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In Ibsens Gespenstern hat die unverschuldete Fehlerhaftigkeit neuer Auffassung ihren trasfesten Ausdruck gefunden, indem der Held an ererbter Geisteskrankheit zu Grunde geht. In Ibsens Fußstapfen tretend, haben viele Aehnliches hervorgebracht, so Gerhart Haupt

in welcher der Held lebt, mit ihren Ideen und Idealen: kurz, alle Faktoren, die während der Bildung und Ausgestaltung des Helden auf ihn eingewirkt haben. Alles dies zusammen ist das Milieu des Helden. Dies Milieu ist sein Schicksal.

Aber er muß nicht nur, wie die heutige Forderung lautet, seinem Milieu entsprechen, einen Schritt weiter muß man gehen, um auf der Höhe naturwissenschaftlicher Weltanschauung zu sein, er muß aus seinem Milieu entstehen und entstanden sein! Alle Einzelheiten dieses Milieu müffen zu Faktoren seines Wesens erhoben werden, damit es sein Schicksal sein kann, oder, wie ich in meiner Schrift (Die | Theorie des Aristoteles und die Tragödie der antiken, christlichen, naturwissenschaftlichen Weltanschauung. Göttingen, Vandenhoeck & | Ruprecht, 1885) gesagt habe: Die Faktoren der Bildung find

mann, der in seinem „Vor Sonnenuntergang“ ererbte Trunksucht das moderne Schicksal!

als tragisches Moment einführt, der im „Friedenfest“ uns mit einer in allen Gliedern erkrankten Familie bekannt macht.

Ist diese ererbte Geistes krankheit als tragische Schuld in unserem Sinne aufzufassen? Ist die einfache Ersezung der antiken Erbschuld durch Erbkrankheit gerechtfertigt und ausreichend?

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Die vererbte Krankheit ist entweder heilbar oder nicht. Ist sie heilbar, so handelt es sich am Ende wie Hebbel sich ausdrückt um ein unfruchtbares Hinwegdenken des von vornherein zuzugeben= den Faktums", oder die interessante Kur- resp. Krankengeschichte ge= hört in ein medizinisches Fachblatt. Also nur, wenn die ererbte Krankheit unheilbar ist, der Held mit Notwendigkeit an derselben | zu Grunde gehen muß, entsteht die Frage, ob ein solcher Held Gegenstand der Tragödie fein kann.

Das Krankhafte, das Pathologische, das, dem Untergang geweiht, im Kampfe ums Dasein untergehen muß, besigt eben nicht mehr die Fähigkeit organischer Wesen, durch Anpassung an die Verhältnisse sich zu erhalten. Da einem Helden durch die Erbschaft eines derartigen pathologischen Zustandes die Haupteigenschaft der organischen Wesen, das Anpassungsvermögen, verloren gegangen ist und fehlt, so ist der Held ein anders geartetes Wesen als der mit Anpassungsvermögen begabte Zuschauer, eine Identifikation also nicht zu er zielen. Wenn sich auch unter den Zuschauern Gleichgeartete Geisteskranke oder aus geisteskranker Familie Stammende — finden sollten, die einen gleichen Defekt wie beim Helden, also für sich oder einen der ihren, ebenfalls für möglich halten könnten: die Gesamtheit der Zuschauer ist als normal, mit Anpassungsvermögen begabt, zu be trachten und muß einer solchen Tragödie die doch immerhin etwas, was im wirklichen Leben passirt, vorführt, wie einem interessanten Lehrgedicht gegenüber stehen.

Trozdem halte ich das Verdienst Ibsens für fraglos, da er durch das krasse Beispiel den Blick der dramatischen Dichter auf die Bedeutung gelenkt hat, welche die Erbschaft im Leben als Schicksal spielt. Mit dieser Errungenschaft wird man imstande sein, das, was man aus der Pathologie gelernt hat, auf das normale Leben anzuwenden. Man wird der Erbschaft von Anlagen und Eigenschafen unter den schicksalbildenden Faktoren ihren gesicherten Plaß einräumen und bei der Erbschaft des Normalen der Identifikation des unter entsprechenden Faktoren stehenden Zuschauers gewiß sein können.

Aber während es verhältnismäßig leicht war, durch das in die Augen fallende Pathologische den Einfluß der Erbschaft zu demonstriren, so wird die Aufgabe des Dichters um so schwieriger, je normaler das Vererbte ist, wenn er also im normalen Helden die Eigenschaften der gleichfalls normalen Eltern zwanglos hervortreten lassen und organisch verarbeiten soll.

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Wir sehen daher in manchen Stücken auch schon bei Vererbung des nicht Normalen — dieses moderne Schicksal nur äußerlich angedeutet, gleichsam als Flagge aufgezogen, wie z. B. in Nora. Selbst Vorreden werden geschrieben, um den Leser auf die Intentionen des Autors aufmerksam zu machen, wie in Strindbergs Fräulein Julia.

