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einzelne Gruppe vor uns, die uns mitten in die Fahrt versett.

Der Zug hat schon die höhere Bergregion erreicht und sich in der Freiheit der „reinen Lüfte" gelockert. So treffen wir eben auf eine lustig vordringende Gruppe von ein paar Rindern und einem Rudel Schafe, worunter ein angehendes Stierli, das offenbar zum ersten Mal auf die Alpe kommt Ein junger Senn, an eine schöne falbe Ruh gelehnt, schaut sich um und lenkt so den Blick auf einige Hirten und Tiere, die in der Entfernung durch den silbernen Morgenduft heraufkommen. Troß dieser mäßigen Zahl von | Figuren fühlen und wissen wir, worum es sich handelt; wir befinden uns so zu sagen selber mitten in dem Stück schöner Natur und woliger Bewegung. Wir wissen, daß ein Teil des Zuges schon voraus ist, ein anderer noch kommen wird. Koller hat lange, bevor die jeßige Sensationsmalerei existirte, seine Vordergründe, wo die Größenverhältnisse der Bilder es bedingten, mit ungebrochen blühenden Farben auszustatten geliebt; er steht um so gerechtfertigter da, als er dabei niemals seine männliche Art und Besonnenheit und die Geseze ehrlichen Fleißes überschritten hat. Auch auf gegenwärtigem Bilde stehen wir im frischesten Grün, das von der bunt aufgeblühten Alpenflora durchwirkt ist. Von diesem Boden heben sich die Figuren um so kräftiger_ab, als das Firngebirge des Hintergrundes, mit der wallenden Wolke des Morgennebels verschmolzen, mehr geahnt, als gesehen wird, und kaum hie und da schimmernd durchblickt. Dies giebt, verbunden mit dem kraftvollen Vordergrunde, der ganzen Darstellung ihre Weite, Leichtigkeit und Lichtfülle, sowie auch die heitere Ruhe in aller Bewegung. Das Bild ist übrigens nicht nach Wien abgegangen, da| es noch im Atelier verkauft wurde.

Einen eigentümlichen Reiz gewährte das zweite Zimmer der Werkstatt durch seine damalige Ausschmückung. Die eigentliche Landspiße des Zürichhorus, angrenzend an Herrn Kollers Besitzung, ist ein leberreft des ursprünglichen Ufergeländes im idyllischen Zustande vor der Zeit der Landanlagen und Quaibauten, als Schilf und Weidicht mit den über das Wasser hängenden Fruchtbäumen abwechselten. Man hat jest keinen Begriff mehr von dem malerischen Anblick der Seeufer bis nahe an die Stadtmauern, und Goethe müßte weit hinauffahren, bis er fingen könnte: Morgenwind umflügelt Die beschattete Bucht Und im See bespiegelt

Sich die reifende Frucht.

Bis jett Staatseigentum, blieb das fragliche Landstück auf Zusehen hin im alten Zustande, zumal es Aus mündungsstelle eines Wildbaches ist, der erst in letter Zeit eingebaut wurde. Diesem Umstande ist es zu danken, daß ein kleiner Wald von Weiden sich vollständig auswachsen konnte und einen Park von stattlichen Bäumen mit vollen, runden Formen bildet, wie sie ein Poussin sich nicht besser wünschen konnte, mit Durchblicken in den westlichen Abendhimmel, auf den See und auf die im Morgenlichte schwimmenden Gebirgslinien. Niemand, der nicht näher hinzutrat und namentlich das Innere des aus der Entfernung so schlicht anzusehenden kleinen Gehölzes nicht fennt, vermutete einen so köstlichen Schatz darin zu finden. Aber erst durch eine Reihe rein landschaftlicher Bilder, die Koller daraus geschöpft hat, ist der Wert recht zu Tage getreten, und zwar wörtlich in allen Tageszeiten; denn vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung hat er die schönen Bäume mit der atmosphärischen Erscheinung verbunden wiedergegeben, in durchgeführten Bildern dieselbe Einsamkeit, dasselbe geheimnisvolle Naturwalten in mannig fachem Wechsel dargestellt und so seine alte Vielseitigkeit neuerdings bewährt. Wir könnten uns nichts Sinnigeres denken, als ein Zimmer oder einen Saal, der ausschließ

| lich mit diesen anmutigen Baumbildern dekorirt wäre, wozu freilich ein etwas geschulter Geschmack und eine unverkümmerte Liebe zur grünen Waldeinsamkeit gehörte. Das Wäldchen ist übrigens aus Anlaß der letzten Bachkorrektion schon bedeutend geschädigt worden und wird wol bald ganz vom Erdboden verschwinden. Daher ist das Denkmal, das der Künstler dem vergänglichen Gewächse gestiftet hat, ebenso verdienstlich als rührend. Bäume wachsen immer wieder, aber wenige in den Himmel; denn wenn es im Faust heißt: „Aber die Sonne duldet kein Weißes,“ jo kann man jezt sagen: Aber der Bauherr duldet kein Grünes." Die gleiche Generation, die jetzt Bäume pflanzt, pflegt sie auch wieder umzuschlagen, auszureißen und sorgfältig klein zu machen, ehe sie abzieht, gleich wie Mietsleute Stuben und Küche ausfegen, wenn fie eine Wohnung verlassen. Kein Mensch wird einst glauben, daß die Kollerschen Weidenbilder hier gewachsen und gemalt worden seien.

