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und Jammers blicken, dennoch in seliger Luft zu atmen vermeinen. Und wenn man hundertmal daran Anstoß nimmt, so muß ich gestehen, daß ich bei Zolas Germinal dasselbe Sonntagsglück des erweiterten Sehfeldes genieße wie bei Goethes Lyrik. Ich behaupte, daß dieses Glück des Genießenden das nämliche ist, welches bekanntlich Goethe und mit ihm jeder andere wahre Dichter genossen hat, wenn er sich ein schweres, beengendes, lastendes Gefühl der Qual oder der Wonne vom Herzen geschrieben hatte. Wir lesen es uns vom Herzen das ist der ganze Unterschied; denn dort wie hier ist es Die Erhebung auf den Standort des „Ewigen", die unfehlbar zur Befreiung führt. Daß dieser Begriff des Ewigen" relativ zu fassen, daß unter der Betrachtung sub specie aeterni nur die Subsumirung des alltäglichen Geschehens unter überraschend höhere Begriffe zu verstehen ist, versteht sich von selbst. Steht aber der Dichter auf dem Standort dieser Betrachtung, so sind ihm alle Höhen und Tiefen des Seins freigegeben, und er darf uns den Menschen zeigen, wo er zum Tier und wo er zum Gott wird. Die ungewohnte Schärfe und Gegen ständlichkeit der Darstellung bei Realisten wie Zola, Jbsen, Tolstoi, Dostojewski und anderen erschreckt und bannt die meisten ihrer Leser so sehr, daß sie garnicht auf die höhere Warte der vom Dichter vertretenen Idee hinaufgelangen; so nur ist nur ist es möglich, daß jenen Männern eine ganz ähnliche Beurteilung zu teil wird, wie sie Shakespeare vor Antritt seiner Weltherrschaft vom zivilisirten Europa erfuhr. Wenn man daran denkt, daß zu gewissen Zeiten Shakespeare als der Inbegriff der ungeschlachten Roheit dastand, daß sein "Hamlet" mit den Delirien eines besoffenen Wilden" identifizirt wurde, so erscheint es einem begreiflich, daß Namen wie Ibsen und Zola in der Regel nur mit „Schmug“ und „Gemeinheit" in einem Atem genannt werden.

Überhaupt liegt in der momentanen Fülle und Energie der gleichzeitig schwingenden Vorstellungen, wie sie bei ungezügelter Steigerung bis zur qualvollen_und ruhelosen Überfülle in die Einsamkeit des Wahnsinns hinüberführt, auch schon für das nicht ummachtete, aber seine Zeit überragende Genie die Ursache seiner unverstandenen Einsamkeit. Derselbe überquellende Reichtum des Dichtergeistes, der ihn den Herzen der Verstehenden nahebringt, entrückt ihn den Herzen der Verständnislosen. Es ist gerade das Schicksal der genialsten Dichter, daß sie, mögen ihre Schöpfungen noch so wahr, mögen dieselben noch so natürlich und gesezmäßig aus und in der Seele gewachsen sein, es ist das Schicksal solcher Dichter, sage ich, daß sie von den banalen Köpfen als überschwänglich, überspannt, verrückt und folglich auch als unwahr verschrieen werden. Es ist nur in höchst beschränktem Sinne zutreffend, daß eine Dichtung, wenn sie wirklich wahr sei, jedem, auch dem einfältigsten Menschen, mit zwingender Gewalt als wahr erscheinen müsse. Gewiß, die Wärme und Bewegung, die Intensität des starken Lebens, das solche Dichtungen durchströmt, überträgt sich fast immer wenigstens in einer dunklen Erregung. Aber das ist noch bei weitem nicht die Erregung des Mitlebens. Alles seclische Geschehen beruht so gut wie das körperliche auf den Wirkungen des Unendlich-Kleinen. Unfre subtilsten, verstecktesten, rätselhaftesten Empfindungen sind die Wurzeln unsrer großen Leidenschaften und Wallungen; nicht nur einzelne gewichtige Handlungen, nicht nur einzelne Ideengänge,

