesem Augenblick der Einkehr fest überzeugt, daß er in Zukunft nie etwas, böses tun, nic eine Minute müßig verbringen, nie seinen Lebensregeln untreu werden würde. Von welcher Bedeutung dieser moralische Aufschwung für Nikolaj Irtenjews weitere Entwickelung war, das sollte (wie schon oben gesagt) „in der folgenden, glücklicheren Hälfte des Jünglingsalters" erzählt werden die nie geschrieben wurde Die Form dieser Erstlingsdichtung konnte wohl dazu verleiten, in den Schicksalen Nikolaj Frtenjews die Wiedergabe eigener Erlebnisse zu sehen. So lange man den Lebensgang Tolstojs nicht kannte war das möglich. Da wir wissen, daß er als Kind Vater und Mutter in dem zarten Alter verlor, das kaum Erinnerungen hinterläßt, vielweniger zu Urteilen befähigt, daß seine ersten Jahre in Moskau und Kasan in der Obhut von Tanten verflossen müssen wir in den Eltern und der Großmutter Gebilde dichterischer Gestaltung anerkennen, an welchen die freischaffende Phantasie gleichen Anteil mit der Beobachtung in der näheren und weiteren Umgebung anspricht.

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Wie Tolstoj im allgemeinen zu Werke ging, kann mán annähernd aus der Erzählung von den beiden Hauslehrern erschließen. In Leo Tolstojs Hause waren in Wirklichkeit ein Deutscher und ein Franzose um die Erziehung der Knaben bemüht und zwar, wie auch in Irtenjews Selbstschilderung in der Reihenfolge, daß der Franzose als zweiter in die Familie fam. Leo Tolstois Lehrer hießen: Theodor Iwanowitsch Rössel und Prosper St. Thomas Irtenjems Erzieher sind Karl Iwanowitsch Mauer und St. Jérôme. Die Personen der Dichtung sind also offenbar mit den Erinnerungen des Lebens im unmittelbaren Zusammenhange, gleichzeitig aber auch (da den Lebensstufen" die Aufgabe einer Autobiographie ganz und gar fern war) von der Wirklichkeit unabhängig. Anders ergänzt der Dichter an anderer Stelle die Lücken des Selbsterlebten. Da er seinen Vater nicht kannte, bediente er sich eines anderen älteren Herrn aus seinem Umgangskreise gewisser maßen als Modell: des Großvaters seiner zukünftigen Gattin mütterlicherseits, und die Mimi der Kindheit ist das Abbild der Gouvernante in dem Hause des Großvaters, also der Erzieherin der Mutter seiner Gattin.

Die Linte genauer zu bestimmen, welche Erfindung von Erfahrung trennt, ist bei den „Lebensstufen“ schwieriger noch, als bei anderen Dichtungen. Im Grunde ist alle Dichtung nur Wiedergabe empfangener Eindrücke in einer selbstgewählten Be leuchtung, und wer sich im Roman die Aufgabe stellt, das Werden eines Menschen bis zu einem gewissen Zeitpunkt darzustellen, wird die Einzelzüge dieses Bildes nirgends anders herleiten können, als aus der Schazkammer des Selbsterfahrenen, so sehr auch das Gesamtbild von allem entfernt ist, was ihm auf dem eigenen Lebenswege begegnet ist.

Darf man aber demnach die Lebensstufen in Bezug auf das Tatsächliche von Nikolaj Irtenjews Schicksalen als Dich-| tung in den erläuterten Sinne bezeichnen, so sind sie doch in in einer Hinsicht als Selbstschilderung aufzufassen: in der Ausmalung aller seelischen Zustände und der Zergliederung des geistigen Werdeganges eines höher angelegten Einzelwesens. Das Seelenleben aber ist die Hauptsache in den „Lebensstufen“. Menschen und Ereignisse sind nur da, um in ein bestimmtes Verhältnis zu dem Seelenleben des werdenden Menschen zu treten, um ihrer Wirkungen und Nachwirkungen willen. Darum bedurfte der Dichter auch derjenigen Personen und Geschehnisse, die eines jeden Menschen erste Lebensjahre beeinflussen, und darum mußte er, was das eigene Leben ihm nicht bot, aus dem andrer herübernehmen.

