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schriften und Reformentwürfe, als ihm die französische, Regierung gestattete, sich einer Erpedition nach Madagaskar anzuschließen. Seine frohen Hoffnungen wurden auf hoher See herabgestimmt, als er erfuhr, es handle sich einfach um eine Sklavenexpedition. Kurz entschlossen, ließ er sich auf Mauritius ans Land seßen und fand | eine bescheidene Stellung als Ingenieur.

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Dieser Aufenthalt auf Mauritius damals Fle de France bezeichnet den Wendepunkt in Bernardins Lebenslauf. In seinem abgelegenen Häuschen am Strande brütete er über die Schäden der gesitteten Welt und wante der ihn umgebenden Natur seinen Blick zu. Verbittert und verdüstert irrte er an den Seeküsten, im Gebirge, im Urwalde umher und zeichnete zum Zeitvertreib seine Beobachtungen auf. Er häufte einen Stoß von Skizzen, Plänen und Notizen an, füllte ganze Risten mit Gräfern, Steinen, Muscheln und Tieren und kehrte menschenfeindlicher als je, aber geläutert und gereift, mit der Urkundensammlung zu seinem Erstlingswert, im Sommer 1771, nach Paris zurück. Er ist demnach der erste, der die méthode expérimentale, die méthode scientifique auf die Naturbeschreibung anwante.

Da der Wortschat für malerische Naturschilderungen dem Dichter noch abging, ist das 1772 geschriebene Voyage à l'Ile de France" stilistisch noch recht unvollkommen. Daß er langsam und mühsam diesen Wortschat schuf, ist sein größtes litterarisches Verdienst. Realistisch treu find seine Beschreibungen, nicht mehr, wie im 17. Jahrhundert, allgemein verschwommen und auf alle Gegenden anwendbar. Arvède Barine stellt sehr bezeichnend eine Sturmbeschreibung aus dem Télémaque mit einer solchen aus Bernardins zu sammen und fügt zur Veranschaulichung der Fortschritte seit einem Jahrhundert ein meisterhaftes Sturmgemälde aus Pierre Loti bei.*) Die Abstufung springt in die Augen und zeigt die gewaltige Ueberlegenheit unseres gefeierten Zeitgenossen Loti, des jüngsten Académicien. Im gleichen Jahr, da Bernardin de Saint-Pierre fein Voyage à l'Ile de France" schrieb, war er mit dem alten Rousseau bekannt geworden. Damals bewohnte der Genfer Einsiedler mit Therese Levasseur eine kleine Wohnung der Rue Platrière; fein Verfolgungswahn | scheint in einem ruhigen Stadium fich befunden zu haben, da er den Neuling verhältnismäßig gut aufnahm und auf regelmäßigen Verkehr sich einließ. Die zahlreichen Spaziergänge und Unterredungen mit dem Verfasser der Neuen Heloise" waren in hohem Grade anregend und wertvoll: der tastende Jünger hatte seinen Meister gefunden, das Verhältnis dauerte ununterbrochen sechs Jahre lang, bis zum Tode Rousseaus (1778).

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Fast hätte der litterarische Erfolg eine unheilvolle Wendung in Bernardins Leben hervorgerufen. Er war plöglich in allen Salons gefeiert, was seine Menschenschen bis zum Verfolgungswahn Rousseaus zu steigern drohte. Er hatte den glücklichen Einfall, in tieffter Zurückgezogenheit den Verlauf dieser seiner Gemütskrisis abzuwarten, zumal der Wahnsinn in seiner Familie nicht unbekannt war. Rousseau blieb ihm in dieser be trübenden Lage treuer, als die meisten alten und neuen Freunde. Zu diesem geistigen Unbehagen kam eine so drückende materielle Not hinzu, daß man sich wundern muß, wie Saint-Pierre eine so bittere Zeit überstand. Schon um 1781 werden seine Briefe etwas fröhlicher, der Alp scheint gewichen zu sein; drei Jahre später

*) Arvède Barine, Bernardin de Saint-Pierre, Paris 1891 (Hachettes Sammlung „Les grands écrivains français").

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können die drei Bände Études de la nature" im Druck erscheinen (1784 ff.).

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Ursprünglich gehörte das reizende Idyll „Paul und Virginie" zu den Naturstudien". Es durfte aber infolge einer ärgerlichen Begebenheit erst nachträglich das Licht erblichen. Bernardin sollte im Salon Necker vor gewählter Zuhörerschaft etwas aus seinen Manuscripten vorlesen. Er begab sich mit „Paul und Virginie" in der Tasche dahin und erzielte einen völligen Mißerfolg: die gelehrten Herren gähnten, Buffon ließ seinen Wagen vorfahren, die Damen wagten vor so kompetenten und 10 offenbar gelangweilten Kunstrichtern ihre Rührung nicht zu zeigen, das Werk war verurteilt. Ohne Vernets Dazwischenkunft hätte Saint-Pierre in seiner Verzweife lung das Manuscript zu Hause, verbrannt. Erst nach dem unerwarteten Erfolg der Etudes de la nature" wagte er, jenes rührende Tropenidyll als vierten Band derfelben erscheinen zu lassen, und nun kannte die BePaul und geisterung der Leserwelt feine Grenzen. Virginie" war bald in allen Sprachen übersezt und reihundert Mal nachgedruckt, dann dramatisirt, melodramatisirt, gemalt, in Stein gemeißelt ut. a. m. Die von Humboldt so sehr bewunderten Tropenschilderungen und die überwältigende Charakteristik der ersten, unschuldigen Liebe haben heute von ihrer großartigen Wirkung nichts eingebüßt.