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Gedankenketten und Anschauungen, nicht nur augenblickliche gewaltige Gefühlsäußerungen, nein, vollständige, einem ganzen Menschenleben Richtung gebende Weltanschauungen verdichten sich aus dem unfaßbar feinen Ather unserer Innenwelt: der Stimmung! Worin besteht nun die Größe Shakespeares? In der beispiellosen seelischen Vertiefung seiner Handlungen, in dem noch immer nicht entwirrten, eng und tausendfältig verschlungenen Rankenwert seiner psychischen Entwickelungen und Gedankengänge. Viele möchten geneigt sein, zu entgegnen, daß die Gewalt Shakespeares vielmehr von der leidenschaftlichen Größe und der wuchtigen Tragik seiner Personen und Vorwürfe herrühre. Gewiß, Shakespeares leidenschaftliche Kraft, seine elementare Tragik, überhaupt die großen Maße bei Shakespeare sind imponirend, find hinreißend. Aber wodurch? Wodurch wird die Leidenschaft leidenschaftlich, die Tragik tragisch, das Pathetische pathetisch, die Größe groß? Ist, wer furchtbare Ereignisse darstellt, viel Blut und Gift verschwendet, mit brüllenden Jamben daherrast oder derbé Possen und Zoten reißt, ein Shakespeare? Ist es einerlei, ob in einem pathetischen Ausbruch eine ganze Seele vibrirend erklingt, oder ob er nur die Wirkung einer schlau be= rechneten Wölbung der Mundhöhle ist? Was durchgraust uns im „Macbeth": jenes Blutbad im Schlafge= mach des Königs oder der vorhergehende Monolog über den visionären Dolch und der nachfolgende Dialog zwischen Lady Macbeth und ihrem Gatten, in dem eine ganze Hölle der Gewissensqual sich vor uns aufreißt? Was erschüttert uns am ,,Hamlet": die leichenbedeckte Walstatt am Schlusse des Dramas, oder die Zweifel des Prinzen, die sein Gehirn in tausend Windungen durchwühlen? Was ist so herzbewegend in Othello": die Erdrosselung der Desdemona oder die furchtbare Stetigkeit, mit der das schwärende Gesäft" der Eifersucht im Herzen des Mohren weiterfrißt? Wann erscheint uns das Scheusal Richard in seiner höchsten dämonischen Gewalt: wann er Todesurteile spricht, oder wann er mit der grinsenden Dialektik eines Tenfels um Annas Liebe wirbt? Wir könnten diese Beispiele durch die ganze Reihe von von Shakespeares Dramen fortspinnen und würden überall finden, daß ein Dichter, der große Probleme behandelt, sie dort am gewaltigsten gestaltet, wo er - am feinsten ist. Um allen Mißdeutungen vorzubeugen: Wir sind keine Freunde jener falschverstandenen litterarischen Vornehmheit, die es verschmäht, nach Popularität zu streben und sich in ätherischen Empfindeleien und Gedankensplitterchen erschöpft, die nimmer zu großen Gefühlen und Gedanken auswachsen und allerdings für die Menge nicht genießbar sind. Aber wie vielen ist denn selbst heute die Tradition, daß Shakespeare unvergleichlich wahr und natürlich sei, zur Überzeugung geworden? Wieviele entdecken denn in seinen Werken das seelisch Gewachsene? Wieviele Seelen sind in ihrer Erziehung bis zu jener Feinfühligkeit fortgeschritten, welche die tiefgründige Psychologie seiner Werke fordert; ja um ganz paradox zu sein: wieviele Gemüter sind zart genug, um die geniale Psychologie seines derben Humors zu würdigen? Wie sehr kommt es auf den messenden Geist an, ob ihm Shakespeare poetisch wahr erscheint! Alle erkennen es an, daß er der größte Dramatiker sei — aber 70 Prozent*)

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*) Sagen wir ruhig 90%, lieber Ernst, troß der angeblichen Hebung des litterarischen Geschmacks durch den modernen Realismus. D. Red.

von diesen „Allen“ sehen Charlotte Birch-Pfeiffer und Roderich Benediy lieber als ihn. Wer diese nicht anzuzweifelnde Tatsache zugibt, wird nicht mehr behaupten dürfen, daß jede wahrhaftige Dichtung sich mit ein stimmigem Widerhall aus den. Herzen aller begegne.

Ist es nun auch eine häufige und betrübende Erfahrung, daß die wahrsten Dichter keineswegs immer am schnellsten und bereitwilligsten anerkannt werden, vielmehr nicht selten zu Grunde gehen an dem passiven oder feindseligen Widerstreben des Unverstandes, so bieten dennoch diese Dichter die einzig zuverlässige Grundlage für die litterarisch-ästhetische Erziehung der Massen. Denn nur diese Geister erwecken statt unflarer Rührung oder strohfeuerartiger Begeisterung individualisirte, fräftig gefärbte Gefühle und Stimmungen, nur sie erzeugen somit den wirklich lebendigen Schein". Diesen eben erreichen sie auch erst vollends, wenn sie uns nicht nur zum Mitvorstellen und Mit denken, sondern zum Mitfühlen gezwungen haben. Wie diese Frage zu beantworten fühlen wir uns besonders verpflichtet wie bringt uns der Dichter dahin,

daß wir mitfühlen müssen?