Die angeborenen Anlagen und Neigungen Irtenjews aber sind die des Dichters und ihre Ausbildung zum Charakter läßt in dem Kinde, dem Knaben und Jüngling mit überraschender Deutlichkeit die Züge des Mannes, ja des Greises Tolstoj erkennen.

Die Grundlage in dem Wesen des Helden der „Lebens-
stufen"
wir können dabei immer mit gleichem Recht an
Tolstoj wie an Irtenjew denken — ist ein nimmermüdes Grü-|
beln. Jede Erscheinung der Außenwelt erregt sein Mitgefühl,
jede Phase seines Innenlebens fordert seine Prüfung heraus;
er durchdenkt sie bis zu der leßten Ursache und sucht ihren
Zusammenhang mit einer allgemeinen Weltordnung. In der
Werkstatt dieses Geistes folgt eine Frage aus der andern, und
der natürliche Wissenstrieb, früher erwacht als bei Menschen
von Alltagsprägung, artet in dem Kopfe des Knaben in eine
nahezu krankhafte Sucht aus, die Grenzen unserer Erkenntnis
zu überfliegen und den geheimnisvollen Zusammenhang alles
Seins zu ergründen. Irtenjews größter Genuß ist das ab-
gezogene Denken und seine unüberwindliche Neigung das end-

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Für keine philosophische Richtung begeistert sich der junge Denker so wie für den Skeptizismus, der ihn zu einer Zeit einem Zustande nahe brachte, der an Wahnsinn grenzte." Ich hatte die Vorstellung, daß außer mir niemand und nichts in der ganzen Welt vorhanden ist, daß die Dinge nicht Dinge, sondern Vorstellungen sind, die nur dann in die Erscheinung treten, wenn ich meine Aufmerksamkeit auf sie richte, und daß diese Vorstellungen sofort schwinden, wenn ich aufhöre, sie zu denken Es gab Stunden, wo ich unter dem Einflusse dieser „fixen Idee" zu einem solchen Grad geistiger Verwirrung kam, daß ich mich bisweilen schnell nach der entgegengesetzten Seite umsah, in der Hoffnung, dort, wo ich nicht war, von einem Nichts (néant) überrascht zu werden .

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Diese Neigung zu philosophischen Betrachtungen nennt Nikolaj seinen Hauptfehler, der ihm noch viel schlimmes im Leben zufügen sollte.

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Er glaubt unerschütterlich an ein Sittlichkeitsideal und foltert sich selbst, wenn er sich nicht auf dem geraden. Wege zu seiner Verwirklichung betrifft, durch eine erbarmungslose Aufrichtigkeit. Er kennt die rücksichtsvolle Halbheit nicht, die zwischen Denken und Tun vermittelt. Sobald er etwas als wahr erkennt, strebt er aus aller Kraft, es im Leben zu betätigen. Er beobachtet, er beurteilt alles. Er hat mehr Liebe und Nachsicht für die Eigenschaften und Handlungen anderer, als für die eigenen. In dem jugendlichen Sinn regen sich schon die gewaltigen Menschheitsfragen der Gleichheit und der Frauenerziehung.

Sein Sittlichkeitsideal besteht in der „Ueberzeugung, daß (Jüngl. I.) die Bestimmung des Menschen das Streben nach sittlicher Vervollkommnung ist, daß die Vervollkommnung leicht, erreichbar, ewig set." Die Verwirklichung dieses Ideals stellt sich ihm in eigener Weise dar. Er hält sich von dem Mädchenzimmer fern, er will seine Augen nicht auf die Frauen richten. „In drei Jahren, wenn ich der Bevormundung entwachsen bin, hetrate ich unbedingt." Erträumt. be= ständig von dem Weibe; noch dem siebzigjährigen, zahnlosen Greise wird liebevoll eine entzückende Marie das Alter ver| klären. In Irtenjew's Unterhaltungen mit Nechljudow hat das Glück immer dieselbe Gestalt: Ehe, Landleben, unausgeseßté Arbeit an der Selbstvervollkommnung. Und so be schäftigen ihn auch die Arten der Liebe und die niederschmetternde Beobachtung, wie zwischen Eheleuten der stille Haß“ sich entwickelt, jener unterdrückte Widerwille zu dem Gegenstande der Neigung, der sich in dem unbewußten Streben ausdrückt, diesem Gegenstand alle möglichen kleinen Unannehmlichkeiten zuzufügen."