Aber wenn wir auch erst in den Anfängen stehen, wir sind auf dem richtigen Wege. Nur muß man nicht vergessen, daß zum modernen Schicksal mehr gehört, als die Erbschaft. Es kommen, wie ich oben gezeigt habe, hinzu die äußern Verhältnisse, die Umgebung, die Zeit,

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Sobald wir im Stande find, aus den Faktoren das Wesen des Helden als aus den Voraussetzungen des Stückes mit notwendiger Konsequenz des Helden Kampf ums Dasein vorzuführen, können wir der Identifikation des Zuschauers gewiß sein. Die Phantasie ers möglicht ihm, sich die einzelnen Faktoren anzueignen, da er sie, sofern fie allgemein menschlich sind, mutatis mutandis, wenn auch unter andern Verhältnissen, als für sich möglich denken kann. Aus diesen Faktoren aber muß sich das ganze Stück entwickeln und aufbauen, denn eine neue Zutat würde den Zuschauer überraschen und die Illusion stören.

Deshalb zwingt das moderne Schicksal zur Verbannung aller novellistischen Stoffe aus der Tragödie, weil in ihnen nicht das moderne Schicksal den Verlauf des Kampfes bedingt, sondern neue Tatsachen nach der Erfindung des Dichters wirken, die sich nicht mit zwingender Notwendigkeit aus den Voraussetzungen ergeben.

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Um nun aber dem modernen Zuschauer das moderne Schicksal ins innerste Gemüt zu führen, ihn auch den Gegner der modernen Weltanschauung von der Wahrheit und Wirklichkeit derselben überzeugen zu können, muß es gelingen, mittels des modernen Schicksals ein wahres Lebensbild vor den Augen der Zuschauer aufzubauen, daß er sich der überzeugenden Gewalt dieser Lebenswahrheit nicht mehr entziehen kann und sich unbewußt im Banne der neuen Weltanschauung befinde.

Ich glaube nicht, daß dies schon gelungen ist — sonst hätten wir schon die siegreiche neue Tragödie aber ich zweifle nicht daran, daß es gelingen wird.

Zur Erleichterung der Identifikation, um also die Phantasie des Zuschauers möglichst wenig in Anspruch zu nehmen, scheint es zunächst richtig zu sein, sich wie die induktive Schule an modernste Stoffe zu halten. Vom deduktiven Standpunkte aus muß das gegen= wärtige Leben betrachtet, müssen die Aeußerungen des Schicksals erfaßt und dargestellt werden. Es ist dabei nicht zu zweifeln, daß sich hierbei manches enthüllt, was dem induktiv suchenden Auge verloren gegangen wäre, aber es ist doch die Frage, ob nicht vielleicht gerade der moderne Stoff die Aufgabe erschwert.

Jede geringste Abweichung, die der theoretischen Wahrheit zu Liebe von der Wirklichkeit gemacht wird, muß sich aufs Empfindlichste rächen, und der im heutigen Leben stehende Zuschauer wird durch die kleinste Abweichung stußig.

und anderseits! Ist das moderne Schicksal wirklich das menschliche Schicksal, so muß es zu allen Zeiten zu Recht bestanden haben, einerlei was damals die Menschen für ihr Schicksal hielten. Das moderne Schicksal wird also erst dann als das wahre anerkannt werden können, wenn der Beweis für dasselbe durch alle Zeiten geliefert ist.

Weshalb also sollte sich die moderne Tragödie nicht mit alten Stoffen beschäftigen? wenn sie dieselben nur modern darstellt, wenn nur das Walten des modernen Schicksals, das die Identifikation ermöglicht, darin zu erkennen ist und zu Tage tritt! Nicht Menschen mit unseren Anschauungen, sondern Menschen noch unserer Anschauung verlangt das moderne Schicksal. Und es wäre wol möglich, daß wir auf diesem Wege eher zu der modernen Tragödie gelangen als auf dem bisher eingeschlagenen, der eine unflare Verquickung des deduktiven Prinzips mit dem induktiven zeigt.

Andererseits ist nicht zu leugnen, daß der Nachweis des Schicksals in entlegener Zeit ungleich schwieriger zu bringen ist, als in der

heutigen, und daß eine durchgreifende Ummodellirung der Geschichtsund Kulturbilder stattfinden müßte. Ist es aber einmal gelungen, das moderne Schicksal in der Vergangenheit nachzuweisen, so ist die Vorführung des betreffenden Falles mit geringerer Gefahr des Mißlingens verknüpft.

Für die moderne Tragödie ist nicht der moderne Stoff, sondern das moderne Schicksal das Charakte ristische. Diese Erkenntnis wird uns hoffentlich befreien von Tragödien, die zwar mit modernen Stoffen, aber mit längstver alteten Schicksalsreminiszenzen arbeiten, uns befreien von dramatifirten Novellen, Sturm- und Drangtragödien, Konflikts- und Problemstücken!

Wie aber wird die neue Tragödie gestaltet sein?

Die Antwort auf diese Frage können wir erst geben, nachdem wir, was im nächsten Artikel geschehen soll, über das Wesen und die Notwendigkeit der Katharsis gesprochen haben.

Ein Wiedersehen.

Novellette

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Franz Servaes.

Es mußte etwas Besonderes vorgefallen sein, etwas
Freudiges oder auch Trauriges, daß der Alte sich die
Treppe heraufbemühte.