Gerichtsärztliche Bemerkungen zum MordProzeß Heinze.

Das große Aufsehen, welches der Prozeß Heinze in allen Gesellschaftsklassen erregt hat, fuüpft sich an sehr verschiedene Einzelheiten. Selten ist in neuerer Zeit ein Kriminalprozeß geführt worden, bei dem sich so lebhaft das Bedürfnis der Reform unseres Strafrechts, Strafprozesses und Strafvollzuges fühlbar gemacht hat, wie in diesem Prozesse.

Immer wieder zeigt sich während der Verhandlungen die dämonische Bestialität der geborenen Verbrechernatur, die bei den Angeklagten, wie bei so manchem Zeugen unheimlich ihren den Perlen des Verteidiger-Setts wiederspiegelte. Eindruck fand, deren triumphirendes Sicherheitsgefühl sich in

Wollte man den Gesamteindruck dieser Erscheinungen zu kurzer Charakteristik zusammenfassen, so müßte man sagen: „Das ist ein ungeschriebenes Kapitel Lombrosos". In der Tat sind dem Schreiber dieser Zeilen selten in einem einzigen Prozesse so zahlreiche Einzelheiten begegnet, die so ganz dem von Lombroso entworfenen Bild des geborenen Verbrechers entsprechen, wie in dem Heinzeschen.

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Freilich fehlt in dem Bilde dieses fürchterlichen Paares, dessen Ehe" schon eine irritirende Verhöhnung dieser heiligsten sozialen Institute ist, die detailirte Schilderung der Kainszeichen, die Lombroso als anthropologische Charaktere des Verbrechertypus geschildert hat und die den geborenen Verbrecher schon auf den ersten Blick als eine Monstrosität, eine lebenslange Abweichung vom menschlichen Typus charakterisiren. Es sind aber in dem Ehepaare die psychischen Charaktere der Verbrechernatur fo deutlich ausgesprochen, daß man mit sehr großer Wahrscheinlichkeit annehmen kann, daß sie sich auch körperlich als degenerirt, d. h. als vom normalen anthropologischen Typus des Menschen wesentlich abweichend zeigen werden.

Es würde notwendig sein, sehr ins Einzelne zu gehen, wenn hier alles aufgezählt werden sollte, was im Verlauf der Verhandlungen an Zügen psychischer Degeneration hervorgetreten ist. Das Allerwichtigste dabei ist die Assoziation zwischen dem unverbesserlichen Verbrecher und der Prostituirten. Lom= broso hat für jeden, der sehen will, bewiesen, daß derselbe Degenerationsprozeß, der aus dem Manne den Dieb oder Mörder macht, die Frau zur Prostituirten macht; er hat an einem umfassenden Material die stete Assoziirung von Prostituirten und gehende Bestätigung haben diese Aufschlüsse über das Wesen unverbesserlichen Verbrechern nachgewiesen. Eine sehr einder Prostitution in den in Petersburg durchgeführten Forschungen von P. Tarnowsky gefunden (Etude anthropométrique sur les Prostituées et les Voleuses. Paris Lecrosnier

1889) und neuerdings in dem ausgezeichneten Buche von E. Laurent über die Pariser Verbrecherwelt (Les habitués des prisons de Paris. Lyon Storck 1891). Im übrigen bestätigen diese sorgsamen Untersuchungen nur die täglichen Erfahrungen preußischer Polizei- und Gefängnißärzte.

Es besteht gar kein Zweifel, daß der Kern der Prostitution aus kriminellen Individuen besteht, die ihre Organisation mit Notwendigkeit in ihr Gewerbe treibt. Es soll gar nicht geleugnet werden, daß es auch Prostituirte aus Leidenschaft und aus Gelegenheit giebt, einer der besten Kenner der Verbrecher und Dirnenwelt, Costojewsky, hat aber auch gezeigt, daß auch unter ihnen die Neigung besteht, sich mit dem Mörder zu assoziiren (Raskolnikom und Sonja). Man darf gerade bei Dostojewski, dessen Gefühlsverwandschaft mit dem Marquis de Sade von Turgenjem sehr scharf erkannt worden ist, ein tieses Verständnis für die Verwandschaft zwischen Blutdurst und prostituirtem Triebleben annehmen. Bo Not oder andere zufällige äußere Umstände, oder wo die Folgen der Verführung ein leidenschaftliches Weib eine Zeit lang in die Schaaren der Prostituirten treibt, da ist ja auf Besserung zu hoffen, nicht aber bei den Berufsprostituirten, die freiwillig, d. h. einem unüberwindlichen Impulse folgend, ihr Gewerbe wählen und immer wieder, auch aus dem Hafen eines sicheren, behaglichen Ehelebens heraus in ihr fauliges Lebenselement zurückstreben.

Wer nur suchen will, wird Gestalten wie Manon Lescant und Lindaus Frau Bewer immer wieder finden; man denke nur an Gabrielle Bompard, die ihr Gewerbe als unmittelbares Werkzeug des Mordes benußte, man lese die Schilderung, die der französische Staatsanwalt von den Mordaffairen Madame Weiß und Madame Achet giebt. (Archives de l'Anthropologie criminelle. 15. Septembre 1891.)