Der wissenschaftliche Inhalt der „Naturstudien“ ist völlig wertlos, besonders wenn man bedenkt, daß sechs Jahre vorher Buffons,,Époque de la nature" herausgekommen waren. Mit verblüffender Naivität forscht Bernardin überall nach dem Grund jeder Erscheinung heit, welches nach seiner kindlichen Ansicht von Gottes der Natur mit Rücksicht auf das Wol der MenschGüte das einzige Ziel der Schöpfung war und ist. Kosmische Umwälzungen sind ihm unerhört, vom Kampfe ums Dasein in der Natur ist keine Rede, alles ist zum Besten des Lieblings der Gottheit eingerichtet. Daß 3. B. die Kuh vier Zißen hat, obwol sie nur ein Junges gebiert, das Mutterschwein für bis zu 15 Jungen nur mit 12 Zißen ausgestattet ist, hat seine Begründung darin, daß die Kuh ihren Ueberfluß an Milch und das Mutterschwein den Ueberfluß an lebendigen Jungen zur Ernährung des Menschen abgeben soll. Von ähnlicher Harmlosigkeit sind die sozialen Reformpläne am Schluß der,,Etudes de la nature". Der einzige Wert dieser tiefempfundenen Predigten ist der ethische und der stilistische, und dieser genügt, um Bernardin de SaintPierre einen Plaß in der Weltlitteratur zu sichern. Ohne ihn wäre die kühle Verstandeslitteratur des 17. und 18. Jahrhunderts nicht so leicht von Chateaubriand, Lamartine und den Romantikern über den Haufen gerannt worden. Il voulait rouvrir la porte à la Providence, il l'a rouverte au grand Pan," sagt Barine sehr bezeichnend.

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Revolution in ungetrübtem Frieden unweit Paris zu. Der Naturphilosoph brachte die Sturmjahre der Das Aufkommen seines Bewunderers Bonaparte brachte ihm allerlei Ehrungen und dazu auch manchen Anlaß. die unangenehmen Seiten seines Charakters hervorzufehren. Als Mitglied der Akademie lebte er in steter Fehde mit seinen Kollegen, so daß der Verfolgungswahn wieder ausgebrochen wäre, wenn nicht sein stilles, eheliches Glück füßen Balsam in die Wunden des Ehrgeizes geträufelt hätte. geträufelt hätte. Selbstverständlich nannte Bernardin de Saint-Pierre wie Taufende junger Väter von damals seine Kinder Paul und Virginie. Noch vor 30 Jahren kamen diese Vornamen in Frankreich selbst bei Bauern vielfach vor. Denn die Zweisous Bilderbogen von

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Epinal sorgen bis zum heutigen Tag dafür, daß die rührenden Schicksale beider Kinder der Tropen im französischen Volke fortleben, während die besten Schöpfungen wahrhaft großer Dichter spurlos an der Menge vorübergegangen sind.

Suggestion und Strafrecht.

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Bon

Dr. Julius Lang.

Der Hypnotismus, vor Kurzem noch eine Domäne marktschreierischer Reklame und gewissenloser Gaukelei, die nichts anderes bezweckten, als Gelderwerb und Befriedigung der Schaulust, ist nunmehr ganz in das Gebiet der ernsten wissen schaftlichen Forschung übernommen worden. Diese Rangerhöhung zeigte sich von dreifachem Wert. Zunächst einmal wurden die seltsamen, fast mystischen Erscheinungen jenes eigenartigen Schlafzustandes ihres übernatürlichen Charakters entfleidet und auf einfache physiologiche Grundgeseße zurückgeführt; in zweiter Reihe stellte es sich heraus, daß der Hypnotismus cine wertvolle Bereicherung der ärztlichen Behandlungsmethoden darstelle; endlich wurde es offenbar, daß das willkürliche und planlose, diesbezügliche Manipuliren ernste Gefahren für die Gesundheit des Mediums“ in sich schließe, was zur Folge hatte, daß von kompetenter Seite die Anregung in Fluß gebracht wurde, öffentliche derartige Schaustellungen, bezw. den Nichtärzten überhaupt das Hypnotisiren zu verbieten. Noch sind die Akten über diese Angelegenheit nicht geschlossen und schon hat man eine neue Seite dieses vielversprechenden wissen= schaftlichen Objektes entdeckt: Die Beziehungen des Hypnotismus zum Verbrechertum, die Gesegesverlegungen an oder durch Hypnotisirte. Anfangs schüchtern und nur vereinzelt sich vorwagend, ist die einschlägige Litteratur allmählich derartig angeschwollen, daß sie bereits erkennbar das ganze Gebiet zu beherrschen und ins Besondere die therapeutische Seite desselben mehr und mehr in den Hintergrund zu drängen beginnt; nur noch eine Frage der Zeit ist es, daß auch die Gesetzesgebung nach dieser Richtung hin wird erweitert bezw. modifizirt werden müssen.

Auftrag mit genauer Einhaltung aller Einzelheiten nach rund
einem Jahr ausführen zu lassen. Diese sog. posthypnotischen
Suggestionen find es uun aber gerade, die in dem neuen
Zweig der gerichtlichen Praxis eine große Rolle spielen.