Grillparzer und das Theater.

Nach einer Erinnerung an die Mitteilungen Otto Prechtlers. Von

Adam Müller-Guttenbrunn (Wien).

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Prechtler lebte und webte in Grillparzers Angedenken. Bei allem was er tat, hatte er ein Wort, eine glückliche Redewendung seines großen Vorbildes bereit. Wenn ihm z. B. ein unbekannter Jüngling Verse zur Beurteilung vorlegte und er fand auch nur die leiseste Spur eines Talentchens in denselben, so erinnerte er sich, daß Grillparzer in ähnlichen Lagen niemals "nein" gesagt hatte, sondern: „auch, auch," und er ließ sie gelten. Wenn jemand ihm zumutete was oft geschah dem Geschmacke der modernen Bühne doch Zugeständnisse zu machen, noch einmal einen Wurf zu tum mit einem sozialen Schauspiel, da sagte er meist entjagungsvoll: Meine Zeit ist vorüber." War er aber durch irgend etwas erregt oder gereizt worden, dann wiederholte er oft ein bedeutendes Wort Grillparzers, das dieser einmal ihm gegenüber gesprochen, als er in ihn gedrungen, die drei Stücke herauszugeben, die er seit Jahrzehnten fertig in seinem Pulte liegen hatte. (Es waren dies: „Libussa“, die Jüdin von Toledo“ und „Ein Bruderzwist im Hause Habsburg“.) Dieses Wort Grillparzers lautete: Ich brauche die Welt und ihren Beifall nicht. Wehe dem charaktervollen Dichter, der sie braucht und um ihre Gunst werben muß. Er gibt das lautere Gold seiner Grundsäge hin, er läßt sein "Talent" wechseln und tauscht dafür unmerklich die flachen Münzen des Tages, die Ansichten der Menge ein." Diesen Sag in seiner ganzen Schroffheit hat Grillparzer auch in seinem Leben durchgeführt; aber es ist ihm nicht wolbekommen, weder als Dichter, noch als

Menschen, und es war ein gefährlicher Irrtum von dem fleineren Dichter, das dem großen nachtun zu wollen. Eines wunderte mich an Prechtler oft, und ich sagte es ihm eines Tages warum er, der Dramatiker, der zeitlebens bei allem, was er schrieb, an das Theater gedacht, warum er dem Theaterbesuche so abhold war; denn daß wir damals in einer kleinen Stadt lebten und keine Musterbühne besaßen, das allein konnte doch nicht maßgebend sein. „Ich habe einst an Grillparzer, der in den lezten vierzig Jahren seines Lebens kein Theater betrat, dieselbe Frage gerichtet" sagte Brechtler und zur Antwort erhalten: daß der ge= wohnheitsmäßige Theaterbesuch für den schaffenden tragischen Dichter eher von Nachteil als von Gewinn sei." „Der Tempel," sagte Grillparzer, in dem der Dichter nur im Feierkleide, nur als Priester erscheinen soll, müßte ihm mit der Zeit, wenn er alles sähe, was darin vorgehe, zur Schenke werden. Mir würde die dem schaffenden Dichter so notwendige poetische Befangenheit, die gläubige Hingebung an meine Ideale erschüttert und geraubt durch den steten Einblick in das Räderwerk der Bühne und durch ein allzugroßes Vertrautwerden mit den technischen Kniffen und Mittelchen derselben. Ein einziger Blick, den ich einmal hinter die Kulissen getan, hat genügt, meine Illussion zu zerstören und mir physi= sches Unbehagen zu bereiten."

Ein anderes Mal, als Prechtler ihn bewegen wollte, seine „Sappho" Sappho" anzuschen, die von Laube mit der Wolter wieder mit großem Erfolge ins Repertoire aufgenommen worden war, da sagte der Dichter, der nur der Erstaufführung seiner Ahnfrau beigewohnt und dann nie wieder ein eigenes Stück auf dem Theater gesehen hatte: Ich bin ein Theaterdichter und schreibe nur für die lebendige Bühne, aber ich mag die Gestalten dort in der grellen Beleuchtung nicht sehen, die ich hier in meinen vier Wänden in Dämmerstunden geschaut."

