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spricht! Es ist eine Seltenheit und ein großes Glück, in dem Alter, worin die Mutter ist, noch eine solche Frische des Geistes zu besißen, noch empfänglich für Leid und Freude zu sein. Im gewöhnlichen Falle sind die Menschen im Alter für beides stumpf und teilnahmlos. Wir wollen uns also bewachen und hüten, daß unser Geist nicht schimmelig wird und uns ein ähnliches Glück, wie der Mutter, zu teil wird. Ich habe mir fest vorgenommen, von nun an ein sehr fideler Kerl zu werden, ich sehe immer mehr ein, wie leicht man sich ein angenehmes Leben bereiten kann, und namentlich wir haben alle Ursache und Mittel dazu und wir würden undankbar gegen den Geber alles Guten sein, wenn wir das, was er aus dem Füllhorn seiner Gnade über uns ausgegossen hat, nicht genießen, sondern mit trübem Sinn von uns stoßen wollten. Also geliebte Josefine, von nun an fingen wir: „Freut euch des Lebens, so lange noch das Lämpchen glüht, pflücket die Rose, eh' sie verblüht." Ja, was machen unsere schönen Rosen im Garten? Das wird freilich eine Pracht sein! Hoffentlich werde ich noch einige zu sehen bekommen, wenn ich heimkehre. Sage unserm Hofgärtner, daß er fie mit Papier vor den zu starken Sonnenstrahlen schüßt, fie dauern länger. Ich freue mich sehr, der Karoline*) ihr Töchterlein aus der Taufe zu heben. Zur Ehre und zur Liebe meiner zwei schönsten Rosen, die in meinem Garten wachsen, werde ich das Kindlein Johanna Maria taufen lassen; was sagt Ihr dazu, Ihr beiden Schnitzel, Mikel, Fröschel, wollt Ihr Pate sein?

Ich size hier im füßen Nichtstun (welches acht Tage wol auszuhalten ist) und hätte meine Zeit so notwendig zum Arbeiten! Aber ich halte meine Zeit aus. Bier Wochen werde ich im Ganzen hier bleiben, aber auch keine Minute länger. Und wenn die glückliche Stunde gekommen ist, werde ich wie eine Kugel aus der Flinte abfahren. Heute Morgen habe ich einen Brief von dem Vater erhalten. Es ist dort Alles wol. Leonhard will mich hier abholen, das kann aber nicht sein. Obgleich man in 12 Stunden von hier nach Mülheim kommen kann, so brauche ich doch einige Tage. Ich halte mich unterwegs auf in Koblenz, beim Deger in Remagen, in Bonn bei Boifférée, der mir wieder geschrieben hat, ihn doch ja zu besuchen. Es geht den Leuten nicht gut, beide sind franklich. Ein Profeffor Clemens aus Bonn erzählte mir, daß den beiden Brüdern die Tränen in die Augen kommen, wenn sie nur den Namen München hören, vor Sehnsucht und Heimweh dahin. Also die muß ich besuchen und noch einige andere Leute. Dann fahre ich nach Köln und Düsseldorf, wo es überall viele Freunde und Bekannte giebt, die ich aufsuche. Das würde dem Leonhard nicht angenehm sein, überall' mit hingehen zu müssen.

Mittwoch. Ich wollte diesen Brief gestern schon schließen, mußte aber einen Gegenbesuch dem Prinzen v. H. machen. Dieser hochgeborene Mensch hat auch nicht mehr Verstand und Wig, als wie der Eset, auf dem ich morgen nach Lahnstein reiten werde. Und wie ich im Begriffe war, von dem Besuche nach Hause zu gehen, begegnete mir der junge Longart (der früher in München war), der von Koblenz kam, mich hier aufzusuchen. Wir blieben den übrigen Teil vom Tag zusammen, speisten abends in Gesellschaft, sahen schöne Frauen im Kursaal tanzen, sahen in einer der Spielhöllen Menschen mit von Leidenschaften, besonders Gier und Habsucht, verzerrten Gesichtern Gold und Silber in Haufen gewinnen und verlieren. Aber lange

*) Kaulbachs älteste Schwester, Frau des Mülheimer Arztes Dr. Leonhard.