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Als vor mehreren Jahren von französischen Aerzten über eine ganze Anzahl von Fällen berichtet wurde, bei denen hypnotisirte Individuen das Opfer oder das Werkzeug strafwürdiger Handlungen bildeten die Fälle kamen vor dortigen Gerichtshöfen zur Verhandlung und gaben Veranlassung zur Einholung medizinischer Gutachten, da schüttelte alle Welt ungläubig den Kopf. Die Tatsächlichkeit solcher Vorkommnisse wurde aber bald durch diesbezügliche Experimentaluntersuchungen erwiesen. Einige der interessantesten derselben, und zugleich lehrreichsten, seien hier kurz sfizzirt. Dr. Ladame berichtet, daß einer jungen Dame suggerirt wurde, sich nach einer bestimmten Wohnung zu begeben und aus einem genau bezeichneten Schrank cin Armband zu stehlen. Gleichzeitig wurde ihr ans Herz gelegt, unter feinen Umständen die Person zu verraten, die sie zu diesem Diebstahl veranlaßt hätte. Die Ausführung der Suggestion geschah pünktlich und genau in der anbefohlenen Weise. In der am Tage darauf eingeleiteten Hypnose suchte man nun auf die eindringlichste Weise den Namen des Diebes zu erfahren oder, nachdem sie sich schließ= lich selber als solchen bekannt hatte, Aufschluß über den Verführer zu erhalten. Hier aber stieß man auf unüberwindlichen Widerstand. Schließlich brachte man ihr bei, einen bestimmten Herrn dem Gericht als den Dieb schriftlich anzuzeigen, nachdem man in ihr die Ueberzeugung befestigt hatte, daß der betreffende Herr das Armband gestohlen und sie selbst den ganzen Vorgang beobachtet habe. Unmittelbar nach dem Erwachen faßte fie das Schreiben genau in der suggerirten Form ab.

Einen ähnlichen Fall erzählt Professor Bernheim. Derselbe hatte einem jungen Mädchen suggerirt, daß sie an einem bestimmten Tage (vor 41/2 Monaten), im Begriff, nach ihrer im zweiten Stock befindlichen Wohnung hinaufzusteigen, im ersten Stockwerk schreien gehört und, als sie durch das Schlüsselloch blickte, bemerkt hätte, wie der Zimmerherr ein unsittliches Attentat auf ein junges Mädchen auszuführen sich auschickte. Sietsei damals so entsetzt gewesen, daß sie noch bis jetzt nicht gewagt habe, etwas darüber verlauten zu lassen. Nun aber fei sie bereit, die ganze Geschichte vor Gericht zu erzählen. Einem einige Tage später von B. als angeblichen Untersuchungsrichter hingeschickten Herrn gab sie die Angelegenheit mit allen suggerirten Einzelheiten zu Protokoll und erklärte sich auch bereit, ihre Aussagen eidlich zu erhärten. Ja sie blieb auch dabei, als V. sie später fragte, ob doch nicht alles nur suggerirtes Traumbild sei. Sallis in Baden-Baden. juggerirte gelegentlich eines Vortrages einem fremden jungen Mann, daß man ihm ans Leben wolle und daß er diesem Attentat durch Niederschießen des (später auf Veranlassung des Vortragenden) durch eine bestimmte Türe eintretenden Mörders mit einem (blind geladenen) Pistol, das man ihm überreichte, zuvorkommen solle. Nach einer ganzen Weile, aber noch während des Vortrages, ertönte plößlich ein Schuß: der nach dem Erwachen mit gespanntester Aufmerksamkeit die betreffende Türe im Auge haltende junge Mann hatte ihn_auf_einen_zu

flärte er im vollen Brustton innerster Ueberzeugung: „der wollte mir ja ans Leben!" Dr. Liègeois veranlaßte ein junges Mädchen, ein aus reinem Zucker bestehendes angebliches Arsenikpulver am andern Tage threr Tante, um sie zu vergiften, in die Limonade zu schütten. Die von dem Vorhaben verständigte Tante berichtete, daß ihre Nichte die verbrecherische Eingebung genau nach Vorschrift ausgeführt habe. - Dr. Liébeault verlangte von einem jungen Mädchen, daß sie sich selbst (mit einem gleichen. Pulver) vergiften solle, was auch prompt ausgeführt wurde.