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Der eigene Vater und die Stiefmutter sind der Gegenstand dieses Menschenstudiums. Und ebenso die Schwester und ihre Freundin. „Ich versuchte in diesem Sommer vor Langeweile manchmal mich Ljubotschka und Katjenka zu nähern und | mich mit ihnen zu unterhalten, aber jedesmal stieß ich bet ihnen auf einen solchen Mangel an der Fähigkeit zum logischen Denken, und auf eine solche Unkenntnis der einfachsten, gewöhnlichsten Dinge, wie z. B. was das Geld set, was man an der Universität lernt, was der Krieg sei und dergleichen, und auf eine solche Gleichgiltigkeit gegen die Erläuterung aller dieser Dinge, daß diese Versuche meine schlechte Meinung von ihnen nur noch bestärkten." Diese ganze geistige Arbeit vollzieht sich innerlich und wagt sich nicht nach außen. Denn Nikolaj

ist schüchtern und linkisch, von derben unschönen Gesichtszügen.

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ganz und gar unwahr, denn sie haben einen unwahren Umfang erhalten, das allgemeine Maß des Lebens ist berschoben, ihre Beziehungen zu den andern Dingen, und dieses Maß bildet die wirkliche Wahrheit."

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Nur Nechljudow darf in das lebhafte Getriebe dieser Gedanken | giebt, verschoben, und sind sie wahr vergrößert, so werden sie arbeit hineinblicken. Den anderen Genossen bleibt Irtenjem fern. Hier stößt ihn das planlose, ungezügelte ihres Lebens ab, dort scheut er sich, durch seine Wohlhabenheit zu fränfen. Der vierundzwanzigjährige Dichter hat dem Lebensanschlag Nikolaj Irtenjews gewiß aus seiner fortgeschritteneren Entwicklung manches mitgeteilt, und in diesem Alter ist ein Unterschied von vier Jahren ein bedeutender - aber in der Hauptsache ist das Seelenleben des heranwachsenden, reifenden Menschen mit einer Kenntnis der Psyche erfaßt, die in keinem Werke der Kunst ihres Gleichen hat und mit einer Sicherheit der Darstellung wiedergegeben, der auf dem Wege von den Phantasie-Geschauten bis zur Fixirung auch nicht der kleinste Zug verloren geht. Die Menschen, die Tolstoj vorführt, stehen leibhaftig vor seinem geistigen Auge; er bannt sie ohne Zutat fest. Wie der Natur selbst ist ihm nichts an ihnen bedeutungslos. Er weiß dem scheinbar Geringfügigen den Plaß in dem Ganzen anzuweisen, der jede Notwendigkeit auch dem weniger scharfsichtigen Auge dartut. Jedes Fältchen des Herzens durchdringt er mit seinem Falkenauge, jede Regung eines Fortschritts in dem körperlichen und geistigem Eein und ihrem wunderbaren Zusammenhange liegt vor ihm offenbar. Er ist der größte Anatom der Seele. Die anatomische Seele auch in den späteren Werken Tolstojs die stärkste Seite seines Talents überzeugt in diesem Erstlingswerk schon davon, daß eine große selbständige Dichterkraft es geschaffen hat.

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Und diese Kraft steht unter der Zucht eines überlegenen Kunstverstandes. In den „Lebensstufen“ in der „Kindheit“ und dem „Knabenalter" in höherem Maaße als in den "Jünglingsjahren“ - herischt eine so ebenmäßige Anordnung der einzelnen, scheinbar für sich behandelten Teile, wie in einem festgefügten Vau, dessen Einzelheiten, wie Stirnseite, Türmchen, Fenster, Zierrat, jedes für sich dem Schönheitssinn Freude gewähren, und dessen Ganzes den gleichen genußreichen Anblick gewährt.