Herr Raimund, Fräulein Zoe ist wieder da! Raimund erschraf wie jemand, der, aus dem Schlafe erwachend, plößlich das Bild feiner Träume leibhaftig vor sich sieht. Wie an sich selber zweifelnd, warf er noch einen raschen bohrenden Blick auf den Marienkopf und schwang sich dann behend von dem erhöhten Gestell, auf dem er lag, auf das tiefer liegende Gerüst herab. Martin_kam ihm auf dem obersten Treppenabsaß entgegen, zwei Visitenfarten in der Hand haltend, von denen er ihm die größere entgegenhielt. Raimund griff hastig danach, ließ sein Auge flüchtig darüber gehen, schwang fie hoch in der Luft herum, und wenig fehlte, daß er einen jubelnden Triller von sich gegeben hätte.

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Geschwind hinunter! Alter, geh voran!

Raimund summte der Kopf. Er war überselig. Gerade in diesem Augenblicke mußte sie kommen, wo er ihr eben die größte Huldigung, die ein Künstler darzubringen vermag, erwiesen hatte! Nach sechsjähriger Abwesenheit! Wie mußte fie schön geworden sein, seit sie ihn damals als Fünfzehnjährige verließ! Nie hatte er sie vergessen nie war ihr Bild vor ihm verblaßt, obwohl er seit drei Jahren keine Nachricht mehr von ihr erhalten hatte. Wie sollte sie auch, die arme Waise, die fern in Irland bei ihren Verwanten in sicherlich strengem Verwahrsam war! Hoch oben auf dem bis unter die Kirchendecke ragenden Damals war sie noch zu jung, um seine Glut zu verGerüste lag Maler Raimund auf dem Rücken und hatte stehen, wie er zu jung, um sie ganz zu äußern! Aber die Hände unter dem Kopf gekreuzt. Er hatte eine ver- jezt mußte sich alles klären! War sie geblieben, wie sie glimmende Zigarette im Munde und sah mit träumerischen und konnte es bei einem so wahren und einfachen Augen in das Antlik der Gottesmutter, an welchem er Wesen anders sein? - so mußte Raimund der seligste soeben den letzten Pinselstrich getan hatte. Es war eine der Menschen werden! Das geschwisterliche Verhältnis geHimmelskönigin in voller Glorie, das Werk eines altenstaltete sich dann in die vollste und reinste Liebe, und Meisters, welches Raimund zu erneuern unternommen dann! Er mußte ihren geliebten Namen nochmals hatte. Die ganze Kirche hatte er auf diese Weise aus- lesen: Zoe Cudworth! Er entrollte die Visitenkarte, die gemalt, überall den verblichenen Spuren mit hingebender er in seiner freudigen Aufregung in der Hand eng zuTreue folgend. Keine Steifheit in der Stellung, keine sammengedreht hatte, und führte sie vor die Augen. Härte in der Gewandgebung. Keine Starre im Gesichtsausdruck hatte er sich zu mildern erlaubt; sein einziges Ziel war verständnisvolle Wiederbelebung einer der fernen Vergangenheit angehörigen Kunstschöpfung.

Einzig beim Antlig der Gnadenmutter hatte er eine Ausnahme gemacht. Die leblosen, byzantinifirenden Linien hatten sich eine zarte, menschliche Rundung gefallen laffen müssen, und an die Stelle abschreckender Majestät war jungfräuliche Holdseligkeit getreten. Der Maler hatte sich fogar nicht versagen können, den schweren, bis tief in die Stirn gezogenen Schleier in ein leichtes Gewebe zu verwandeln und zurückzuschlagen, so daß die Pracht goldig heller Locken unter ihm hervorquoll. Vor allem aber war in die Augen ein unsagbarer und unerklärlicher Abglanz von Güte, gepaart mit stiller, seliger Schwärmerei, hinein gelegt worden, der, wie er für die hervorragende Begabung des Malers sprach, sich zugleich in einen unlöslichen Widerspruch zu dem Gesamtcharakter des alten Deckenbildes jezte. Raimund wußte dies sehr genau aber: „Maler haben ihre Launen", pflegt man zu sagen, und er erteilte fich ein individuales Recht zu, nachdem er Jahre lang quadratmeterweise nur als selbstloser Nachschöpfer tätig gewesen war, in diesem einen Falle der Eingebung des eigenen künstlerischen Genius zu folgen.

Während er noch so da lag und aus der Anschauung des Marienbildes Ruhe und Labung in sich hineinziehen ließ, hörte er die kleine Stiege ächzen, die zum Gerüst hinaufführte. Er erkannte an dem Schritt einen früheren Wärter aus der unmittelbar an die Kirche stoßenden Frrenanstalt seines Vaters, den braven Martin, der jezt zum Küster der neu zu eröffnenden Kirche ausersehen war.

Ivar

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Ihm wurde, als ob ihn der Schlag träfe. Beinahe wäre er auf der schmalen Stiege hingefunken. Er hielt sich am Geländer fest, um nicht zu fallen, und um einen Schwindelanfall vorübergehen zu lassen. Mit verglasten Augen starrte er auf die Karte. Auf der Karte stand: Mrs. Zoe Ruff. Raimund hielt gewaltsam an sich, un seine furchtbare Aufregung nicht zu verraten. Er jah, daß Martin sich umgedreht hatte und ihn fragend anblickte.

die

Martin, gieb mir ein wenig Feuer. Ich will mir Zigarette wieder anzünden.

Hastig strich er an der Streichholzschachtel hin und her, zerbrach die ersten drei Hölzer und erhielt erst beim vierten Feuer. Zitternd hielt er es an die Zigarette, die nur wenig Funken empfing und gleich wieder verlosch Nachdem er die Schachtel wieder zurückgegeben hatte, hielt er die Hand verlangend ausgestreckt.