Wenn man eine geeignete Persönlichkeit durch eintönige Sinnesreize, etwa das Anstarrenlassen eines blanken Gegen standes, oder, wie es neuerdings ausschließlich geschieht, durch den einfachen energischen Befehl, in einen künstlichen Schlafzustand, Hypnose, verseßt, so erlischt jede selbständige Gehirn tätigkeit, die Willensfreiheit des Hypnotisirten wird aufgehoben und an Stelle des eigenen tritt der Wille des Hypnotiseurs. Wie nun im natürlichen Schlaf die Einbildungskraft über die ruhende logische Denkfähigkeit die Oberhand gewinnt oder zufällig eintretenden Vereinsdiener abgegeben. Auf Befragen erden wunderlichsten Vorstellungen (Träumen) führt, so auch in der Hypnose, wenn man die allezeit tatkräftige Phantasie durch Einflüsterungen in bestimmte Bahnen leitet. Durch eine Durch eine derartige Einwirkung auf das von der kontrollirenden Verstandestätigkeit emanzipirte Vorstellungsvermögen eines Menschen, was man eben Suggestion nennt, gelingt es nun, cinen bestimmten Gedankengang zu erwecken, der dann in entsprechende Handlungen umgesetzt werden kann. Ja bis zur willenlosen Maschine vermag der Hypnotiseur sein „Medium" herabzuziehen, dessen Lebensäußerungen er dann nach Belieben. zu dirigiren vermag. Jede in den hypnotischen Zustand verfette Person reagirt bewußtlos auf alle suggerirten Vorstellungen, sie ist physisch oder moralisch nichts als ein Automat. Aber, was noch merkwürdiger ist, diese Abhängig feit von dem Willen des Hypnotiseurs besteht nicht nur während der Hypnose, sondern kann auch auf die Zeit nach dem Erwachen ausgedehnt werden. Es ist möglich, jemandem während der Hypnose einen Befehl zu suggeriren, dessen Ausführung Stunden, Tage bis Monate später erfolgen soll; ist es doch dem Dr. Liégeots sogar gelungen, in einem Fall einen erteilten

Bemerkenswerter ist ein ähnlicher Fall, der in der Salpetrière in Paris zur Beobachtung gelangte. Einer Person wurde in der Hypnose aufgetragen, einen jungen Mann zu vergiften. Nach dem Erwachen gab sie demselben ein ihr zu diesem Zweck als Gift bezeichnetes Getränk und überredete ihn unter einem ganz plausiblen Vorwand, dasselbe zu sich zu nehmen. Seltsam ist, daß die betreffende Person sich in der Hypnose zuerst gegen das ihr zugemutete Verbrechen gesträubt hatte, den Widerstand aber allmählich aufgab, nachdem man sie mit den nichtigsten Gründen beschwichtigt hatte. Der Ver

such wurde so weit geführt, daß der junge Mann bald nach, dem Genuß des angeblich vergifteten Getränkes scheinbar tot hinfiel. Dem Untersuchungsrichter gegenüber (einer der Anwesenden gab sich als solcher aus) leugnete sie aber standhaft ihr Verbrechen, indem sie ihre Unschuld mit anscheinend ganz beweiskräftigen Tatsachen begründete. - Dr. Moll in Berlin veranlaßte einen Offizier, nach dem Erwachen aus der Hypnose | zu Gunsten des Medizinal-Beamten-Vereins eine Schenkungsurkunde von 100 Mark auszustellen und dieselbe mit der Erflärung zu versehen, daß dies durchaus sein eigener unabhängiger Wille sei.

Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, welche Bedeutung die hypnotische Suggestion in straf- oder civilrechtlicher Beziehung besitzt. Zunächst also ist es möglich, durch Vermittelung Hypnotisirter jede Art von Vergehen oder Verbrechen zur Ausführung bringen zu lassen, wobei noch die Sachlage verschleiernd ins Gewicht fällt, daß, wie schon erwähnt, man auch auf die Versuchsperson posthypnotisch einwirken kann, wodurch es den Anschein gewinnt, als ob die verbrecherische Handlung ganz aus eigeneni Antrieb ausgeführt worden ist. Aber auch strafbare Handlungen gegen die hypnotisirte Person selber sind begangen worden, so namentlich Sittlichkeitsverbrechen. Juridisch verwickelt wird die Sache, wenn der Hypnotiseur sich das zu letteren Zwecken erkorene Individuum suggestiv erzieht, was bei der innigen Anhänglichkeit, welche die meisten weiblichen Personen für ihren Magnetiseur" empfinden, nicht schwer halten dürfte. Es wird daher in solchen Fällen oft recht schwierig sein, zu entscheiden, ob der § 176, 2 des Str.-G.-B. in Anwendung zu ziehen ist, oder ob es sich um freiwillige Hingabe handelt. Wie nun aber, wenn derartige Individuen in böswilliger Absicht, oder auch im guten Glauben, sich zu diesbezüglichen falschen Anschuldigungen hinreißen lassen, wie das eine Anzahl von Prozessen dargetan hat?