In der Aufgabe der „Lebensstufen“ lag zugleich der An= trieb zu einer Kunsttechnik, die dem Tolstojschen Genius entsprach und mit geringenem oder größerem Vorteil auch die Werke der späteren Schaffenszeit beherrscht. Tolstoj bemüht sich nicht durch Worte eine Stimmung wiederzugeben, sondern durch Handlungen. Er schildert die ganze Reihe von Handlungen, winzige und winzigste, die auf die Gemüthsverfassung zurückschließen lassen. Das Bild der Wirklichkeit wird dadurch äußerst scharf. Denn im Leben verhält es sich ebenso. Die Stimmung, die innerlichen. Vorgänge entziehen sich dem fremden Auge, und nur wie die Menschen sich gebärden, wie sie sprechen und handeln, läßt uns auf ihre Seelenstimmung schließen.

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Diese Technik führt vielleicht hie und da zu einer peinlischen Kleinlichkeit — wie schon Aksakow (Russkaja Besêda 1851 I.) feinfühlend bemerkt hat. Aber auch nur ganz ausnahmsweise. Wir können dem scharfsinnigen Beurteiler nicht beipflichten in der Allgemeinheit, in der er diesen Tadel ausspricht. "Tolstoj's Analyse". sagt er „bemerkt oft Kleinigkeiten, die keine Aufmerksamkeit verdienen, die wie leichte Wolken spurlos über die Seele hingleiten; die Analyse, die sie beobachtet und festhält, giebt ihnen eine größere Bedeutung, als sie in der Wirklichkeit haben, und da durch werden sie unwahr. Die Analyse wird in diesem Falle zum Mikroskop. Mikroskopische Erscheinungen giebt es in der Seele, aber wenn man sie im Mikroskop vergrößert und so läßt, alles übrige aber in seiner natürlichen Beschaffenheit bleibt, so wird das Maß ihrer Beziehungen zu allem, was sie um

So scharfsinnig die Bemerkung Aksakows auch ist, so bestechend auf den ersten Blick- richtig ist sie nicht. Zustände der menschlichen Psyche können überhaupt uicht mit einem ein für allemal geltenden Maßstabe gemessen werden. Und der Dichter behält dem Kritiker gegenüber Recht. Denn was an dem einen spurlos vorübergeht, kann des andern ganzes Wesen umgestalten, und so ist nichts wesentlich oder unwesentlich an sich. Es erhält seine Bedeutung erst durch seine Wirkungen. Die Technik, die wir hier näher zu kennzeichnen versucht haben, und die Seelenanatomie der Lebensstufen sind Tolstoj's volles Eigentum, wenn auch die russische Litteratur Verwandtes zur Zeit ihrer Entstehung besaß. Besonders verglich die Kritik der fünfziger Jahre das Erstlingswerk des jungen Dichters gern mit Lermontow's Helden unserer Zeit und Gontscharow's Oblomow. Aber beide Dichter haben nur verwantes, nicht ähnliches geschaffen. Lermontow's Kunst ist auf die getreue Wiedergabe erkünftelter Gefühle gerichtet, Gontscharow's Ironie verurteilt die tatenlose Schwäche und läßt die zielbewußte Lebenstlugheit über sie triumphiren; Tolstoi will nichts anderes, als das wahre, ungeheuchelte Empfinden dem ererbten Fühlen und Denken gegenüber stellen. Wahrheit! und koste sie das Leben des Einzelnen, der Menschheit!

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Die Frucht der Schönheit bring ich auf die Erde,.
Die Kunst, die Seligkeit der Ewigkeiten;
Vergessen sollt ihr Mühsal und Beschwerde,
Auf stiller Flut ins Meer der Freude gleiten!
Ein trüber Rausch nur ist des Daseins Not,
Ein Wahn der Schmerz, ein Augenblick der Tod:
Entzückt ob allem Erdendunste schweben,
Das ist die Wahrheit, das ist das Leben!"
Da stand fie funkelnd in der Sonne winkte,
Hoch in der Rechten, weithin gleißend blinkte
Die goldne Frucht. Und jauchzend ihr entgegen
Aus allen Toren brausende Scharen quollen,
Auf allen Straßen Jubelgrüße schollen, -
In jedem Aug ein Glanz, ale hätt' ein Regen
Von Glück geweckt die Blüten jeder Seele.