Man hat nun, ganz im Geiste eines zynischen laissez aller gesagt, Prostituirte fämen immer und überall vor, das wäre eins der sozialen Uebel, die so alt wären wie die Welt, und auch ebensolange dauern würden. Schön. Aber das gilt auch von Mord, Diebstahl, Betrug und Veruntreuung. Soll mit diesem Argument auch vielleicht jede Bekämpfung des Verbrechens durch den Staat negirt werden?

Die Prostitution ist das Analogon und der Bundesgenoffe der männlichen Kriminalität. Ein Staat, der den Kampf gegen die Prostitution als aussichtslos ablehnt, muß konsequenter weise auch den gegen Mörder, Diebe und Anarchisten einstellen. Was kann denn nun unsere Eitten- und SicherheitsPolizei bei dem heutigen Stand der Gesetzgebung tun, um die scheußliche Kombination von erwerbsmäßigen Morde mit gewerbsmäßiger Unzucht zu verhindern?

Vor allem muß hier einmal die öffentliche Meinung aufgeklärt werden. Wenn der Großstädter nur einmal erst wüßte, daß der geschminkte Auswurf, der ihm in den Nacht-Cafés und auf den großen Verkehrsstraßen umgiebt, hinter sich eine Armee von Mördern und Einbrechern hat, würde diese Einsicht vielleicht da eine Abwendung von dieser Welt zu Wege bringen, wo sie Sittlichkeits- und Ehrgefühl noch nicht herbet führten.

Es mag bequem sein, Lombrosos Jdeen als Phantasterei oder als radikalen Determinismus zu verwerfen, Tatsachen schafft man damit aber nicht aus der Welt, und die Tatsache bleibt bestehen, daß der Sünderlohn jeder Dirne einem Verbrecher arbeitslos zu leben erlaubt; wer die Prostitution groß werden läßt, läßt den Mord groß werden, und wenn man weiß, wie Verbrechertum und Anarchismus sich zueinander verhalten, wer sich noch erinnert, wie in New-York das Scheusal Most im Bordell unter dem Bett einer Dirne hervorgezogen werden mußte, als man ihn suchte, wer an die fatale Rolle der prostituirten Théroigne de Méricourt denkt, und an die ungeheuere Zahl der Prostituirten in dem Zuge der Weiber nach Versailles am 5. Oktober 1789, unter den Frauen der Kommune, der wird auch verstehen, daß, wer die Prostitution

schüßt, das anarchische Attentat protegirt.

Ecrasez l'infâme! Dies Wort findet hier einmal eine unmittelbare Anwendung. Man hat es bisher noch nicht ernsthaft versucht, die infame Unzucht zu bekämpfen; was hat denn die Zwangserziehung verwahrloster Mädchen bisher auf diesem Gebiete geleistet? Wie dilettantisch hat man diese wichtige Aufgabe bisher angefaßt!

Zugegeben, daß die Prostitution immer wieder neue Rekruten finden wird, die infame Liga des Mordes mit dem Dirnentum wird sich durch die Machtmittel des modernen Staats wol sprengen lassen.

Vielleicht wird es dazu nötig sein, die eine oder die andere "Kohlrübe“ doch abzuschneiden. Oder gelten die vielen sentimentalen Einwände gegen die Todesstrafe auch für den Fall von sonnentlar bewiesenem Mord und Totschlag im wiederholten Rückfall?

Daß Heinze lieber noch ein bischen auf den Zeugen aus Chicago wartet, als den Prozeß zu seinem Ende zu verhelfen, das fann ihm wol auch ein nicht kriminell beanlagter Mensch nachfühlen. Daß er aber dies otium cum dignitate erhalten hat, in dem er vielleicht noch ein paar Gefängnißbeamte auf die Seite bringen, oder als wilder Mann die vielüberstiegenen Mauern Dalldorfs als leichtes Hindernis nehmen kann, das deutet auf Lücken und Schwächen unseres Strafprozesses, bet denen man fast bedauern möchte, daß außer dem chicagoer Zeugen auch der Richter Lynch in Berlin vermißt wurde. Dr. H. Kurella.

Skandinavische Nachlese.

Von Ola Hansson.

Der Titel, den ich dieser litterarischen Uebersicht gegeben, entspricht dem Eindruck, den ich von der Dichtung der skandinavischen Länder während des lezten Jahres empfangen.

Ich ging mit großen Erwartungen ans Werk. Ich hatte die Langaugesammelte Erfahrung, daß man mit ziemlicher Gewißheit darauf rechnen kann, unter dem Bielen, was daheim in Skandinavien über Jahr und Tag geschrieben wird, ein paar Werke, oder jedenfalls ein paar Seiten zu finden, die es einen vergeffen lassen, daß man während des Lesens den Staub der Landstraße eingeatmet hat. Und als die vielen Bücher sich so nach und nach vor mir und um mich herum häuften, auf dem Schreibtisch, auf den Stühlen, auf den Fensterbrettern, neu, frisch, unaufgeschnitten, nach der Druckerei riechend, wurde mir natürlich noch erwartungsvoller zu Mute. Es war die Litteratur des Frühlingsbüchermarktes und es schien zunächst quantitativ ein reicher Frühling zu sein. Welche Fülle an persönlicher Lebenserfahrung, an kulturellen Fortschrittstaten, an fünstlerischer Neuschöpfung, an neuen Ausblicken, an Feinheiten des dichterischen Handwerks lichkeit vor dem: Sesam, öffne dich!" des Kritikers zu konnten hier nicht vorzufinden sein, bereit all ihre Herrentblößen.