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Diese Frage führt uns zugleich auch auf das sehr wichtige Gebiet der Simulation, die mehr noch wie unter anderen Verhältnissen hier von größter Tragweite sein kann. Es ist wiederholt, namentlich in Frankreich (wo hypnotische Prozeduren am meisten vorgenommen werden), vorgekommen, daß Ange flagte sich durch Berufung auf fremde Suggestion der Verantwortung für begangene Verbrechen zu entziehen suchten. Vielfach gelang es, die Grundlosigkeit dieser Behauptung darzutun und den Inkulpaten als Simulanten zu entlarven, dadurch, daß man vor Gericht eine erneuete Hypnose in Szene seßte. Hypnotisirte Personen erinnern sich nämlich_in_zu= tünftigen Hypnosen ziemlich genau der Dinge, die in früheren Hypnosen mit ihnen vorgegangen sind, während sie in der Zwischenzeit oft nichts davon wissen. Ist nun ein Verbrechen in der Tat suggerirt worden, so dürfte es gelingen, diesbezügliche Angaben in der erneuerten Hypnose zu extrahiren und dem Gerichtshof vorzudemonstriren, während im entgegengesezten Falle der Hypnotisirte sich unschuldig wie ein Kind" erweisen wird, was dann aber gerade als Indizienbeweis für seine Schuld gelten kann. Diese Methode der erneuerten Hypnose behufs Formulirung eines richterlichen Urteils ist natürlich auch in jenen Fällen anwendbar, wo das betreffende Individuum in der Tat das Opfer oder Werkzeug eines Verbrechens gewesen ist, wo es sich also um Ueberführung des Hypnotiseurs handelt. Hier aber sind die Aussagen als beLastend nur allenfalls zu verwerten, wenn sie im positiven Sinne ausfallen. Denn wie Moll u. a. nachgewiesen haben, können Denunziationen durch eine diesbezügliche Suggestion gänzlich verhindert, bezw. die Angaben für spätere Hypnosen in für den Urheber günstigem Sinne gefälscht werden. Auch ist es möglich, durch Suggestion für längere Zeit eine erneuerte Sypnotisirung überhaupt zu verhindern. Mit allen diesen Schwierigkeiten haben Richter und Sachverständige zu kämpfen, wenn gelegentlich einmal bet Gesezesverletzungen die Suggestion in Frage kommt. Glücklicherweise sind derartige Fälle in Deutschland, vorläufig wenigstens, ziemlich selten, während sie in Frankreich an der Tagesordnung zu sein scheinen.

Was nun die rein juridische Seite dieser Angelegenheit anbetrifft, so sind zunächst civilrechtliche Akte zwischen Hypnotiseur und seinem „Medium“, Unterschreiben von Wechseln, von Schenkungsurkunden, wie überhaupt alle eingegangenen Verpflichtungen seitens des leßteren natürlich ungültig; event. wird

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auf Grund der §§ 301 und 302 des Str.-G.-B. die strafrechtliche Verfolgung des ersteren beantragt werden können. Ueber die weitere Frage, ob überhaupt und in welchem Maße ein Hypnotisirter für ein ihm suggerirtes und von ihm mirklich ausgeführtes Verbrechen verantwortlich gemacht werden kanu, sind die Meinungen der Aerzte geteilt. Die einen wollen, weil in der Hypnose jede Willensfreiheit aufgehoben ist, das suggerirte Delikt ausschließlich dem Hypnotiseur angerechnet wissen. (Hierbei käme dann wol der § 51 des Str.-G.-B. in Betracht, falls man Bewußtseinsstörung" auch unter die dort behandelte Bewußtlosigkeit“ einbegreift, durch welche die freie Willensbestimmung ausgeschlossen und daher eine strafbare Handlung nicht vorhanden ist. Fraglich ist dagegen, ob man für vosthypnotische Verbrechen etwa auf den § 52 bezugnehmen fönnte, wonach eine strafbare Handlung ebenfalls nicht vorhanden ist, wenn der Täter durch unwiderstehliche Gewalt dazu genötigt worden ist.) Andere sind der Meinung, daß jeder, der in freiwilliger Hypnose sich seiner Willensfreiheit entäußere, auch für die Folgen müsse zur Verantwortung ge= zogen werden können; die menschliche Gesellschaft habe das Recht, zu ihrer Selbsterhaltung und Verteidigung nach Bedürfnis mit der ihr zu Gebote stehenden Härte zu verfahren. Eine dritte Ansicht geht dahin, daß der Hypnotiseur, wenn er Beranlasser einer Gesegesverleßung ist, in jedem Falle sich strafbar gemacht hat, der Hypnotisirte aber nur dann, wenn er etwa gerade, um das Delikt zu begehen, sich hat hypnotisiren lassen. Im andern Falle aber fönne er für das willenlos von ihm begangene Verbrechen selbst nicht bestraft werden, wol aber müßte er es dafür, daß er sich freiwillig hat in einen Zustand versehen lassen, der seine Willensbestimmung ausschließt.

Hier also etwa hätte die Gesetzgebung einzusehen, wenn man nicht gleich radikal vorgehen und zu einem gänzlichen Verbot der Ausübung der Hypnose zu andern als rein ärzt Beziehung bereits ein fleiner Anfang gemacht. Nach einem lichen Zwecken sich entschließen will. In Belgien ist in dieser vor Kurzem herausgekommenen Gesetz wird mit Gefängnis und hoher Geldstrafe bestraft, wer eine hypnotisirte Person zur Schau stellt, mit Zuchthaus aber, wer in betrügerischer Absicht Schriftstücke von Hypnotisirten schreiben oder unterzeichnen läßt, oder von solchen Schriftstücken Gebrauch macht. Es ist zu wünschen, daß auch die andern Staaten bald dem gegebenen Beispiel folgen und diese Lücke in der Gesetzgebung, Kriminalisten Frankreichs die hypnotischen Suggestionen nennt, Diese,,lacune dans la loi", wie einer der bedeutendsten

überbrücken mögen.

Vom jüngsten Spanien.

Von Hermann Bahr.