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Grillparzer legte großen Nachdruck auf den Unterschied zwischen sehen und schauen, und man findet in seinen Schriften, daß er das erstere immer nur als ein physisches Sehen“, das lettere hingegen stets als etwas Geistiges angewendet hat. Wenn er schaute, spielte das Auge bei ihm keine Rolle, und er fand es schön und sprachlich tiefsinnig, das Theater Schauspiel zu nennen.

Gegen die hier wiedergegebenen, ganz und gar persönlichen, aber eben deshalb charakteristischen An= schauungen über das Verhältnis des tragischen Dichters zum praktischen Theater ließ Grillparzer keine Einwendungen gelten. Er protestirte namentlich gegen die Ansicht, als ob das Theater" seine Dichter erziehe; das Gegenteil sei wahr. Die Dichter seien immer geboren worden, nur die Handwerker hätten sich erst im Theater entwickelt. Dabei berief er sich gern auf Shakespeare, dessen monumentale Größe sicherlich nichts zu tun habe mit dem in den ersten Wehen liegenden Theater seiner Zeit, und zulegt kam er immer auf Schiller. Derselbe habe seine Jugendwerke, die er ohne Berührungspunkte mit der lebendigen Bühne geschaffen, gerade in jenen theatralischen und starken Wirkungen, die der gewöhnliche Bühnendichter erst im Theater sich aneignen zu können glaubt, später nie wieder übertroffen oder auch nur erreicht. Das, was Schiller in der Schule des Theaters hätte lernen können, hat er früher besessen, als er diese Schule gesehen, und das, was er in ihr hätte vergessen können, ein Dichter zu

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werden, war er glücklicherweise schon geworden, als er sie betrat." In dieses köstliche Wort faßte der Dichter mit epigrammatischer Schlagkraft alles zusammen, was er an Beweisgründen für seine Anschauungen aufzubringen wußte.

Im Einklange mit diesen Ansichten stand auch die, daß Grillparzer seine amtliche Stellung nicht als eine Bürde, als ein Joch, das man seinem Genius auf erlegt, empfunden, wie man immer anzunehmen geneigt sein wird. Es gab allerdings Stunden und Tage, wo er so empfand, aber er kam immer wieder zu der Einsicht, daß diese Stellung ihm seine geistige Unabhängigkeit sichere, und er widerstrebte lebhaft, als man es ihm nach den großen Erfolgen seiner Jugendwerke nahe legte, seine amtliche Stellung aufzugeben, um sich ganz seinem dichterischen Schaffen zu widmen. Meine Muse", sagte er damals, ist mir eine heimliche königliche Geliebte, und das soll sie mir immerdar bleiben. Es wäre zu prosaisch, wenn sie mich beim Wort nähme und ich sie Heiraten müßte, denn ich fürchte sie ist eine schlechte Köchin und wir würden beide Hunger leiden."

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Erst wenn man diese Anschauungen des großen Dichters kennt, versteht man ganz die Bedeutung der Verse: Hier sitz ich unter Faszikeln" u s. w., versteht man ganz sein Verhältnis zu Kati Fröhlich, die zeitlebens seine heimliche königliche Geliebte blieb und nie seine Frau werden konnte.

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Der andere Repräsentant für die kommende französische Generation wird von Bourget zum Helden in seinem neuen Buch,,Le Disciple" gemacht. Dieser ist insofern mit dem andern, dem Struggler for life, verwant, als auch er ein Irrlicht neuer Zeitideen ist, die auf das wirkliche Leben angewant auflösend und der Gesellschaft gefährlich wirken, er ist aber bei weitem gefährlicher, weil er mehr allgemein und natürlich dasteht und auf einfachere Weise als Typus betrachtet werden muß.

Rein intellektuell bewegt, ohne gewissenlos von Natur oder Prinzip aus zu sein, seht er nämlich auch alles für seine eigne Persönlichkeit und deren Bedürfnisse ein. Er will diese um jeden Preis befriedigen ein Egoismus aber von durchaus geistiger Natur. Bourget nennt ihn einen intellef= tuellen Epikuräer, mie er den andern Typus einen materiellen Epikuräer nannte. Seiner großen Denkfähigkeit, der abnormen und schnellen Entwickelung seines Gehirns auf Kosten aller anderen Fähigkeiten zufolge, sieht er das Leben so dialektisch an, daß er die einfachsten und natürlichsten Lebensformen vergißt und alles falsch anfaßt.