Nun, was ich dann vorfand, war eigentlich ein allzu gewöhnlicher skandinavischer Butterbrottisch, in einem Restaurant zweiten Ranges servirt. Die alten Größen glichen dem guten Homer, der zuweilen schlummerte, die großen Kleinen zogen alle im Bilde des Krebses auf und fast durchgehends in Sonnenuntergangsbeleuchtung vor. die jungen Namen, die Männer der Zukunft, stellten sich

Das Totalbild, das ich faffen und wiedergeben sollte, hat indessen auch seine lichten Partieen; noch sicherer ist das kulturelle Interesse, das es für den Leserkreis eines Blattes haben muß, welches es zu seiner Aufgabe gemacht hat, dem deutschen Publikum die Bekanntschaft mit der modernen Litteratur des Auslandes zu vermitteln.

I.

Ich sehe von den beiden skandinavischen Größen ab, die Bürgerrecht in Deutschland haben und deren lezte Arbeiten längst in allen Blättern besprochen worden find, von Ibsen und Brandes, und beginne gleich mit der Gruppe skandinavischer Dichter, die zwischen dem ersten großen berühmten Aufgebot und den jüngsten Nachzüglern stehen. Diese ganze Gruppe hat ihren Höhepunkt als Geister und Dichter erreicht; ihre Produktion hat schon ihre Blüte getrieben, ihre Individualität das Wachstumsstadium verlassen. Sie haben einen Namen wie ihre großen Vorgänger, in denen fie wurzeln, aber sie sind Berühmtheiten zweiter Güte; im Vergleich mit der Jugend, die ihnen auf die Fersen tritt, aber fehlt ihnen wieder das Jutereffe, das alles Unabgeschloffene, Wachsende einflößt. Keiner von ihnen war stark genug, sich aus dem Schatten der Meister hervorzuwagen, in dem er stand, und viele von ihnen sind jetzt mit den im Herbst gefallenen Blättern zu vergleichen, die im Frühling das junge Gras, das unter ihnen wächst, verhindern an die Sonne zu gelangen.

Das erste Buch, das mir in die Hände fiel, hieß: "Zehn Jahre", Erinnerungen und Erlebnisse von Herman Bang.*) Ich erwartete viel davon; denn diese „Zehn Jahre“, von denen das Buch nach seinem Titel handelte, waren ja in litterarischer Hinsicht die intereffantesten, die Skandinavien seit lange erlebt, und ihr Verfasser hatte fast alle diese kulturellen Vorgänge persönlich und aus erster Hand mit durchgemacht. Das unaufgeschnittene Buch redete zu mir von einem reichen Material und einer Behandlung desselben, die dem geübten Plauderer und stimmungsvollen Novelisten Herman Bang alle Ehre machen würde. Von all dem bekam ich Von all dem bekam ich nichts; was ich bekam, war gerade das, was ich mir am allerwenigsten wünschte, nämlich das affeftirte und ungenießbare eine Ich in der Person Herman Bang. Die ganzen zehn Jahre waren nichts als eine Sammlung auf gut Glück aus allerlei Zeitschriften zusammengefüchter Feuilletons, die dem Leser nichts anderes mitteilten, als einige ziemlich uninteressante Daten aus dem Privatleben Herrn Bangs während der letzten zehn Jahre; so z. B. daß Herrn Bangs Großvater ein sehr hochstehender Mann in Kopenhagen gewesen, womit Herr Bang während dieser zehn Jahre übrigens ebenso häufig das nordische Publikum bekannt gemacht haben dürfte; wie Herr Bang die skandinavischen Länder auf Tournéen durchzogen, Theater gespielt, Vorlesungen gehalten, mit und ohne Impresario, mit und ohne Humbug, wie er Fiasko gemacht und Triumphe gefeiert, Sommerferien in Tyrol bei Sophie Menter gehalten, mit der er auch einmal den Norden auf Gastreisen durchzogen, wie er Junggesellen weihnachtsabend ohne Geld in Prag gefeiert u. s. w. Unter anderem enthält das Buch auch eine Schilderung seines Martyriums, da er als „mißliebig" aus Berlin und seitdem aus einer deutschen Städt nach der andern. ausgewiesen ward, ohne daß aber auch das zu einem Kulturbild geworden wäre. Zu den guten Partieen des Buches gehört z. B. eine unvergleichliche Schilderung der beiden norwegischen Hauptstädte Christiania und Bergen. Aber auch sie leidet, wie alles, was Herman Bang jezt schreibt, unter den vergeblichen Versuchen eines ursprünglich stimmungsreichen, jezt ausgeschriebenen Mannes, den früheren reinen, hohen Ton von Pathos künstlich aufrecht zu erhalten. Bangs Vortrag erhielt einst seine Eigen fümlichkeit und Güte durch die Vereinigung von Stimmungsfülle und Nervosität; aber im selben Grade wie

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*) Verlag von J. H. Schubothe, Kopenhagen. Ueber Bang fiehe Magazin 1890, Nr. 30.

die äußere Produktion ohne Rücksicht auf den inneren Fond vor sich ging, wurde das Produziren zur Anstrengung, zur Routine, zu Manier, zu mechanisch wiederholten Gesten, zu Handwerk und Maschinennäherei, und die Stimmungsfülle wurde zu einer dünnen, füßen EmPfindelei, während die Nervosität sich im Stil als Asthma geltend machte.