Mit feucht' ich vorn im Schwarm. Aus heißer Kehle
Durströchelnd, niederstürzt ich in den Sand,
Umflammerte des Weibes Prachtgewand:
Gieb!" fleht' ich ächzend. Gieb uns, gieb uns!" ächzten
Gieb uns, gieb uns!" ächzten
Die Abertausende, die mit mir lechzten.
Doch dumpf und hohl die Glockenstimme tönte
Herab zu uns, wie Grabeston fie dröhnte:

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Nicht dürft ihr nah'n mit irdischer Begier, Im Abglanz nur begreift die Schönheit thr!" Und scheu verstummten alle; auf dem Volke Lag schwer das Wort gleich fahler Nebelwolke. Auf einmal aber letse, helser, bang Ein Angstgeflüster durch die Stille klang:

Sie log uns wir verschmachten weh, sie log!" Und, wie die Windsbraut durch den Forst, so flog Es durch die Scharen, laut und lauter schwellend: Ste log, log, log uns," toll und toller gellend, Wutschreiend, jammerwild, und Flüche schallten, Und Fäuste griffen drohend nach den Falten Des prunkenden Kleides, und ein Schreck Die tobenden Reihen starrten wie erdrückt, Ein Bild des Stolzes hatte sie berückt:

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Und da ihr reif seid alles zu verstehen,

Sollt ihr die Kunst in ganzer Nacktheit sehn!"
Und mit den Spinnenfingern frallte
Jns schlotternde Prunkgewand die Alte,
Schon blinzten durch des Kleides Spalten
Des greifen Leibes schlaffe Falten:

Dawie ein Frühlingsdonner schwoll es an -
Ein Efelschrei zerriß den dumpfen Bann,
Und wie die Brandung von der morschen Klippe
Zurück ins freie Meergewoge schäumt,

So stürmten, flohen scham- und zorngebäumt
Hinweg die Scharen von dem Angstgerippe
Ümrante mich die tolle Flut, doch jauchzend lachte
Erlöst aus voller Brust ich und ermachte.

Weitauf das Fenster, saß ich. Jns Gewühl
Der lauten Straße sanft das Mailicht fiel
Tief unten, aus dem dunkeln Schattenloch
Des Hofes drüben, schien zum Glanz zu steigen
Ein blühender Kirschbaum, rein als hinge noch
Das Morgenrot in seinen schimmernden Zweigen.
Und wo er über die graue Mauer nickte,
Stand blaß ein Straßenkind und gab
Von seinem Brote einer Armen ab,

Die Franken Fußes lächelnd weiterfrückte;
Das Brot war trocken, das Stück war klein,
Das Händchen schmuzig, doch des Auges Leuchten
So rein wie über ihm der Sonnenschein,
Der ringsher um die schwarzen, frühlingsfeuchten
Dächer der gährenden Stadt, als wärens Bräute,
Weißseidene Schleier wob und Perlen streute.
Am Horizonte glimmte in den Dünften

Schwach, wie ein Irrlicht schwimmt in Sumpfgespinsten, Die plumpe Göttin jeßt. Doch näher, an der Ecke ein Graun: Dicht unter mir, floß hell der weiche Glanz Um eine andre Säule; bunt Geflecke, Grell, ein zerhackter Regenbogenfranz

Da stand ein Bild der Ohnmacht, dürr und braun!
Ein Schauer zuckte durch den Riesenleib,

Es war, als schrumpfte Zoll um Zoll das Weib,
Matt knickte nieder Haupt und Arm,

Die blanke Frucht fiel prasselnd in den Schwarm,
Zu Moderqualm zerstob sie im Gedränge,
Zu Flittertand der Schale Goldgepränge;
Und vom Gesicht des Weibes sah ich flattern
Die glatte Haut, wie abgeschürfte Blattern,
Aus blöden Augen glomm ein trüber Schein
Wie schaler Bodenrest aus leeren Bechern,
Die dünnen Lippen knifften woelf sich ein,
Und aus dem Zahngelücke froch es blechern:
„Ach ja ach je die Kunst wird alt so sachte!
Ihr habt schon Recht! Na, seid man still! Ich dachte:
Ihr könnt noch glauben an die ewige Jugend!
Na laßt man, Kinder! Seht: ich bin ja ehrlich!
Und ist das schwache Rückgrat auch beschwerlich:
Man macht dann eben aus der Not 'ne Tugend!
Sa -
- alles Dasein ist ein morscher Plunder,
Der Geist verpufft sich selbst wie mürber Zunder,
Der Mitmensch kommt und schluckt den schlimmen Nauch
Und friegt davon das Grimmen in den Bauch;
Ein Kunststück ist es, sich davor zu hüten!
Drum will ich euch als Gegengift die Blüten
Aus diesem Pestbeet säuberlich seziren,
Ein schwaches Auge liebt das Mikroskop,
Doch nicht das Sonnenfernglas zu regieren,
Und Unkraut wächst ja massenhaft Gottlob!
Die Decke von der Fäulnis aufzuheben:
Das ist die Wahrheit, das ist das Leben!"
Und wieder lautlos, in beklommnen Träumen
Ein Nicken rings und dünne Seufzer wehten,
Wie Herbstlaub rieselt von den blassen Bäumen;
Dann sah ich manchen grinsend näher treten.
Da schiens als wüchse wieder hoch die Alte,
Und prahlender die dürre Stimme hallte:
„Am Schönheitswahnsinn mögen Narren klauben,
Heut braucht man blos der Wissenschaft zu glauben!