Jn Bourgets Buch wird er als Sohn eines Physikers, eines vollständigen Materialisten, dargestellt. Der Mangel an Glauben in allen Formen des Lebens ist der große und dunkle Hintergrund seiner ganzen Kindheit. Als er später selbständig denken kann, werden ihm die Theorien und Resultate der neuern Wissenschaft klar und vollständig servirt. Was die Welt in den leßten Jahrhunderten alles an großen Gedanken in all den Schmerzen und Ängsten der Geburtswehen hervorgebracht hat, verschluckt er im Laufe von ein paar Jahren in geistiger Wollust und ohne die geringste Fünfundzwanzig Jahre alt Mühe dabei zu verspüren.

kennt er alles: Die verschiedenen Religionen, die verschiedenen neuen philosophischen Ideen, die frischen Resultate der Naturwissenschaft, der Moralanalyse, er betrachtet alles mit dem Interesse eines Kritikers, aber auch mit dessen Mangel an Sympathie. Weil er die Relativität aller Dinge anerkennt, vor allem weil er von dem Grundsaz des In

differentismus beseelt ist, daß alles, was da ist, ein Recht hat zu leben, ist er zu verstehend, um zu wollen, zu unbegeistert, um Partei zu nehmen.

Es fällt ihm nicht ein, zu einer Fahne zu schwören oder für irgend etwas zu polemifiren. Er ist nur froh, wenn er versteht, und wenn er in diesem Verständnis seine eigne intellektuelle Kraft spürt. Das ganze Leben ist ihm ein Schauspiel, das er mit einer unmäßigen Neugierde betrachtet. Von der kritischen Analyse hat er gelernt unter dem Guten und dem Bösen, unter dem Schönen und dem Häßlichen, unter dem Wahren und dem Falschen die Formel zu suchen, welche dasselbe bestimmt hat, die Faktoren zu finden, welche das Produkt hervorgebracht haben.

Eine Menschenseele ist ihm die interessanteste und meist komplizirte Maschine in dem ganzen Dasein; er fühlt sich dazu berufen, eine solche zu studiren, zu zerstückeln, wie der Botaniker eine Blume; und selbst das Leiden, das er dadurch dem betreffenden Objekt verursacht, ist ihm eine Quelle des Studiums. Sich selbst gegenüber endlich ist er auch ein Doppelmensch, ein natürlicher, der ißt, trinkt, schläft, handelt, fühlt, ein reflektirender, der dieses zweite vegetirende Tier betrachtet und es studirt.

Wie der Held Robert Greslou in Bourgets Buch durch Anwendung dieser Analyse und der daraus folgenden Experimente fast zum Verbrecher wird, dieses bildet die Handlung des Romans. Er steht einem jungen Mädchen gegenüber, deren Liebe zu ihm er studirt, so wie er seine eigene Liebe zu ihr studirt, und durch ein Gewebe von rein intellektuellen Motiven bringt er es so weit, daß er sie verführt und dadurch gewissermaßen mitschuldig an ihrem tragischen Ende Selbstmord durch Vergiftung wird. Er wird dann vor das Gericht gestellt, und in dem Gefängnis schreibt er seine Selbstbiographie, vielleicht die feinste und merkwürdigste Selbstanalyse, die je aus der Feder eines Schriftstellers geflossen ist.

Das merkwürdigste in dem ganzen Buch ist aber dieses, daß das geistige Leben des Helden von der Stunde an, als er selbständig denkt, von den Theorien eines modernen, noch lebenden Philosophen Nahrung gesogen hat, einer von jenen guten alten, modernen Denkern, dessen Gedanken wol ge= fährlich sein mögen, dessen Leben dagegen unschuldig wie das eines Kindes ist. Dieser Mann, der berühmte Schrift