Man braucht mir nicht erst die Sünden der „Jungen“ umständlich vorzurechnen: ich weiß sie selber alle ganz genau, ich kenne den langen Beichtzettel der neuen Laster. Nur leider nüßt es mir wenig: es vermehrt meine Liebe blos, statt mich von ihr zu heilen. Ich weiß schon, daß sie verworren und maßlos und ganz ohne Kompaß sind, und wie man auch ängstlich forschen und suchen mag. kein Mensch kennt sich ordentlich aus; aber ich liebe die dunklen und irren Triebe des Frühlings, die bangen Botschaften der Zukunft und alle die seltsamen Rätsel des langsamen Erwachens, und wenn sie wirklich sonst gar kein Talent hätten, als ihre Jugend, das allein ist schon auch etwas wert. Darum liebe ich, um welche Kunst, in welchem Lande immer es sich handle, zu jeder Zeit überall die Jugend.

Aber von allen ist mir die spanische Jugend doch noch weitaus die liebste, weil sie die jugendlichste Jugend

ist, am naivsten, am ehrlichsten, am ungenirtesten jung., Die Pariser verkapseln den Cherubin bald in die skeptische Blague des Boulevards; die Skandinavier schminken sie gern mit hamletischer Schwermut; und die Deutschen find überhaupt niemals rechtschaffen jung, weil man sie schon auf der Schule zu gravitätischen Pedanten dressirt: es fehlt ihnen alles unvorhergesehene, das stolzvergnügte Hineintappen in die ehrliche Dummheit. Nur höchstens die Wiener können sich mit der spanischen Jugend vergleichen.

Die beiden haben überhaupt manches gemein. Vor allem gleich den Schauplah: ihr Heroismus verläßt niemals das Nachtkaffee. Dann die unerschöpfliche Fruchtbarkeit an täglich verwegeneren Programmen, den weltentrückten Enthusiasmus und die unpraktische Redlichkeit, die sich unfehlbar jedesmal blamırt.

Endlich jene naive Vaterlandslosigkeit, die ganz zu versichtlich das himmelblaue Land der schönen Träume gleich hinter den Grenzen der Heimat beginnen läßt, mit der unerschütterlichen Ueberzeugung, daß es überall besser ist als daheim, weshalb auch auf der ganzen Welt niemand mehr zu beneiden ist als die Minister dieser Staaten. Und auch das gehört noch dazu, da es in keinem Dinge jemals zur rechten Gemeinsamkeit kommt, sondern jeder für sich allein wieder von vorne beginnt, weil es lieber gar nicht sein soll, als daß er in irgend einem Punkte ein Jota nachgeben würde sie halten es alle mit dem Brandschen „Alles oder nichts“ und keiner traut dem anderen ..

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Man hat mir in diesen Tagen ein Heftchen geschickt, ein liebenswürdig rosenrotes Heftchen von knapp 53 Seiten, aber umstürzlerisch in jedem Saße und aufrührerisch gegen alle Gewalten des Himmels und der Erde. Das kann als ein vortreffliches Schulbeispiel dienen, wie sie da unten sind, die neuen Don Quixotes am Manzanares und am Tajo. Es ist sehr lächerlich und sehr rührend zugleich. Lächerlich durch die knäbische Zuversicht, daß alle Welt seit so viel tausend Jahren ganz heillos elend und in Not gewesen, aber jetzt sofort, wenn sie nur das Büchlein ernsthaft liest und seine Ratschläge beherzigt, aus allen Leiden gleich erlöst und des ewigen Glückes gewiß ist; und rührend durch den selbstlosen Troß gegen Sie falschen Größen und die opferwillige Sehnsucht nach den fernen Idealen. Es ist von Don Manuel Lorenzó D'Ayot, einem begeisterten Jüngling, der lange schon alle Vereine von Madrid mit Vorträgen über die neue Kunst heimsuchte und manches harte Mißgeschick erfahren hat, er litt unfäglich darunter, wie er erzählt, daß er von Jahr zu Jahr noch immer nicht großjährig würde und deshalb nach dem spanischen Geseze kein eigenes Blatt redigiren durfte. Außer diesem persönlichen Unglück schmerzte ihn aber auch die Schmach des Theaters, weshalb er die Gründung einer freien Bühne versuchte, und später wieder, als er endlich sein eigenes Blatt besaß, schmerzte wieder der Mangel an Abonnenten, weshalb er dieses rosige Heftchen verfaßt hat.

Alle Merkmale der spanischen Moderne sind darin wie auf einer Musterkarte versammelt. Der Hochmut gegen alles, was vorher geschah, und der einsame Stolz, der alle Hoffnungen der Menschheit erst von sich selber an datirt, verächtlich gegen die Narren und Schurken ringsum in Vergangenheit und Gegenwart; der fühne weltenüberfliegende Schwung, der sich immer gleich an ganz Europa adressirt; das üppige Pathos, das die nüchternen Gründe des Verstandes verschmäht und durch das kämpferische Säbelraffeln der Pronunciamentos ersezt. Jene wunderliche Mischung von Arme-Leute-Geruch und einer gymnasiastenhaften Grandezza, und eine_unerschöpfliche Lust am ewigen Roformiren, die nichts in der