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Du hattest doch noch eine zweite Karte. Bitte,

gieb sie her.

Richtig, da stand es: Francis W. Ruff. Er war ihr Gatte.

Es ist ein schöner Mann, erzählte Martin, groß und stark. Wohl seine sechs Schuh hoch! Er scheint auch reich und vornehm zu sein und ist sehr freundlich. Gesagt hat er aber noch nichts. Ich glaube, er spricht kein Deutsch.

Sie waren unten angelangt Raimund sah sich um. Da schritt aus dem Seitenschiff, wo sie die Wandmalereien betrachtet hatte, eine elegant gekleidete junge Dame mit von der Freude beschnellten Schritten auf ihn zu und streckte ihm schon von weitem lächelnd ihre Hand entgegen. Raimund ergriff sie und blickte dann der schönen Erscheinung ins Auge. Es war voll und kindlich zu ihm aufgeschlagen.

Nicht das mindeste Schuldgefühl lag darin verborgen. | laffen. Er blickte jetzt Herrn Ruff forschend und selbst Es strahlte von Glück, Reinheit und Seelenfrieden.

Raimund fühlte sich entwaffnet. Zwar den Groll ganz in fich hinabzuzwingen, war er nicht imstande, aber er fühlte sich auch unfähig, ihn zu äußern. So versuchte er zu lächeln und hörte still auf das Geplauder der melodischen Stimme.

Raimund! klang es an sein Ohr, und nochmals: Raimund! Was sagst Du denn dazu, daß Du mich plög lich wiederfiehst? So ganz plöglich! Geit, ich hätte mich anmelden sollen? Aber ich dachte es mir so hübsch, dich zu überraschen. Nun ist es mir gelungen. Sieh doch, Francis, er ist noch ganz verdußt, wante sie sich an ihren herantretenden Gatten. Und dann, mit leichtem Erröten, wieder an Raimund: Mein Mann. Wir sind auf der Hochzeitsreise, wo ich ihm Deutschland zeige und vor allem die Stadt und das Pläßchen, wo ich als Kind so unglücklich-glückliche Tage verlebt habe.

Ihre Aussprache, die früher ganz rein gewesen war, hatte einen leichten ausländischen Accent bekommen. Zoe hatte jezt die Hand wieder in den Arm ihres Mannes gelegt, der freundlich lächelnd, wiewohl ein wenig steif, neben ihr stand. Sie schmiegte sich an ihn und sah mit | großen, dankbar-liebevollen Augen zu ihm empor. Ihr einfaches Gesicht erhielt dadurch etwas Visionäres, und Raimund mußte wieder an seine Madonna denken. Zugleich gedachte er der Mutter Zoes, welche die gleichen Augen gehabt hatte, und die in der anstoßenden Irrenanstalt seines Vaters sieben Jahre gelebt und gelitten hatte Sie war eine große, stille Frau gewesen, Schwermut auf dem blaffen Antliß, eine Unheilbare, die indes wenig Aufsicht beanspruchte. Ihr Töchterchen, die kleine Zoe, hatte man ihr nicht nehmen dürfen. Denn so oft das Kind fehlte, verwandelte sich ihr ganzer Zustand, und sie verfiel in eine Tobsucht, welche selbst die Aerzte erschreckte. So war Zoe von ihrem achten Lebensjahre ab in einer Irrenanstalt aufgewachsen, und sie war die Spielgefährtin und treue Genoffin des drei Jahre älteren Raimund geworden. Dieser Zeit gedachte der Maler, als die junge Frau jezt vor ihm stand. Auch ihr war die Erinnerung nicht fern. Denn sie ließ ihre Augen vom Gatten jetzt auf den Jugendfreund gleiten und dann mit einem Ausdruck wehmutvollen Gedankens durch die Kirche schweifen. Die Kirche, unbenutt in jenen vergangenen Tagen, war ihr Hauptspielplaß gewesen. Von dem Kreuzgang des alten Klosters, das vor einem Jahrzehnt in die Heilanstalt verwandelt worden war, gelangte man durch eine unscheinbare Pforte gleich in den Chor, und dort gab es viele Schlupf winkel, wo Kinder gern spielen und klettern mögen. Es stand auch viel altes Gerümpel teils kirchlicher, teils weltlicher Bestimmung da, und jedes einzelne Stück hatte eine Geschichte zu erzählen. Das war denn alles ehrfürchtig belastet worden, und die Geister der Sage und der Legende flogen als feine Stäubchen daraus hervor und umkreisten die Kinder in geheimnisreicher Wolke. Von außen aber streckte durch die zerbrochenen Fensterscheiben manch alter Baum seine Aeste in die verlassene Kirche, und die Vögel des Himmels hüpften darauf herein, zwitscherten und jagten sich in dem alten Gemäuer.

Wie schön ist hier auf einmal alles geworden! Die Farben blinken von den Wänden. Ich finde mich kaum zurecht, sagte Zoe langsam und leise.

Das häßliche Gerüst, nahm Raimund das Wort, verunstaltet leider noch vieles und verdeckt namentlich den größten Teil des Deckenbildes.