Ein Schriftsteller, der als Persönlichkeit und Dichter Herman Bang nahesteht, ist Gustav Esmann. Beide find fie Dänen, beide gehörten sie demselben litterarischen Kreis an, der Kopenhagener jeunesse dorée, die vor einem Jahrzehnt als Ableger des Brandesianischen Europäismus“ emporschoß und ihre gemütlichen und schlichten“ Landsleute durch direkt von der Seine importirte Eleganz und Boulevard-Esprit erschreckte Es war eigentlich eine wunderliche Gruppe: einer dem andern ähnlich wie zwei Kirschen und alle gleich erotisch. Klein, mager, schwarzhaarig, mit Vogelbeinen und Vogelgesichtern,

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„die schwarzen Kleinen", wie sie in den Wizblätteru heißen; Skelett wie Krammetsvögel, Figur wie sächsisches Porzellan, moquant wie Damen, wißig wie pariser Causeure. Herman Bang war Hoherpriester, Gustav Esmann und Peter Nansen fungirten zunächst unter ihm. Ersterer formite von Zeit zu Zeit eine Novelle, oder ein Proverb, litterarische Nippfachen im Bildnis seines eigenen Aeußern, absolute Kunstwerke in ihrer Art, dem sächsischen Porzellan-Geure. Man hatte das Gefühl, daß Herr Esmann ihnen bei der Ausarbeitung dieselbe Sorgfalt_wid mete_wie seiner Toilette; es war vor allem eine sobre Kunst. Die ausgesucht feinen Miniaturarbeiten bezeich neten die eine Seite von Herrn Esmanns Persönlichkeit, die andere offenbarte sich in den koketten, wißigen Plaudereien in der Tagespreffe. In seiner lezten Arbeit, dem vieraftigen Lustspiel In der Provinz“ (Verlag von I. H. Schubothe, Kopenhagen), das im Königl. Theater aufgeführt wurde, ist weder von der köstlichen Miniaturarbeit der Novellen - mit Ausnahme einer einzigen viel zu finden. Es ist gleichgültiges, finnloses KleinstadtSzene, noch von der Wißigkeit der Zeitungskanserieen geschwät in Dialog gebracht, ohne Perspektive und ohne Mittelpunkt, ohne Persönlichkeit und ohne dramatische Bewegung, ein versumpftes Gefasel", womit der unübersehbare dänische Ausdruck „Vrövi" noch am ehesten wiederzugeben ist.

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Chronik, reiste vor einigen Jahren durch Kopenhagen und Ein schwedisch-amerikanischer Journalist, erzählt die führte sich bei einem Besuch, den er bei Herman Bang ablegte, mit der diskreten Yankeeschmeichelei ein: Herman Bang wäre Dänemark. Worauf Herr Bang erwiderte, sein geehrter Gast täusche sich: die eine Hälfte von Dänemark wäre Frau Amalie Skram. Hier ist nun erstens hinzuzufügen, daß das Dänemark, mit dem Herman Bang identisch ist, ein bischen kleiner sein dürfte, als das halbe Dänemark und zweitens, daß die andere Hälfte absolut in keiner Landsmannschaft mit Frau Amalie Skram steht. Amalie Skram ist eine norwegische Norwegerin, die von nackten Dingen mit nackten Worten spricht, gerade auf die Sache zu, ohne zu erröten, ohne zu blinzeln, sie selbst wie ihre Schilderungen ein Stück Gottesgabe von unverfälschter Natur, ein Stück Meer, ein Stück Urwald, ein Stück jungfräulicher Erde. Einen Teil ihres Lebens strich fie als echtes bergenser Mädchen in der alten Hansestadt und ihren Umgebungen umher, einen andern Teil widmete sie dem für Damen nicht allzu gewöhnlichen Vergnügen, die Welt auf einem Schiff zu umsegeln. In Uebereinstimmung damit dreht sich die eine Hälfte ihrer Produktion um bürgerliches Leben in Bergen und Fischerleben in den nahegelegenen Fischerdörfern („Sjur Gabriel", ,,S. G. Myhre"), während die andere Hälfte aus Schilde

rungen des Seemannislebens auf dem Weltmeer und in den Häfen fremder Länder besteht (Zwei Freunde", Einiges in Kindergeschichten") Ihr im Frühling_erschienenes Buch „Liebe im Norden und Süden" (Verlag von I. H. Schubothe, Kopenhagen) enthält drei Novellen, von denen nur die leßte neueren Datums ist. Die weitbereiste Frau hat auch für sie einen langen Weg gemacht, um ihren Stoff zu finden. Worüber sie dann aber endlich, drunten in Konstantinopel, kam, das war doch kaum eine so lange Reise wert. Das Motiv ist die tragische Liebesverbindung eines romantischen schwedischen Jünglings mit der spanischen, dunkeläugigen, marmor bleichen 2c. Gattin seines gleichfalls schwedischen Prinzipals. Die Heldin ist eine alte Romanfigur, die noch vergangener aussieht durch den Kontrast mit ihrem erzmodernen, naturalistischen Ende, nämlich Tod durch Abort. Ein physiologisches Rätsel, das die Verfasserin unterzuschieben versuchte, blieb ein mißglückter Versuch.