In lustigem Farbenwirbel, prangte dran

Und auf dem Pflaster drängte Mann an Mann;
Sie lauschten; Einer las, gebückt und schief,
Ein rotes Blatt, das zur Versammlung rief.
Verbißner Grimm aus knochigen Mienen sprach,
Auf furchigen Stirnen dick die Sorge lag;
Und als der Haufen auseinanderwich,
Und als sie sich die russigen Hände drückten
Und fargen Gruß die starren Köpfe nickten,

Da, ja da fühlte man: es schlich

Manch schlimmer Wunsch aus haßgepreßter Kehle;
Doch aus den Blicken zuckte im Sonnenstrahl
So sprüht der Funke aus dem harten Stahl
Hell die Begeisterung der wilden Seele.
Und wie der Schein dort oben das rauhe Land,
Die schlafenden Keime rings der rohen Erde:
So, Einer lautern Hoffnung voll, umwand
In Eins sie Alle diese Lichtgeberde.

"

und in mir rief und sang es: Sonnenflamme,
Wir alle sind von deinem goldnen Stamme!
In jeder Brust von dir ein Funke glüht,
Der angefacht empor zur Lohe blüht!
Kein Wahn ist diese wogende Kraft, kein Traum:
Kein dunstig Hirngespinst kein schillernder Schaum!
Wie du aus Licht und Dunkel Farben wirkst,
Im Schooß der Nacht die Sat des Tages birgst,
Wie in der dumpfen Schlacke, dir entflossen,
Dein Flammenblut du in die Welt gegossen,.
Das aus dem falten Staube der Gestalt
Vor Sonnenheimweh heiße Worte lallt:
So in den Schatten der Vergangenheiten
Die Glut der lichten Sehnsucht dieser Zeiten
Am Blut der Zeit, am Volke, zu beleben.
Das ist die Kunst, die Wahrheit das wirkt Leben!"

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Die Kröte und die Rose.

Eine russische Erzählung von Wsewolod Garschin.
Es war einmal eine Rose und eine Kröte.

Der Strauch, auf welchem die Rose blühte, stand in einem kleinen, halbrunden Vorgärtchen vor einem hölzernen Hause. Seit langer Zeit schon war der Garten verlassen; das Unkraut wucherte fret und üppig auf den Blumenbeeten und in den Gängen empor, die niemand mehr reinigte und mit Kies bestreute. Das Holzgitter, das aus viereckigen Stäben, die einstmals grün angestrichen gewesen waren, bestand, war entfärbt, teilweise zerbrochen und verfallen. Die Straßenjungen hatten einzelne Stäbe herausgerissen, um damit Soldat zu spielen, und auch die Muschits hatten welche genommen, um sich gegen die Hunde zu verteidigen. Das Wachstum jedoch hatte durch diesen Verfall nicht gelitten. Der Hopfen und die weißblütige Flachsseide bedeckten die Refte des Zaunes mit lieblichem Laubwerk, aus dem blaßgrüne wilde Erbsen büschelweise herabhingen, hie und da untermischt mit hellblauen Blüten. Spizige Disteln, so hoch, daß man sie fast Bäume hätte nennen mögen, entsproßten dem feuchten und fruchtbaren Boden des Bärtchens und bildeten ein weites schattiges Dickicht. Die gelben Königsferzen streckten ihre mit Blüten besäten Stiele über die Disteln hinweg; die Brennnesseln beseßten eine ganze Ecke des Gartens, und, so gefahrdrohend sie aussahen, so mußte man doch von weitem das tiefduntle Grün bewundern, von dem sich die blassen Farben der Rose abhoben.