Er hätte am liebsten die feine Gestalt da vor ihm aus dem Arme ihres hochaufgeschoffenen Herrn Gemahls genommen, die Stiege hinaufgetragen und oben vor das Marienbild gestellt, um diesem alsdann das Wort zu über

ein wenig herausfordernd ins Gesicht, der indes sein gleichmäßiges verbindliches Lächeln keine Sekunde lang einstellte. Er lä helte wie cin Mann, der sich im sicheren Besitz fühlt und der sich seiner wolbegründeten Sorglosigkeit überläßt. Zugleich lag etwas englisch Steifes und Anmaßendes in diesem Lächein. So urteilte wenigstens Raimund, der einen einzigen feindseligen oder eifersüchtigen Blick vergeblich wie eine Wollat herbeisehnte.

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Weißt du noch Raimund, begann jetzt wieder Zoe, wie wir zusammen die alten Wandbilder studirten und unsere Skizzenbücher mit Zeichnungen nach denselben aufüllten? Du hattest immer die Idee, die Kirche später aufs neue auszumalen.

Sie standen jezt vor einem Bilde des heiligen Georg, des Schutzpatrones der Kirche, und betrachteten vergnügt, wie derselbe in ritterlid,er ziervoller Haltung auf seinem Drachen stand und ihm mit einer höfisch abgemessenen Bewegung den langen Speer in den aufgesperrten Rachen stieß. Gerade vor diesem Bilde hatten die Kinder oft lange geseffen und das schuppige Scheusal mit halb furchtsamen, halb schelmischen Augen beguckt. Raimund hatte dann brüderlich den Arm auf die Schulter seiner kleinen Gspielin gelegt und der gespannt Horchenden aus der deutschen Heldensage erzählt, wie auch Siegfried einen Drachen getötet, und wie er die Krimhild zum Lohn dafür erhalten habe. Sie nannten sich dann scherzhaft Siegfried und Krimhild, und ein altes Rokkokosopha auf drei Füßen und mit phantastischer Leiste mußte manchen Lanzenstoß des jugendlichen Drachentöters aushalten. Krimhild! sagte plößlich Raimund, indem ihm dabei eine Blutwelle in die Wangen schoß. Das Wort war ihm gegen seinen Willen entflohen. Er hatte geglaubt, es nur vor sich hin zu murmeln. Aber Zoe hatte es vernommen, ich ihn mit einem eigentümlichen Blick anwiederum sah sie der Mutter sö ähnlich! — und drückte dann leicht auf den Arm ihres Gemahls, worauf sie weiter gingen.

Sie kamen jegt an einen alten Beichtstuhl, der mit feinster gotischer Schnißerei verziert war, ein Brachtstück in seiner Art. Hier hatte die Mutter auf einem weichen, seidenen Kissen, das ihr Zoe hinzutragen pflegte, oft geseffen und den Spielen der Kinder zugeschaut. Sie faß stets in ruhiger Haltung da, stumm und fast unbeweglich, eine matronale Erscheinung, in der jedoch jeder Sonnenstrahl, der zufällig auf sie fiel, die Spuren früheren Liebreizes wachküßte. Wie oft hatte Raimund mitten im Spiele auffehen müffen, weil er den stillen Glanz aus dem Auge der Wahnsinnigen auf sich ruhen fühlte. Es hatte ihn dann mit andächtigem Schauer durchbebt, und die Kranke erschien ihm wie eine Heilige, vor der man das Knie beugen müsse. Oft hatte er sich später im Stillen gelobt, daß er die stumme mütterliche Bitte, die aus diesem wunderbaren Auge sprach, dereinst an dem Kinde erfüllen wolle.

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Ich habe an ihrem Grabe gebetet und einen Kranz darauf niedergelegt, flüsterte Zoe, stillbewegt, indem sie sich noch inniger an die Seite ihres Gemahls drückte und Raimund dabei ausah.

Hast du auch den Rosenstock gesehen, den wir beide zusammen darauf gepflanzt haben? fragte dieser. Er blüht dreimal im Jahr und steht gerade jest in voller Blüte

Zoe deutete auf ihre Brust, an der eine prachtvolle gelbe Rose steckte. Dann senkte sie ein wenig ihren Kopf und sog den süßen Duft der Blume ein. Als sie wieder aufblickte, schimmerte eine kleine Träne in ihrem Auge, das hierdurch etwas Schwimmendes und Sehnsüchtiges erhielt. Das Bild ihrer Mutter war völlig in ihr auf

gewacht und hiermit die Erneuerung an die geringsten Szenen ihrer Kinderzeit. Sie sah es vor sich, wie die Mutter zwischen ihr und Raimund durch den Kreuzgang schritt, von diesem am Arme geführt, ihr selbst die Hand auf die Schulter legend. Wie zu einer untrennbaren Gruppe vereinigt, waren sie selbdritt langsam einhergegangen, und Raimund war so gut wie Sohn und Bruder gewesen. Die Erinnerung war so mächtig in Zoe, daß sie dem Maler die Hand reichte und innig drückte. Wie dankbar bin ich dir, daß dit die gute Mutter noch im Grabe hegst und pflegst. Das eigene Kind war fern, mußte fern sein, aber du hast die Sorge liebevoll übernommen und getragen.