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ganzen Welt in Ruhe lassen will. Natürlich ein unerbitterlicher Pessimismus, der kein Mitleid fennt: alles ist schlecht, ohne Ausnahme, wohin immer man sich wenden mag die Kritiker sind „Eunuchen“, die Direktoren sind die Vampyre der Litteratur", die Schauspieler, vom ersten Regisseur bis zum letzten Comparsen" alle gleich verlumpt und verkommen, in Neid, Größenwahn und Intrigue entartet, nur auf den eigenen Vörteil bedacht, voll vanitad, ignorancia y rutinarismo, das Publikum ist neidisch, undankbar, barbarisch und schwelgt im Gefühle seiner Rohheit, die großen Namen von heute sind Eintagsfliegen, die morgen schon niemand mehr kennen wird, und die großen Namen von gestern, Calderon, Lope, Moreto waren eigentlich auch nichts, mit Shakespeare können sie sich doch nicht messen. Aber dabei ein blinder Glaube an sich selbst, an die Unfehlbarkeit der eigenen Mittel: wie denn das ganze große und unsägliche Elend der Kunst mit einem einzigen Schlage gebannt wäre, wenn die Regierung sich für sein theatralisches Schwurgericht entschiede, das vom König ernannt aus einem berümten Dichter, einem ersten Schauspieler, einemRegisseur, einem Kritiker, zwei Journalisten und einem Vertreter der litterarischen Jugend bestehen und über alle eingeweihten Stücke in gewissenhafter Prüfung unparteiisch entscheiden soll. Und immer wieder und überall eine unvertreibliche Vorliebe für das Vage und Konfuse, die ängstlich jeden präzisen Ausdruck vermeidet, für das Ueberschwengliche, das in die Wolken hinauf verraucht, für den wirren Trommelschlag der großen Phrase.

Aber nicht blos darum ist dieses Heftchen bemerkenswert, weil es dem Fremden einen handsamen Auszug der ganzen spanischen Moderne giebt, aus der er ihre Art und Unart deutlich vernehmen kann. Es enthält mehr. Er merkt eine Neuheit der spanischen Litteratur, die Achtung verdient, als ein verläßliches Zeichen, daß auch in Spanien der Naturalismus schon wieder bedroht und seine Herrschaft vorbei ist.

Er will von dem Naturalismus, dem noch vor einem Jahre die ganze spanische Boheme fanatisch_blind ergeben war, nichts mehr wissen. Er behandelt auch ihn schon gerade so wie die romantische und die klassische Tradition: als ausgediente und abgetane Schablone, mit der nichts mehr zu machen ist. Er sucht über die natu ralistische Formel hinaus einem fernen, unbekannten ideal novisimo, nach einer teoria romanticobrutal, welche lo sublime y lo grosero, das Erhabene und das Gemeine verbände. Wie im Leben die Seele unlöslich an dem Körper hängt, auf eben dieser Zweifaltigkeit soll auch die Kunst begründet werden: „es soll eine Fusion der Seele Viktor Hugos mit dem Gehirne Emile Zolas sein“.

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Das ist noch ein bischen undeutlich und wirr und wenn man gar hört, daß er von allen Dichtern nur Tolstoj gelten lassen will, den er mit Viktor Hugo vergleicht, so wird er leicht ganz unverständlich. Über man erinnert sich des jezt modischen Tams der jungen Pariser gegen les prétentieux imbéciles de l'école de Zola, erinnere sich des raftlosen Schlagwortes vom roman romanesque und der vielen Programme des neuen Idealismus". Man vergleiche diese Definition, welche Huysmans neulich vom neuen Roman gab: „Der Roman müßte sich in zwei Teile scheiden, welche gleichviel den Zusammenhang bewahrten, den sie im Leben haben, in einen Teil der Seele und einen des Leibes, und er müßte von ihren Wirkungen aufeinander, von ihren Widersprüchen und von ihrem endlichen Ausgleich handeln; er müßte mit einem Worte die breite Straße Zolas gehen, aber zugleich in der Luft darüber einen parallelen Weg bahnen d. h., einen spiritualistischen Natura lismus schaffen“. Und man lese die merkwürdige Studie

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„Denn nicht Gewalt noch Kunst giebt einem abgebrauchten Zauberwort die Kraft zurück. Da muß ein neues Wort der Schlüssel werden dieser Welt .

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Aber andererseits wird das Vorhandensein einer neuen Weltanschauung geleugnet oder dieselbe doch so sehr angezweifelt, daß sie vielen nicht vollgütigen Ersay geben kann für das überwundene Alte Man wird also zunächst mit der Annahme rechnen müssen, daß wir in einer Zeit ohne gültige Weltanschauung leben, in der sich jeder nach Geschmack und Fähigkeit seine Privatanschauung aus dem Leben abstrahirt.

Man wird deshalb, um eine Identifikation des Zuschauers mit dem Helden zu erzielen, um den Helden also vom gleichen Schicksal abhängig erscheinen zu lassen, von dem der Zuschauer abhängig zu fein glaubt, in der heutigen Tragödie dem Zuschauer das heutige Leben vorführen müssen, in dem er selbst lebt, aus dem er sich seine Privatanschauung abstrahirt hat.

Von diesem Gesichtspunkte aus sind die Bemühungen neuerer Autoren gewiß mit Freuden zu begrüßen, die, nicht beirrt durch irgend eine Borcingenommenheit oder Theorie, das, was sie gesehen, mit photographischer Treue wiedergeben, irgend einen beliebigen Lebensausschnitt, ohne Anfang, ohne Ende, ohne willkürliche Zutat, ohne Abstrich.

oder

Wenigstens wollen diese Dichter in dieser Weise schaffen, aber es ist nicht ausführbar, nicht denkbar, daß ein Dichter bei der Wiedergabe des Erlebten und Geschehenen nicht doch etwas von seinem Eigensten, seinen Gedanken, seiner Weltanschauung hinzutut er müßte seine Individualität aufgeben, die ihn ja gerade zum Dichter macht, und die Werke zweier Dichter müssen sich zum Verwechseln ähnlich werden, wie es nicht einmal die von verschiedenen Photographen hergestellten Photographieen derselben Personen oder Gegenstände sind.