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steller Adrien Sixte, ein leicht durchschauliches Pseudonym, ist die einzige Autorität, unter welcher der junge Mann sich in intellektueller Ekstase beugt. Und als endlich die strafende Und als endlich die strafende Nemesis in Gestalt des Bruders des jungen Mädchens, das er verführt hat, ihn wie einen Hund niederschießt, kniet der alte Philosoph, der bewährte Materialist, ganz versteinert vor Schmerz und Selbstvorwürfen, an der Leiche des jungen Mannes. Das erste Mal im Leben zweifelt er an sich selbst, an die heilbringende Wirkung seiner Ideen auf die jungen Seelen, das erste Mal taucht in seinem Gehirn (und gleichzeitig in demjenigen des Verfassers) der obskurante Gedanke auf, ob es eigentlich rätlich ist, daß Bücher, wie die seinigen zum Beispiel, oder diejenigen Stuart Mills, oder Darwins ausgebreitet werden, und ob es nicht besser wäre, der Jugend solche ad usum Delphini zu präsentiren. Dieses lezte, was die eigentliche Moral des Buches ist, fürchtet Bourget wirklich nicht, den Parisern im Jahre 1889 anzubieten! Und er geht weiter: An die jungen, soignirten Herren, die „hommes de fin du siècle“, welche man in Paris auf Straßen und auf Pläßen, in den Theatern, in den Soiréen, in den Cafés und überall begegnet, diese jungen Lebemänner, deren Köpfe von dem ewigen, monotonen Cylinder gedeckt sind, mit den bleichen, gleichförmigen Physiognomien, dem matten Mienenspiel, dem indolenten Esprit, den langen Nägeln und den blasirten Blicken richtet er kühn in seiner merkwürdigen Vorrede zu dem „Disciple“ eine wahre Donnerrede.

Er fleht sie an, sich wieder zu dem Glauben ihrer Väter zu bekehren, er stellt das noch von tausend Wunden bluttriefende Frankreich vor ihren Augen und beschwört sie, dem Vaterlande ihre Kräfte, ihre Begeisterung, den Rest von warmen Gefühlen, der noch in ihnen lebt, zu widmen und warnt sie flehend dagegen, die gefährliche Saat der Wissen schaft aufzunehmen er schleudert ihnen das alte biblische Wort: Den Baum soll man an den Früchten erkennen" als den Kern des ganzen Lebens entgegen.

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Und man frägt sich selbst: Meint Bourget wirklich all dieses im Ernst, und wird irgend einer von diesen jungen Männern ihn ernstlich auffassen? Ist dem geistvollen, feinen Bourget, der stärker als irgend ein anderer französischer Schriftsteller die Jugend durch seine secirende Psychologie, durch seine kritische Analyse beeinflußt hat, vor der Saat, die er selbst ausgestreut hat, bange geworden, oder ist sein leßtes merkwürdiges Werk, eine Mischung von Obskurantismus Heuchelei und Sentimentalität, darauf berechnet, Wirkung in einem günstigen Augenblick zu machen?

Wie man zum Schriftsteller werden kann.

Von

Ludwig Pietsch.

III.

Als ich noch an Bläsers Gruppe: „Pallas kämpft an des jungen Kriegers Seite und schüßt ihn mit ihrem

Schilde", wohl der schönsten von allen achten, zeichnete, besuchten zwei junge Männer, der eine wenig älter, der andre wenig jünger als ich, die Werkstatt in der Münzstraße, um das Modell einer Denkmalsstatue, welches Bläser eben für die Stadt Magdeburg ausgeführt hatte, und das in Berlin viel von sich reden machte, zu sehen. Dies Denkmal sollte dem damals vor kurzem erst verstorbenen, um die Stadt hochverdienten Oberbürgermeister Franke errichtet werden. Die Statue zeigte ihn porträtgetreu im Frack und der Amtskette, aber um Schulter, Hüften und Beine in einen faltenreichen Mantel drapirt, mit Rednergeberde und Sprechergewicht, da= stehend.

Dr.

Jene beiden Männer stellten sich als Redakteure des Deutschen Kunstblattes" vor. Der Altere, mit schönem lockigen, braunem Haar und vollem wohlgepflegten Bart, welcher ein Gesicht von reinem, edelm Schnitt, eine Art männlichen, wie von W. v. Kaulbach gezeichneten, Idealkopfs umrahmte, und einer mittelgroßen, elegant gebauten Gestalt, in einer Tracht, die durch manche sonderbare Eigenheiten in Schnitt und Farbenwahl auffiel, nannte sich Dr. Friedrich Eggers; sein Begleiter, breitschultriger, größer und weniger fein gewachsen als jener, etwa 28 Jahre alt, mit warmbraunem Vollbart, dichtem glattem, etwas lang getragenem dunkelbraunem Haar und tiefliegenden grauen Augen Wilhelm Lübke. In meiner weltverborgenen Einsamkeit hatte ich selbst Eggers' damals schon vielgenannten Namen noch nie gehört, sein Kunstblatt nie gesehen und gelesen. Sie fragten bei Bläser an, ob er ihnen ge= statte, eine Radirung nach seiner Frankestatue im Deutschen Kunstblatt als Beilage zu einer eingehenden Besprechung seines Werkes zu veröffentlichen und zugleich, ob er ihnen einen Künstler empfehlen könne, welcher es übernehmen würde, die Statue für sie zu zeichnen und zu radiren. Der wäre bereits gefunden", antwortete der Gefragte und wies auf mich. So war die Bekanntschaft mit Wilhelm Lübke eingeleitet, welche mich in ihrer Folge mehr als jeder andere Umstand und Antrieb dazu gebracht hat, aus einem Zeichner und Maler zu einem Kunstkritiker und einem Schriftsteller zu werden.