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hält man es da nicht aus, man wendet sich bald weg voll Ekel und Abscheu. Ich gehe dann und wann hin, um diese diabolischen Fragen zu studiren. Der junge Freund Longart hat mich gebeten, tausend Grüße an seine Verwanten Görres zu bestellen. Guido Görres meint also, ich hätte mit den 100 Quellen übertrieben? Nicht 100, sondern 200 Quellen, ja, ja unzählige Quellen befinden sich in dem Flüßchen. Das Wasser dampft in den fühlen Abend- und Morgenstunden sehr stark, und mein dicker Wirt, welcher eine Autorität ist, behauptet, daß diese Quellen bei weitem heißer sind, als wie die, welche jezt von den Kranken gebraucht werden. O, frage doch den Guido, ob er sich aus seiner Jugend nicht mehr erinnere (es ist freilich schon lange her), daß auf Ostern die Koblenzer Schuljugend nach Lahnstein geführt wird, um in der Lahn ihre Ostereier zu sieden, so eine Hize hätt se noch beim Ausfluß in den Rhein. Wenn sein Gedächtnis ihn nicht ganz verlaffen hat, muß er es sich noch erinnern.

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„Ich war vor einigen Tagen wieder in Stolzenfels. Hauptsächlich unternahm ich wieder diese kleine Reise, um das Fräulein Nettchen*) zu besuchen, welches ich bei meinem ersten Dortsein vergessen hatte. Nachdem ich in der Frühe von 5 Uhr an bis 7 Uhr meine 6 Gläser Krähnchen getrunken, dann von 8 bis 9 Uhr gebadet (das ist die Ordnung für jeden Tag), bestieg ich nach eingenommenem Frühstück mit dem münchener Theaterintendanten Baron Fries einen zierlichen offenen Einspänner, und so fuhren wir unter dem Schuße von großen Sonnenschirmen, denn die Hize war unerträglich, an den schönen Ufern der Lahn entlang nach Lahnstein. Dort fanden wir die andern der Gesellschaft, namentlich die schöne Frau eines Offiziers, eine majestätische Gestalt, mit bleichem ausdrucksvollem Gesicht, seelenvollen Augen und pechschwarzem Haar, auch recht klug und verständig, nur ist mir ihre Aussprache höchst unangenehm, es ist nämlich die der Hinter-Pommern (Alt-Preußen). Da lobe ich mir doch die süddeutsche Sprache! Aber abgesehen davon ist sie schön und liebenswürdig, und wenn ich einmal die Kaffandra des Homer darzustellen habe, werde ich mir die Frau wieder ins Gedächtnis zurückrufen. Seitdem die Frau Henoch fort ist, mache ich dieser Dame den Hof. (Was sagst du jezt zu deinem Mann, geliebte Josefine, ist das nicht ein ganz charmanter Mensch geworden?) Wie nun unsere Gesellschaft vollzählig war, schifften wir über den Rhein nach Kapellen, und während die Andern per Esel zur Burg hinauf ritten, machte ich dem Fräulein Nettchen meinen Besuch. Die Freude der Guten hättest du sehen sollen!! Guten hättest du sehen sollen!! Sie öffnete selbst die Haustür und starrte mich einige Augenblicke bewegungslos an, im zweiten Moment aber flog sie mir entgegen und hing an meinem Halse, umarmte mich aufs zärtlichste und schrie hell auf vor Freude. Nun hätte ich einen Gaul darum gegeben, wenn die schöne Kassandra diesen Akt mit angesehen hätte, es würde wahrscheinlich ihre Begeisterung für den großen Künstler etwas abgekühlt, es würde wahrscheinlich denselben Effekt, denselben Ausdruck auf ihrem Gesicht hervorgebracht haben, als wie bei der wirklichen Kassandra, als sie hörte, daß ganz Troja brenne und ihre Mutter Hekuba sei erschlagen vom grausamen Pyrrhos. Das gute Nettchen führte mich in Sen Garten, wo wir uns auf einer Bank niederließen

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*) Diese war früher bei Professor Arents gewefen. Die alte, gute Frau Görres" hatte ihn brieflich auffordern lassen, wenn er einmal ein paar Augenblicke übrig hätte, das arme, verstoßene Nettchen bei Frau Sohlemacher aufzusuchen. Als er es getan, schreibt Schwester Josefine, daß er gegangen, die Armen und Berlaffenen aufzusuchen und zu erfreuen, das sei nicht allein ein gutes Werk, dafür solle er den allerbesten Stuhl im Himmel haben."

und ich ihr vieles von den münchener Freunden erzählen mußte, wogegen sie mir auch ihr Herz ausschüttete. Daß fie früher einen harten Dienst hier in Kapellen im Hause bei der zantsüchtigen Frau S...... gehabt, aber seitdem die arme Frau vom Schlage getroffen und halb den Verstand verloren, habe sie nur noch den beschwerlichen Dienst als Krankenwärterin, und es sei zu wünschen, daß die arme, alte, siebenzigjährige Frau bald von ihren Leiden befreit würde. Und so weiter, und die besten Grüße an Euch alle