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Keine Sorge, eine Wonne! stammelte Raimund. Aber komm, wir haben unseren besten Erinnerungsort noch nicht aufgesucht,

Rasch schritt er voran und führte die Fremden in einen ungefähr quadratischen Raum, der seitlich an den höher gelegenen Altar stieß. Es war der südliche Teil des Querschiffes, der ziemlich abgeschlossen für sich lag und eine Art Sonderkapelle bildete. Durch ein schmales, hohes Fenster in der Querwand fiel die Sonne schräg herein und beleuchtete eine Statuenreihe, über der sich als Grenzscheide gegen den Altar eine zierliche Säulenbalustrade erhob. Es waren vorzügliche Arbeiten des reifen romanischen Stils, denen die noch in Kraft bestehende lleber lieferung der Antike einen Zug von Feinheit und Größe gab. Es waren der h. Joseph und der h. Johannes, Sankt Georg und Sankt Michael, und in ihrer Mitte die Madonna mit dem Kinde. Die Sonne spielte in den wolgelegten Falten der Gewandung und, über die streng ausgemeißelten Köpfe huschend, in dem reichen Haargelock. Die Bildsäulen waren ausgezeichnet erhalten, nur der Madonna war das Gesicht heruntergeschlagen.

Der Ort hatte soviel Trauliches und Anziehendes, daß er der Lieblingsaufenthalt der besseren Anstaltskranken gewesen war. Hier hatten sie oft gruppenweise beisammen geseffen und sich in ihrer Weise mit Spielen vergnügt. Lonangeber war ein Graf B. gewesen, ein Schwachsinniger mit starken Degenerationszeichen, die Gutmütigkeit selbst, solange man ihm den Willen tat, aber von wahrhaft tierischer Wildheit und Tücke, sobald er irgendwo auf Widerstand stieß. Seine Lieblingsbeschäftigung war, sich mit einigen anderen Kranken zu einer Regelpartie zu vereinigen. Die Herren befanden sich alsdann im Seitenschiff, und Wärter Martin mußte, so sehr er über das gotteslästerliche Gebahren knurrte, in der Kapelle die Kegel aufseben. Raimund und Zoe aber saßen oben auf der Balustrade, ließen die Beine baumeln und klatschten in die Hände, wenn die Kegel tüchtig sprangen. Man hatte das Spiel lange getrieben, ohne etwas dabei zu finden. Der Anstaltsdirektor, Raimunds Vater, hatte sogar seine besondere chnische Freude daran. Allmählich aber wuchs in dem Sohne ein arger Widerwille dagegen auf. Er war bereits etwa sechzehnjährig und in demjenigen Alter, wo mit einem starken Idealitätsbedürfnis sich oft ein rigoroser moralistischer Hang entwickelt. Zugleich ließ sein erwachendes Künstlerbewußtsein ihn sich zum Beschüßer der alten Kirche und ihrer Denkmäler aufwerfen. Zoe stand ihm dabei mit kindlich gläubigem Gemüt zur Seite. Sie zeichneten und malten zusammen lauter Heiligenbilder, zu denen sie die Motive den in der Kirche befindlichen Fresken und Statuen entlehnten. Der Gedanke einer umfaffenden Restauration sputte schon in Raimunds Kopf. Er sah, wie die Kirche täglich mehr in Verfall geriet und der Zerstörung preisgegeben wurde. Von seinem Vater war ein Einhaltgebieten nicht zu erwarten. So beschloß er bei Gelegenheit eigenmächtig einzugreifen.

Eines Tages waren die Kranken wieder beim Regelspiel. Der Graf war von einer ganz besonderen Tollheit und wetterte, sobald auf seinen Wurf nicht alle Neune fielen. Er brutalisirte seine Mitspieler, rig immer von nenem die größte und schwerste Kugel an sich und warf mit solcher Rohheit, daß mehr als ein Ornamentstück von der Hinterwand der Kapelle absprang. Da kam, von Zoe gerufen, Raimund dazu, und stellte sich dem Grafen entgegen. Dieser geriet sogleich in eine unbeschreibliche Wut. Da er aber vor Raimund eine instinktive Furcht hatte, so wante er sich nicht direkt gegen diesen, sondern bedrohte Zoe, in der er die Anstifterin des Streites und zugleich Raimunds besonderen Schüßling zu treffen gedachte. Schon hatte er die gewaltige Regelfugel gegen sie erhoben, als er, sich anders befann und seine Wut an einem leblosen Gegendurch den davor springenden Raimund eingeschüchtert, stande auszulassen beschloß. Er sprang plötzlich mit rascher Wendung halbrechts und die schwere Kugel sauste mit wuchtigem Schwunge durch die Luft und traf mit so unglücklicher Sicherheit den Kopf des Marienbildes, daß das ganze Gesicht abgerissen wurde und in tausend Stücke zerschellte. Zoe hatte damals laut aufgeweint und sich an den bleich und bebend dastehenden Raimund gehangen, während der Graf, nachdem er eine triumphirende Lache ausgestoßen hatte, plöblich kleinlaut wurde und sich von dem Wärter nach der Anstalt zurückführen ließ. Seit jenem Tage hatte in Raimund der Entschluß festgestanden, seine ganze Tatkraft an die Loslösung der alten Kirche von der Frrenanstalt zu setzen, und, obwol er mit seinem Vater darüber zerfiel, hatte er dies nach mühevollen Kämpfen durchgefeßt.