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In Schweden ist der Abstand zwischen dem ersten und dem zweiten Aufgebot ganz anders groß, als in den beiden Bruderländern. Es ist doch keine große Dissonanz, wenn man Drachmann, Pontoppidan, Jakobsen, Bang, Jbsen, Amalie Skram, Björnson, Garborg im selben Atem nennt; zwischen August Strindberg und einem Oskar Levertin 3. B. liegt dagegen eine Welt und ein Himmel.*) Die zweite Ernte steht in Schweden ungleich niedriger als in Norwegen und Dänemark. Oskar Levertin hat in diesem Frühling eine kleine Erzählung herausgegeben, die er Feinde des Lebens" nennt (Verlag von Alb. Bonnier, Stockholm) Das Buch ist, wenigstens zum Teil, älteren Datums; noch älteren Datums aber ist die Weltanschauung, die Lebensphilosophie in demselben. Feinde des Lebens" nennt Herr Levertin alle die, welche schlecht genug find, ihr eigenes und anderer privates Wolergehen für höhere, allgemeine, ideelle Intereffen bei Seite zu sehen, und die für ihre kulturellen Ziele kämpfen, bis sie selbst oder ihre Gegner fallen. Der Held, der als ein vorgeschobener Vorposten der radikalen Fortschrittspartei dargestellt wird, ist ein pathologischer Feigling, der in jedem fräftigen Feind ein Gespenst sicht, vor dem er so bange ist, wie ein Kind vor dem Dunkel, vor dem er davonläuft und sich versteckt. Er wird zum Schluß verrückt, verunglückt und stirbt; der böse Gegner, in deffen Zimmer er durch einen Zufall ausatmet, macht dazu sentimental humanitäre Reflexionen; und Herr Levertin befreuzt sich andächtig vor diesen beiden Repräsentanten für die Feinde des Lebens". Das Buch ist interessant als Beleg dafür, wie die Mutlosigkeit, die Tatlosigkeit unter dem reaktionären Regiment der letzten Jahre sogar auch die Jungen in Schweden gelähmt hat, die, von denen man erwartete, fie sollten das Volk nach dem gelobten Kanaan führen. Aber es sind jezt gerade diese Jungen, die in jedem Land die wirklichen und schlimmsten „Feinde des Lebens" zu sein scheinen. Der, welcher etwas will, welcher weiß, was er will, und Mut hat durchzusetzen, was er will, er ist ein Beförderer des Lebens; denn das ist dasselbe wie Persön lichkeit haben, lebendige, schöpferische Persönlichkeit, einen wachsenden Organismus, aus dem Zukunft hervorwachsen kann. Der Krieg hat größere Dinge zu Wege gebracht, als alles Gerede über Demut und Bersöhnung“, sagt Nietzsche. Aber die junge Generation in Skandinavien ist eine zahme Generation, oder eine ratlose Generation, ihre Flügel sind nicht einmal gebrochen, sie sind zu kurz gewachsen, und nur dann und wann sieht man einen rüstigen Norweger sich mit den Ellenbogen vorwärtsrudern.

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Interessanter ist Johani Ahos, des ausgezeichneten finnischen Volkslebenschilderers neues Buch „Spähne" *) Siehe Magazin 1890, Nr. 22.

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Der Staatsanwalt kann jederzeit während der Voruntersuchung die Gerichtsaften einsehen, vom Stande der Sache Kenntniß nehmen und die ihm geeignet erscheinenden Anträge stellen. Dem Augeschuldigten ist die Einsicht der Akten völlständig untersagt. Er erfährt nur das, was der vernehmende Polizeibeamte oder Richter ihm mitteilt. Er erfährt es nur in der Form, in welcher diese Personen die Mitteilung für zweckmäßig erachten. Ueber den wirklichen Inhalt der Akten bleibt er vollständig im Dunkeln. Kein Wunder, daß durch diese Ungewißheit auch der Unschuldige häufig ängstlich gemacht wird: in seiner Angst. sagt er zu viel oder zu wenig, weil er glaubt, sich dadurch entlasten zu können, und wenn er hierbei von der Wahrheit abweicht, so wird ihm diese Abweichung später als Schuldmoment angerechnet.

Es wird Jemand eines Diebstahls beschuldigt, er weiß, daß die gestohlene Sache in seinem Befih, daß sie aber wider seinen Willen von einem Dritten ihm ins Haus getragen worden ist. Bei der Vernehmung teilt man ihm nicht mit, daß die Sache bereits in seiner Wohnung gefunden worden. Man fragt ihn nur, ob er ihm Besize derselben sei, und in seiner Angst, sich zu belasten, leugnet er den Besitz ab. Es ist keine Frage, daß das Ableugnen bei der späteren Abmessung der Schuldmomente ihm teuer zu stehen kommt.