In dem Moment jedoch, in welchem durch einen Gedanken, eine Wendung, halb unbewußt, die Wirklichkeit gefälscht wird, ist die Möglichkeit der Opposition des Zuschauers gegeben, weil derselbe dann nicht mehr aus sich heraus abstrahirt, sondern zu einer Abstraktion überredet wird.

Aber nicht nur die Objektivität der Wiedergabe ist in Zweifel zu ziehen, sondern auch die Möglichkeit objektiver Auffassung. Das Interesse, welches für eine Sache mehr erweckt wird als für die andere, bedingt eine ungleiche Beobachtung, eine unwillkürliche Gliederung und Abstufung der Objekte, die vielleicht durchaus mit ihrer inneren faktischen Wertigkeit in Widerspruch steht. Sollte aber die objektive Auffassung für möglich erachtet werden als höchster Triumph des *) Siehe Magazin Nr. 23.

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Aber selbst all dies Unmögliche für den wahren Dichter als möglich zugegeben, objektive Wiedergabe und vollkommene objektive Auffassung, so wird der Zuschauer, der doch selbst subjektiv das Leben angeschaut hat und bewußt oder unbewußt das, was in sein aprioristisches Lebensbild nicht hineinpaßt, übersicht, so wird doch der Zuschauer in der objektiven Wiedergabe der vollkommenen Auffassung das Leben, in dem er zu leben glaubt, nicht wiedererkennen. Die von seiner Auffassung abweichende Wertigkeitsgruppirung wird fortdauernd seine Opposition hervorrufen und eine Identifikation unmöglich machen.

Wenn nun also auch diese realistischen Versuche den Anforderungen der Tragödie nicht genügen, so soll andererseits nicht geleugnet werden, daß aus einer großen Summe von Detailarbeiten sich vielleicht die neue Weltanschauung, nach der wir hindrängen, und mit ihr Schicksal und Tragödie gewinnen ließe Doch ist dieser induktive Weg ein langer und beschwerlicher und es ist nicht recht einzuschen, wieso die Betrachtung der Lebensphotographieen schneller und sicherer zu einer Lebens auffaffung führen sollte, als die Betrachtung des Lebens selbst. Wir wollen deshalb sehen, wohin wir auf deduktivem Wege gelangen.

Die neue Zeit steht unter dem Zeichen Darwins. Die Weltanschauung, die sich philosophisch aus der Darwinschen Theorie ents wickelt hat, fußt auf der Vervollkommnung der organischen Wesen im Kampfe ums Dasein.

Das organische Wesen hat seine Eigenschaften ererbt von seinen Erzeugern. Im Kampfe ums Dasein gehen mun die schwächeren. Individuen zu Grunde, können ihre Eigenschaften nicht fortpflanzen, und nur die stärkeren Individuen vererben ihre besseren Fähigkeiten. Auf diese Weise findet allmählich eine Vervollkommung der organischen Wesen statt.

Was heißt aber Vervollkommnung? Das ist die immer wachsende Fähigkeit, den Kampf ums Dasein zu bestehen. Diese Fähigkeit zeigt sich in der Besiegung schädigender Einflüsse oder in der Anpassung an dieselben. Dieses Anpassungsvermögen ist eine den organischen Wesen anhaftende Gabe, welche, sich mehr und mehr ausbildend, dieselben zu immer höheren Stufen der Vervollkommnung geführt hat.

Da nun diese äußeren Einflüsse auf das organische Wesen modelnd einwirken, so giebt uns die neue Weltanschauung als zweiten Faktor, von dem das organische Wesen in seiner Ausgestaltung abhängig ist, außer der Erblichkeit: die äußern Verhältnisse.

Betrachten wir aber die Entwicklung der organischen Wesen, so erkennen wir ohne weiteres an, daß bei den niedrigsten durch diese beiden Faktoren das Leben des Individuums bestimmt wird. Die Zelle teill sich und das fertige neue Individuum hat sofort den Kampf mit den äußeren Verhältnissen aufzunehmen, resp. sich ihnen anzupassen. Aber je höher wir in der organischen Welt steigen, desto später ist das Individuum fertig, eine desto größere Anzahl von Faktoren konkurriren bei der Hervorbringung eines zum Kampfe ums Dasein geeigneten Individuums. Das Ei muß bebrütet, das Junge ernährt und im Fliegen unterrichtet werden. Es tritt also der erziehliche Einfluß der Eltern hinzu. Und wo dem Einzelindividuum das erfolgreiche Bestehen des Kampfes ums Dasein erschwert oder unmöglich gemacht ist, da findet eine Vergesellschaftung der Individuen statt, und der erziehliche Einfluß gliedert sich. Zur Erziehung durch die Eltern kommt die modelnde Einwirkung der Gemeinschaft hinzu. Und so fort bis hinauf zum Menschen, bei dem sich die Zahl der Faktoren mehr und mehr vervielfältigt um so mehr, je höher er steht, je gebildeter er ist bis das zum Kampf ums Dasein fähige Individuum fertig gestellt ist.

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