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Sein ganzer Künstlerstolz erwachte in Raimund, als er jest an Zoes Seite jenen Raum wieder betrat, und er empfand es als eine furchtbare Kränkung, daß jenes Weib, welches seinem Leben die Richtung gegeben hatte, ihm nicht für das Leben angehören sollte. Finster brütend stand er da. Dann hob er langsam den Kopf und sah Zoe mit einem Blicke an, vor dem diese erschrak. Zugleich deutete er mit der Hand nach der Bruchstelle am Kopfe der Gottesmutter. M. Ruff, dem seine Gattin erblaffend am Arme hing, verlor indes nicht seine Ruhe. Sei es, daß er noch immer nichts gemerkt hatte, oder daß er sich nichts merken lassen wollte, genug, er lächelte noch etwas mehr wie vorher und schien die sich von ihm abspielende Szene durchaus von der komischen Seite aufzufassen. Er folgte mit den Augen dem ausgestreckten | Finger Raimunds und sagte dann lakonisch das eine Wort: Kaputt!

Raimund ließ den Arm sinken. Er fühlte in der Tat, daß etwas in ihm zerschlagen war und daß er sich kaum länger aufrecht zu halten wußte. Er stüßte sich auf einen der Sockel, während er ein Stöhnen nicht zu bemeistern vermochte und vergeblich ein Lächeln auf seine zitternden Lippen zu zwingen versuchte. Auch Zoe hatte ihre engelgleiche Ruhe verloren. Sie hatte gehofft, mit dem lieben Jugendfreunde einige Tage froher Erinnerung durchleben zu können, und sah nun einen von Leidenschaft durchschüttelten Menschen vor sich, vor dem ihr graute. Nie hatte sie mehr die ruhige Festigkeit ihres Mannes geschäßt, als in diesem Augenblick. Wie eine Schußflehende und innig Vertrauende schlug sie ihre von langen blonden Wimpern beschatteten Augen zu ihm auf und bat ihn, fie fortzuführen, damit sie den Abendzug noch benugen könnten. M. Ruff wante sich mit seiner unerschütterlichen Freundlichkeit an Raimund und sagte in gebrochenem Deutsch, daß er sich sehr gefreut hätte, in ihm einen Jugendfreund seiner Frau kennen zu lernen, von dem diese ihm viel und stets das Beste erzählt habe. Er fügte noch einiges hinzu, während sie durch die Kirche gingen,

streckte beim Ausgang Raimund seine große Hand entgegen und sagte:

Ich danke Ihnen for your kindness. Alsdann reichte ihm Zoe ihre Fingerspißen, während sie die Augen verwirrt zu Boden schlug, faßte fest den Arm ihres Gatten und ging davon, ohne sich noch einmal umzusehen.

Raimund, am Portalpfosten gelehnt, folgte ihr mit den Augen, wie sie, zwischen den Rasenpläßen und hohen Lindenbäumen hindurch, sich mit etwas nervöser Anmut bewegte, bis er sie hinter den Treppenstufen, die zur unteren Stadt hinabführten, nach und nach verschwinden. sah. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und über die Stirn, auf der kalte Schweißtropfen standen, und ging alsdann gesenkten Blickes und mit schweren taumelnden Schritten in die Kirche zurück.

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Und Zoe?

Die Aermste ist seit drei Jahren in einem Irrenhause. Sie schien ganz gesund und schenkte ihrem Gatten zwei prächtige Kinder. Aber dann brach die erbliche Krankheit aus. Hier, in unserer Stadt, ist sie in der nenerrichteten Anstalt. Vor wenigen Wochen habe ich sie noch gesehen. Die Aehnlichkeit mit ihrer verstorbenen Mutter ist geradezu unheimlich. Ein wahres Glück, daß der gute Herr Raimund das nicht zu erleben brauchte! Wir standen am Eingangstor, und ich wante den Blick in die Kirche zurück. Von Decke, Wand und Säulen erstrahlten alle Farben im herrlichsten Abendlicht.. Es war ein wunderbares Durcheinanderwogen von Lönen, in dem man nichts einzelnes wahrnehmen konnte. Ueber dem Altar aber leuchtete es goldighell von oben herab. Es war die Strahlenkrone der Himmelskönigin, die dort nach überwundenem Erdenleid selig schwebte.

Der wahre Hamlet.

Von
Henri Becque.")

I.

Ich habe schon eine Menge Studien über Hamlet gelesen, und ich muß gestehen, sie haben mich nicht befriedigt. Ich glaube, man täuscht sich immer noch hinsichtlich seiner Persönlichkeit, seiner Narrheit und anderer Punkte. Die alte Geschichte, aus welcher Shakespeare fein Stück genommen hat und welcher er Wort für Wort gefolgt ist, besigen wir; man beachtet das lange nicht genug.

Und schließlich hat eine so weitläufige Komposition ihre Geheimnisse.... die Geheimnisse der dramatischen Kunst; um diese aber auch nur zu ahnen, muß man selber dramatischer Schriftsteller sein.

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Heute, bei unseren jezigen Litteraturhistorikern, wiffen wir alles, bis auf das, was sie uns eigentlich lehren müßten. Wenn man be denkt, daß die moderne Kritik anstatt das Werk zu untersuchen, sich in die detaillirtesten und verborgensten Nachforschungen einläßt; daß sie von jeder Person genau zu wiffen verlangt, von welcher Rasse sie ist, zu welcher Zeit sie lebte, und wie ihr Stammbaum lautet; daß man sie durch Schule und Klinik schleppt; so wird man begreifen, wie keine Gestalt diesen gefährlichen Untersuchungen in größerem Maße ausgesetzt war, als der dänische Königssohn.