Aber nicht nur dem Angeschuldigten, auch deni Verteidiger sind die Gerichtsaften verschlossen. Erst nach dem Schlusse der Voruntersuchung, und wenn eine solche nicht stattgefunden hat, erst nach Einreichung der Anklageschrift ist er zur Einsicht der Akten befugt. Vorher nur dann, wenn nach dem freien Ermessen des Richters durch die Einsichtnahme der „Untersuchungszweck nicht gefährdet" wird. Durch diese Beschränkung ist der Verteidigung eine erfolgreiche Tätigkeit im Vorverfahren fast unmöglich gemacht; wenn sie nicht weiß, was an Belastungsmaterial zusammengebracht ist, kann sie nichts zur Erschütterung desselben tun. Aber nach Abschluß der Voruntersuchung oder Erhebung der Anklage, wird man einwenden, ist ja noch Zeit genug zur Anbringung der Verteidigungsmittel. Nein, dann ist in der Regel der beste Zeitpunkt schon verpaßt. Wenn das ganze Auflagematerial schon fest gefügt in den Akten zusammengetragen, wenn das Bild, welches die Anklage zeichnen will, schon in allen Einzelheiten ausgeführt ist, dann ist es schwer, noch einmal mit dem Pinsel heranzugehen und aus der düsteren Stimmung hellen Sonnenschein zu machen. Bei der