An einem schönen Maimorgen hatte sie ihren Kelch geöffnet. Der Morgentau, der in der Luft schwebte, hatte auf ihren Blumenblättern ein paar kleine, flare und reine Tränentröpfchen zurückgelassen. Die Blume schien zu weinen. Aber alles um sie herum war so klar, so sonnig im Glanze des Morgens, an dem sie zum erstenmale den blauen Himmel sah, den erfrischenden Hauch und den Stral der glänzenden Sonne fühlte, der mit rosigem Lichte ihre feinen, dünnen Blumenblätter durchdrang; in dem Gärtchen war alles so friedlich und ruhig, daß, wenn sie wirklich hätte weinen können, sie es nicht vor Kummer, sondern vor Freude und Glück getan hätte. Sie konnte nicht sprechen, aber, wenn sie ihr kleines Köpfchen beugte, konnte sie einen feinen und frischen Duft verbreiten: und das waren ihre Worte, ihre Tränen, ihre Bitten.

Zu ihren Füßen saß zwischen den Wurzeln des Strauches eine alte dicke Kröte, die die ganze Nacht hindurch auf Würmerund Mückenfang ausgewesen war und sich nun, beim Erwachen. der Morgenröte, ein schattiges und feuchtes Pläßchen zur Ruhe ausgesucht hatte. Sie saß da mit geschlossenen, von einer Nichaut bedeckten Augen; thre schmutzig-grauen, zähen und flebrigen Seiten waren aufgeblasen; sie atmete leise. Eins ihrer Beine hatte sie vorn liegen laffen, zu faul, es an den Bauch heranzuziehen. Weder der Morgen, noch die Sonne erfreuten fie; fie war vollgepfropft, sie ruhte. Als aber das langsam hinsterbende Lüftchen den Duft der Rose nicht mehr davontrug, atmete sie ihn ein; sie empfand wohl eine Art von Regung, aber sie war zu faul, um nachzusehen, woher ihr dieser Duft kam.

Schon seit langer Zeit hatte kein menschlicher Fuß den Garten betreten, in dem die Rose wuchs und die Kröte faullenzte. Ein kleiner Knabe, der bet schönem Wetter den Tag über vor dem Fenster zubrachte, war zum leßtenmale im vergangenen Jahre dagewesen, im Herbst, gerade als die Kröte zum Ueberwintern in einen Grundstein des Hauses kroch. Ein junges Mädchen, seine Schwester, saß damals am Fenster, las in einem Buche oder stickte und betrachtete von Zeit zu Zeit ihren Bruder. Dieser war ein kleiner Junge von sieben Jahren, mit einem großen Kopf und großen Augen auf einem schwächlichen Körper. Er liebte seinen Garten sehr, den man wohl sein nennen konnte, denn niemand sonst kam an diesen verlassenen Ort. Wenn er dort war, sezte er sich gegenüber dem Hause auf etne alte Bank, gerade in die Sonne. Die Bank stand in einer trocknen sandigen Allee, der einzigen, die in gutem Zustande war, weil man sie passiren mußte, wenn man die Läden schließen wollte. Und hier las er das Buch, das er sich mitgebracht hatte.

Wassia! soll ich dir deinen Ball zuwerfen? Das ist lustig."

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Nein, Mascha, ich lese lieber mein Buch."