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Sehr gern übernahm ich den Auftrag wie ich jeden ohne Besinnen übernommen haben würde! froßdem ich mir sagen mußte: du hast ja „nicht die blasse Idee" vom Radiren. Das mußte man eben noch schnell zu erlernen suchen. Ich glaube, Eggers selbst fagte mir, daß ganz in der Nähe meiner Behausung ein ihm bekannter Kupferstecher, Herrmann Dröhmer, wohne, den ich sicher bereit finden würde, mich das zu lehren, was in dieser Kunsttechnik erlernbar sei.

Ich suchte denselben auf. Seine ganz eigentümlich trauliche Wohnung lag im ersten Geschoß des kleinen einstöckigen Häuschens, welches zwischen einem großen Vorgarten und einem malerischen, völlig ländlichen Hof mit alten Bäumen und Nebengebäuden damals die Ecke der Potsdamerstraße und des östlichen Teils des Liepower Weges bildete. Dröhmer war nach längerem Studienaufenthalt in Paris und London als technisch gründlich geschulter und geübter Meister, besonders des Stichs in geschabter und in ge= mischter Manier, des sogenannten Schwarzkunststichs, nach Berlin zurückgekehrt und hatte sich eben damals hier mit einem blutjungen Mädchen verheiratet, welches eine ganz reizende, junge Frau geworden war, die mit

dem Abglanz der frischen gesunden Heiterkeit ihres warmherzigen Naturells das fleine Hauswesen wohltuend durchsonnte. Seltsam bei einer jungen Frau von diesem Charakter und Temperament war die ihr eigene Liebhaberei für Schlangen, gegen welche sonst die Töchter Evas von ihrer Stammutter eine unüber windliche Abneigung geerbt zu haben pflegen. Diese dagegen hielt sich wie andere junge und alte Frauen und Fräuleins Singvögel, Schoßhündchen und Kazen immer mehrere Ringelnattern in ihrem Zimmer, ließ sich dieselben um ihren schönen weißen Hals und ihre runden Arme winden und nach ihren roten Lippen züngeln, - ein wundersamer Anblick!

Troßdem die damalige nicht zu verbergende äußerste Zigeunerhaftigkeit meiner Existenz in starkem Kontrast zu der wohlgeregelten, auf der soliden Grundlage eines hübschen ererbten Vermögens und großer ertragreicher, kunsthändlerischer Aufträge beruhenden meines Nachbars stand, kamen wir mit unsern jungen Frauen uns bald ziemlich nahe. Mit freundlicher Be reitwilligkeit bemühte er sich, mir die Anfangs gründe des Radirens beizubringen. Bei meinem gänzlichen Mangel jeder technischen Veranlagung und Geschicklich keit, stieß er freilich dabei schon, wo es sich um das Grundiren der Kupferplatte, das Kneten und Auffeßen des Wachsrandes handelte, auf nicht geringe Schwierigfeiten. Aber bald radirte ich troßdem für das Eggerssche Deutsche Kunstblatt frisch darauf los, so gut oder schlecht es eben gehen wollte; - und ich muß mir leider geund ich muß mir leider gestehen: es ging meist ziemlich schlecht! Aber wir waren damals noch nicht sehr anspruchsvoll. Eggers, Lübke und der Verleger waren zufrieden. Es kamen sogar fleine Bestellungen von andern auf Radirungen von Bildnissen, Titelblättern, Illustrationen.