Fertigstellung des Werkes hätte der Verteidiger mitwirken, die Volksvertretung gegenüber dem entschiedenen Willen hier hätte er den schwarzen Farben der Auflage die hellen der Regierungen in der dritten Lesung nachgegeben hat. der Verteidigung beimischen müssen und es wäre ein ganz Auch in der Hauptverhandlung ist der Veranderes Bild zustande gekommen. Das Anklagematerial teidiger schlechter gestellt, als der Staatsanwalt. füllt die Akten, jeder Teil ist mit Beweismitteln versehen, Gerade hier treten sehr häufig die oben beleuchteten Anund nun kommt der Verteidiger und stellt Behauptungen schauungen hervor, welche die Verteidigung für ein überauf, die erst bewiesen werden sollen, die vielleicht mit flüssiges und schädliches Anhängsel der Strafrechtspflege erhobenen Beweisen in Widerspruch stehen. Während die halten. Diese Anschauungen äußern sich vielfach in der Anklage unbeschränkte Zeit hatte, ihr Material zusammen- | Behandlung der Entlastungsbeweise, aber auch manchmal zutragen, wird dem Verteidiger das Resultat dieser monate- in der Behandlung des Verteidigers selbst. Ein vorsichtiger oder jahrelangen Arbeit vorgelegt mit der Aufforderung, Anwalt wird mit Zeugen, welche er in der mündlichen sich binnen 7 Tagen, das ist die übliche Frist, zu Verhandlung zur Entlastung seines Klienten vorführen erklären, ob und welche neuen Beweisanträge er will, niemals vorher Rücksprache nehmen: er wird einfach zu stellen habe. Gelingt es ihm nicht, in dieser kurzen beantragen, sie über das zu vernehmen, was sie nach der Frist so viel zum Beweise der Unschuld beizubringen, daß Meinung seines Klienten wissen sollen. Da aber Vordadurch die Anklage erschüttert werden kann, und in ermittelungen, ob sie dies wirklich wissen, von seiner Seite der Regel gelingt das tatsächlich nicht, so wird das unmöglich und für den Angeklagten gefährlich find, so Hauptverfahren eröffnet: ein vielleicht Unschuldiger wird stellt es sich sehr häufig heraus, daß sie nichts von dem gezwungen, in öffentlicher Verhandlung sich gegen ent- befunden können, was in ihre Wissenschaft gestellt ist. ehrende Beschuldigungen zu verteidigen und im günstigsten Dieser Umstand giebt naturgemäß dem leitenden Richter Falle wird hier endlich ein Freispruch erzielt. Auf die das Gefühl einer nußlofen Arbeitsbelastung durch derArt, wie das Hauptverfahren eröffnet zu werden pflegt, artige Beweisanträge, und wenn dieses Gefühl häufig auf die Grundsäße, welche hierbei in der Praxis maß wiederkehrt, so kann es sich leicht zu einem Vorurteil gebend find, kann in diesem Zusammenhange nicht näher gegen Entlastungsanträge überhaupt steigern. Wissen eingegangen werden. Dieser Punkt verdient auch reichlich andererseits die Zeugen der Verteidigung etwas Erhebliches eine besondere Betrachtung. Hier genügt es wiederum, zur Sache zu bekunden, so haben sie nicht selten mit einem eine Ungleichheit hervorzuheben: wenn der folgenschwere Mißtrauen zu kämpfen, welches den Anklage-Zeugen nicht Beschluß auf Eröffnung des Hauptverfahrens ergangen in gleichem Maße entgegengesetzt wird. Die von ihnen ist, sieht weder dem Angeklagten noch dem Verteidiger ein bekundeten entlastenden Tatsachen sind dem leitenden Richter Rechtsmittel gegen denselben zu; wenn dagegen die Erhäufig neu, wenn nämlich die Vernehmung dieser Zeugen öffnung, abweichend von dem Antrage der Staatsanwalt- vor der Hauptverhandlung nicht zu erlangen war; diese schaft, abgelehnt worden ist, so steht der letzteren der Be- neuen Tatsachen stehen mit dem wolaufgeschichteten Beschwerdeweg offen. Richtiger wäre das Umgekehrte. Wenn lastungsmaterial im Widerspruch, es kommt wol auch zur drei Richter einen Angeschuldigten nicht einmal für „hin- Sprache, daß der Angeklagte, um Ermittelungen anzustellen, reichend verdächtig" halten, die Straftat begangen zu haben, vor der Verhandlung mit dem Zeugen gesprochen hat, und so sollte die weitere Verfolgung definitiv ausgeschloffen so ist das Mißtrauen gegen dieselben nur allzu erklärlich. sein. Halten sie ihn dagegen für genügend verdächtig, so Alle diese Umstände beeinflussen auch die Stellung möge es dem Angeschuldigten vergönnt sein, dieses Urteil des Verteidigers in der Hauptverhandlung. Er hat die von einer höheren Instanz nachprüfen zu lassen. Wichtig Zeugen zur Stelle gebracht; ist ihre Vernehmung nuglos, genug ist die Sache dazu: denn der bloße Umstand, daß weil sie nichts wissen, so wird ihm der Vorwurf gemacht, Jemand in öffentlicher Gerichtsverhandlung sich gegen eine wenn auch nicht direkt ausgesprochen, daß er die Verschwere Auflage verteidigen mußte, hat schon manches handlung unnüß aufgehalten; wiffen die Zeugen dagegen Lebensglück zerstört, manche Eristenz zu Grunde gerichtet, etwas Erhebliches zu Gunsten des Angeklagten anzuführen, auch wenn nachher eine Freisprechung erfolgt ist. so muß er sich häufig Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit gefallen lassen. Dazu kommt, um die Stimmung im Gerichtssaal oft recht schwül zu machen, der Umstand, daß in Deutschland keineswegs die Formen im Verkehr zwischen Richter, Staatsanwalt und Verteidiger herrschen, wie sie etwa in England und Frankreich, wo eine lange Tradition des öffentlichen Gerichtsverfahrens besteht, üblich sind. Es ist ein wahrer Genuß für einen deutschen Juristen, in einem französischen Gerichtssaal zu beobachten, mit welcher ausgesuchten Delikateffe sich die Beteiligten, troß der größten fachlichen Schärfe, gegenseitig behandeln. Daß davon bei uns keine Spur zu finden, beruht nicht allein auf der verhältnißmäßigen Jugend unseres öffentlichen Gerichtsverfahrens, sondern auch auf der Neuheit der Institution der freien Advokatur. In jenen Ländern, wo die Advokatur von Alters her freigegeben war, hat diese Freiheit nicht zur Erniedrigung, sondern zur Erhöhung des Ansehens dieses Standes geführt. In England, Frankreich und Amerika werden die höchsten Staatsämter, nicht zum Nachteil der Amtsführung, mit hervorragenden Advokaten besezt. Der Advokatenstand gilt nicht als fünftes Rad am Wagen der Justiz, sondern als die große Erfaßtruppe, aus der die besten Mannschaften für alle Zweige des Staatsdienstes entnommen werden. Diese Umstände beeinflussen auch den Verkehr der Gerichtspräsidenten mit den fungirenden Anwälten.

Auch der mündliche und schriftliche Verkehr des Verteidigers mit dem Angeschuldigten ist erheblichen Beschränkungen unterworfen. Der Richter kann schriftliche Mitteilungen zwischen Beiden zurückweijen, falls deren Einsicht ihm nicht gestattet wird. Der Richter kann ferner in den meisten Fällen anordnen, daß den Unterredungen mit dem Verteidiger eine Gerichtsperson beiwohne. Beide Bestimmungen sind ebenso nach teilig für den Beschuldigten, wie entwürdigend für den Verteidiger. Sie gehen davon aus, daß der Verteidiger sein Amt zur Verdunkelung der Wahrheit mißbrauchen könnte, fie atmen das Mißtrauen, welches nach der Meinung der Reichstagskommission gerade zu Mißbräuchen anreizt. Sie sind aber auch fachlich für den Angeschuldigten von großem Nachteil. Der Arzt, welchem der freie Einblick in die Krankheitssymptome seines Patienten versagt ist, wird kaum die richtigen Mittel zur Heilung finden. Der Verteidiger, welcher nicht ohne Aufsicht mit seinem Klienten verkehren, deffen Darstellungen anhören, ihu befragen und ihm Rat erteilen kann, wird größere Mühe haben, sich selbst und Anderen Klarheit in der Sache zu verschaffen. Der Reichstag hatte auch in der zweiten Lesung dem Verteidiger den unbeaufsichtigten mündlichen Verkehr mit dem Angeschuldigten gestattet. Aber auch dieser Punkt gehört zu den unglücklichen Kompromißpunkten, bei welchen

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