Er blieb lange sißen und las. Wenn er von den Aben

teuern des Robinson, von den Geschichten wilder Völker und Piraten ermüdet war, ließ er sein Buch auf der Bank offen liegen und ging tiefer in den Garten hinein. Jeder Busch war ihm vertraut, er kannte jeden Strauch. Er kauerte sich vor einer mächtigen Königsterze nieder, umstanden von weißen, rauhhaarigen Blättern, die dreimal höher waren als er, und betrachtete ein ganzes Volk von Ameisen, das auf der Suche nach Blattläufen den Stengel in die Höhe troch; er beobachtete, mit welcher Geschicklichkeit eine Ameise die kleinen Rollen von dem Rücken der Blattläuse nahm und die reinen Tröpfchen süßer Flüssigkeit sammelte, die am Ende der Rollen heraussickerten; er bemerkte, mit welcher Eile und mit welcher Sorgfalt die Käfer ihre Kugeln hinter sich schleppten, man weiß nicht, wohin? Er sah der Spinne zu, die, nachdem sie ihr Neß ausgespannt, den Fliegen auflauerte, und der Eidechse, die ihr kleines Maul der Sonne entgegen öffnete und in ihrem Stral erglänzte mit den Schuppen ihres grünen Panzers. Eines Abends sah er zum erstenmale einen lebenden Igel. Er fonnte vor Freude kaum an sich halten und hätte beinahe in die Hände geklatscht. Aber die Furcht, das kleine spißige Tier zu erschrecken, hielt ihn davon zurück. Er hielt seinen Atem an, öffnete weit seine vor Freude glänzenden Augen und sah zu, wie das Tier mit seinem Schweineschnäuzchen schnupperte und zwischen den Wurzeln des Rosenstrauchs nach Würmern suchte, die es mit seinen kleinen, runden, bärenähnlichen Tazen in gar zu drolliger Weise auflas.

„Wassia, mein Liebling, komm' herein, es beginnt feucht zu werden," rief jeßt seine Schwester mit lauter Stimme. Der kleine Igel erschrat bei diesem Ruf und rollte sich, Kopf und Pfoten unter die Stacheln zurückziehend, zu einer Kugel zusammen. Der Knabe berührte leise die Stacheln: das Tier rollte sich noch enger zu Hauf und und begann wie eine fleine Dampfmaschine dumpf und hastig zu schnauben. Allmälich befreundete er sich mit dem Igel. Er war so schwächlich, so friedlich, so ruhig, daß man hätte glauben mögen, die kleinen Tiere müßten es, so schnell gewöhnten sie sich an ihn. Als aber erst der Igel die Milch geschmeckt hatte, die ihm der Eigentümer des Gartens in einer kleinen Untertasse brachte, da stieg die Freude des Kindes auf ihren Höhepunkt.

In diesem Frühling konnte der Knabe jedoch nicht in den Garten hinab. Wenn seine Schwester wie ehemals neben ihm saß, so war das nicht draußen am Fenster, sondern drinnen, am Bett. Sie las mit lauter Stimme ein Buch, aber nicht mehr für sich, sondern für ihn, der seinen abgezehrten Kopf nicht mehr von den weißen Kissen erheben konnte. Er wäre auch kaum im stande gewesen, das fleinste Buch in seinen zitternden Händen zu halten, und seine Augen ermüdeten schnell vom Lesen. Kein Zweifel, der wird nicht mehr in seinen geliebten Garten gehen.

„Mascha!" murmelte er plößlich zu seiner Schwester.
Was denn, mein Liebling?"

"

Ist es schön im Garten? Haben sich die Rosen schon

entfaltet?"

Die Schwester beugte sich über ihn, streichelte seine eingefallenen Wangen und trocknete eine Träne in ihren Augen.

„Ja, mein Liebling, es ist sehr schön draußen, und die Rosen blühen schon. Montag werden wir zusammen hinausgehen. Der Arzt wird es dir erlauben."

Das Kind antwortete nichts. Es seufzte tief auf. Die Schwester begann wieder zu lesen.

"

Genug. Ich bin müde; ich will schlafen."

Die Schwester legte ihm die Kissen und die weiße Bettdecke zurecht.

Er kehrte sich mühsam zur Wand und schwieg.

Die Sonne glißerte durch das Fenster, das zum Garten hinaussah und warf ihre goldenen Stralen auf das Bett, in dem der kleine Körper ruhte. Sie leuchtete von den Kissen und der Decke wider und vergoldete die kurzen Haare und den mageren Hals des Kindes.

Die Rose mußte nichts von alledem. Sie wuchs und entfaltete sich. Am folgenden Tage mußte sie völlig aufgeblüht sein, am dritten aber mußte sie schon welken und sich entblättern. Und das ist das ganze Leben der Rose. Aber in dieser so kurzen Lebenszeit sollte sie sehr viele Schrecken und sehr vielen Verdruß erfahren.

Die Fröte hatte sie bemerkt. Als sie die Blume zum

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