Man muß in der englischen Litteraturgeschichte" die Fehler sehen, die M. Taine macht, jenen beständigen Fehler, in den er durch diese Methode geraten ist.

Sprecht uns von dem Werk selbst, wenn Ihr es zu kennen glaubt, und von der Kunst, welche es hervorgebracht hat, wenn sie Euch nicht ganz und gar fremd ist. Ja, man würde gerne Aufklärungen über Hamlet haben, wenn man sie von Shakespeare selber bekommen könnte. Aber er hat keine Vorworte geschrieben. Man weiß, daß weder Shakespeare noch Molière die Gewohnheit hatten, Vorworte zu schreiben.

Sie haben sich wahrscheinlich nicht gern verraten oder anpreisen wollen.

Hatte Shakespeare irgend welche Achnlichkeit mit seinen Gestalten? Hat er sich selbst dargestellt in seinen großen Jugendtollein Modell in der „Sirène" gefunden, inmitten der Dichter und heiten und seinen ersten philosophischen Aufwallungen? Hat er Künstler? Oder hatte er sich schon jenen anderen Prinzen vorgemerkt, den Freund von Falstaff, auch ein netter Sonderling, den er später auf die Bühne brachte? Hat sein Genie mit einem Schlage diese große Gestalt der Ohnmacht geschaffen, oder ist nicht vielmehr die Idee dazu langsam, nach und nach in ihm erwacht, und haben nicht der Stoff des Stücks, diese innere von Moment zu Moment verschobene Rache, diese vielen auszufüllenden Lücken dazu mit beigetragen? Was hat er zuerst von Hamlets Tollheit gedacht? Was dachte er über jene Abenteuer, Expeditionen, Morde, Duelle, in welche der grübelnde, spekulative Hamlet verwickelt wurde? Mein Gott, vielleicht meinte Shakespeare, daß der Bühnenheld die abstrakte Persönlichkeit vergessen machen würde, während wiederum die abstrakte Persönlichkeit den Bühnenhelden gerettet hat. diesem Stück fand, als er in einer alten Chronik blätterte; und daß Dies aber weiß ich. Ich weiß, daß Shakespeare den Stoff zu er in dieser Chronik mehrere Personen und verschiedene Andeutungen und Fingerzeige fand. Etwas anderes weiß ich nicht und will mich auch nicht weiter darauf einlassen. Ich bin fein Geschichtsschreiber, fein Mediziner, ich mache auch keine psychologischen Experimente. Zwischen M. Taines Illusionen und dem Geschwät von M. Sarcey bleibt aber noch viel zu sagen übrig.

II.

Bei den ersten Worten der handelnden Persönlichkeit, bei dem Gedanken an Selbstmord, den er verwirft, sind wir mit uns einig über ihn. Er ist ein Schwächling, ein selageheld und Vernichteter, einer der die Wolken befragt und auf Kirchhöfen spazieren geht; der Mann der allgemeinen Leere. Er wird uns seine große Betrübnis erzählen, einmal und noch einmal. Aber würde Hamlet dabei allein verbleiben. so wäre er sehr rasch unerträglich geworden. Shakespeare weiß das und läßt es nicht zu.

Er macht ihn zum Narren. Er entreißt ihn seinen Tränen und läßt ihn außer sich geraten. Da stimmt diese Verzweiflung schon einen anderen Ton an; fie verwandelt sich zu heißem Zorn, in dem alle Einbildungen: die Pflicht, die Liebe, die Größe, die Wichtigfeit des Staatsmannes durchbohrt werden und die menschliche Schwäche auf ihre eigene Nichtigkeit zurückgeführt wird.

Ich weiß nicht mehr, wer es ist, der gesagt hat: „Hamlet ist der zum Manne der Tat verwandelte Prediger." Wenn ein Mensch so denkt wie Hamlet, so hat er auf dieser Erde nichts mehr zu suchen; die Ereignisse ziehen an ihm vorüber, ohne daß er Anteil an ihnen nimmt; er freuzt die Arme und sieht zu. Aber Hamlet straft sich selber Lügen, und wir verstehen ihn nicht mehr. In den Einzelheiten hört er auf, der zu sein, der er im Ganzen ist. Er wird entschieden, energisch, grausam. In einem Moment möchte er die ganze Welt bis auf Claudius töten. Woher stammen diese auf der Hand liegenden, unbestreitbaren Widersprüche? Wem kann man sie zur Last legen?

Es ist schon oft von ihnen geredet worden, und man hat tausende von Erklärungen dafür gefunden; welche aber ist die richtige? Mit der Chronik werden wir sie finden.

Shakespeare ist nicht Herr über sein Stück. Er verfügt nicht frei über alle Teile desselben. Hier, rechts, borgt er; dort, links, träumt, erfindet er; er besißt Vorräte, die nicht Hand in Hand gehen mit seinen Erfindungen.

An Stelle des tatkräftigen Mannes, welchen die Chronik ihm liefert, stellte er einen Träumer hin, dem er die Tatkraft aber läßt. Das ist der Grund der Widersprüche; er ist einfach genug und sicher, wir haben nicht nötig weiter nach ihm zu suchen.

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