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Die Zeichnungen von plastischen Werken für die Illustrirte Zeitung hatte ich in der ersten Zeit immer auf Papier ausgeführt. Bei der Übertragung in in Leipzig auf den Holzstock, die damals noch nicht, wie nun schon seit länger als zwei Jahrzehnten auf photo= graphischem Wege, sondern mühsam und ungenau durch Nachzeichnung des Originals bewerkstelligt wurde, ging doch immer, schon ehe der Holz schneider sein Werk begann, zu viel von jenem verloren. Ich bat mir daher die Erlaubnis aus, meinerseits die Zeichnungen auch auf dem Holz selbst zu liefern. Aber auch diese Technik die übrigens ebenso ihre Nücken" hat, wie die der Radirung wurde mir sehr schwer zu erlernen. Ich habe noch manche Jahre gebraucht, bis ich sie einigermaßen genügend beherrschte. Die schildernden und erläuternden Texte zu den der Illustrirten gesendeten Zeichnungen fuhr ich fort zu schreiben, und zwar mit aufrichtigem Vergnügen. Daß ich auch für diese schriftlichen Beigaben, welche zuweilen (wie bei den Schloßbrückengruppen) mehrere Spalten füllten, ebenso gut Honorare beanspruchen und erhalten könnte, wie für die Zeichnungen, dieser Gedanke kam in allen jenen Jahren niemals in meine unglaublich naiv und weltfremd gebliebene Scele; der, mich etwa von dieser Anschauung ihrerseits zu bekehren, freilich eben so wenig in die der Verlagshandlung. Ich war zufrieden und erfreut, daß sie meine Texte überhaupt annahm und abdruckte. Die so lange latent gebliebene, in mir schlummernde feuilletonistisch-kunstkritisch-deskriptiv-schriftstellerische Be

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In Friedrich Eggers und Wilhelm Lübke lernte ich zum ersten Mal zwei wahre Mustereremplare des deutschen Kunstgelehrten und Kunstschriftstellers und die ganze Art der Tätigkeit und Lebensführung eines solchen durch eigene Beobachtung kennen. Und ich ge= stehe: sie übte einen großen Reiz auf mich aus und er schien mir wahrhaft verlockend. Beide waren im Besiß einer gründlichen wissenschaftlichen Bildung, waren im klassischen Altertum zu Hause, von reiner, hoher Begeisterung für das Kunstschöne beseelt, mit der modernen Kunstproduktion_wie mit der der Vergangenheit genau vertraut; ohne Voreingenommenheit und Einseitigkeit in ihrem Urteil und ihren Kunstanschauungen; dabei von fleckenloser Lauterfeit der Gesinnung; vortrefflich erzogen, in ihrem ganzen bürgerlichen Dasein wohlgeordnet und geregelt; geliebt und geschäßt in den Kreisen der besten Männer und Frauen des damaligen Berlin: beide wahrhaft vornehme Naturen. Eggers noch dazu ein echter Poet, aber ohne die sich vordrängende Eitelkeit so vieler Dichter. Er hatte köstliche Schäße lyrischer Poesie angehäuft; jedes Gedicht der formvollendete Ausdruck eines tiefen, reinen, zarten Gemüts und eines reichen, edlen Geistes. Aber es hat noch manche Jahre nach jener Zeit gewährt, bis er bestimmt werden konnte, mit diesen selbst erzeugten Schäßen an das Licht zu treten. Die Zartheit seines Empfindens ging für einen Mann von dreißig Jahren entschieden zu weit. Bei all seiner andächtig glühenden Verchrung der schönen Weiblichkeit hatte er, wie er es seinen intimsten Freunden und Beichtigern gestand, bis dahin noch immer vor jedem Versuch zurückgescheut, sich einem weiblichen Wesen wie der gesunde Mann der Evatochter, die ihm gefällt und die er be= gehrt, zu nähern und es aus seinen Wolkenhöhen oder von dem Piedestal, das er dem Idol errichtet hatte, für sich herabzuholen. Lange vor Björnsons „Handschuh" war in Eggers' Persönlichkeit das Mannesideal der verschrobenen Heldin dieses Dramas verwirklicht. Seine Freunde und Genossen, welchen jedes Streben nach diesem zweifelhaften Ruhme durchaus fern lag, konnten selbst durch die herzliche Liebe und Hochschäzung dieses Ausnahmsmenschen nicht daran verhindert werden, ihn mit manchen Spöttereien un seines mönchischen Daseins willen heimzusuchen.

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Eggers' Wohnung und Umgebung entsprach in manchem Punkte genau seinem eigensten Wesen. Er hauste zur Miete bei einer Wittwe Randow, in einem seitdem durch Neubauten verdrängten, alten schiefstehenden baufälligen Häuschen nahe der Schleuse und der Brücke über den hier in den Kupfergraben mündenden schmalen Seitengraben, eine oder zwei Treppen hoch. Bei jedem Schritt auf den Dielen und der wackligen Stiege knarrte und knisterte alles Holzwerk, als ob es vor Alters

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