Du sowol wie die liebe Phine*) schreibt mir, daß Johanna und meine Maria so brav, fleißig und gut sind, das ist ja herrlich! Das macht mich recht glücklich und froh. Wenn ich nur wüßte, was ich den Kindern, die sich gegen seitig so lieb haben, mitbringen könnte? Morgen werde ich dem Vater das Geld schicken, da es doch noch 10 bis 12 Tage dauern wird, bis ich von hier abreisen kann. Das Bad und besonders das Wassertrinken und noch mehr das Faullenzen bekömmt mir ganz gut, aber ich muß auch gestehen, daß mir zum letzten jezt die Geduld ausgeht. Grüße den guten Guido, und sobald wie ich etwas für sein Hausbuch finde, werde ich es mir merken. Bei Degers war ich noch nicht, komme aber noch hin, wenn ich den Rhein hinabfahre. Solche größeren Partieen find mir bis jetzt wegen der fürchterlichen Hiße vom Arzt untersagt worden. Gestern Abend, wie ich beim Abend effen saß (Suppe mit Kompot, diese Komposition will mir nicht gefallen), in Gesellschaft des Herrn Clemens (der zum Besuch aus Bonn gekommen war) und seiner Frau, seines Bruders und dessen Frau, dann der schon öfter genannte Münchener, bekam ich deinen Brief, woraus ich das Gedicht gleich vorgelesen habe. Obgleich von dem Ehepaar schon gekannt, war es doch für die Andern neu, und es wurden auf das Wol der Familie Görres einige Flaschen Champagner ausgestochen, aber ich habe leider nur an dem Glas genippt. Auch der baierische Minister Fuchs mit der baierischen Kammer um sich ver sammelt, hat große Heiterkeit erregt. Wie ich hier an meinem Schreibtisch size, kann ich zu meinem Fenster hinaus auf die Spazierwege, die um das Kurhaus angelegt sind, hinabblicken, wo die schöne Welt in Sammt und Seide herumstolzirt. Das ist ein Staat, eine Eitel feit, wie es nicht zu sagen ist. Drei, vier mal im Tag wechselt dieses eitle Geschlecht die Gewänder. In der Frühe zum Trinken erscheinen sie im weißen züchtigen Kleide mit koketten Morgenhäubchen und verneigen sich hold und verschämt den Grüßenden. Um die elfte Stunde und mittags bei der Tafel rauschen sie in kostbaren, seidenen Stoffen mit Federn auf den Hüten vorbei und führen hohe Redensarten über Kunst und Wissenschaften im Munde, von denen (einige wenige ausgenommen) fie nichts verstehen. Nachmittags erscheinen sie in etwas leichtfertigerem und bequemerem Anzug, um angenehmer verdauen zu können, und dann ist die beste Zeit, ihnen Angenehmes und Schmeichelhafies sagen zu können. Gegen Abend zeigen sie sich wieder in anderen Gewändern bei Spiel und Tanz, und da sind sie mir am allerwider wärtigsten, wenn sie mit hohlen, gloßenden Augen ihr Geld verlieren. Pfui Teufel! Das ist ein wüstes, aber leider wahres Bild. Aber man muß ihnen auch wieder verzeihen, sie haben keine andern Freuden, sie sind ewig unfruchtbar, ihr Leib ist geschlossen.

*) Kaulbachs jüngste Schwester Josefine.

Des Zeifigs Berzeleid.

Ein Märchen.

Von

M. E. Ssalty k off - Schte drin. Uebersegt aus dem Russischen von Heinrich Johannson.

Ein Kanarienvögelchen ward mit einem Zeifig verniählt, und bei der Hochzeitsfeier ging es hoch her. In dem Magazin „Nüßliches und Angenehmes" kaufte man eine kleine neue Kirche, die Trauung vollzog der gelehrte Dompfaff, Staare sangen die Hochzeitslieder, und eine ganze Abteilung von Bienenfalken war vom Polizeimeister abkommandirt, um auf die Ordnung zu sehen. Aus dem ganzen Walde waren die Vögel zusammengeflogen, um das junge Paar zu betrachten, und auch vornehme Gäste waren zur Genüge erschienen. Der Fink war Hochzeitsmarschall des Bräutigams, die Braut hatte den Sproffer zu ihrem Führer ausersehen. Selbst der Habicht drängte sich dem Kanarienvögelchen als Brautvater auf, aber die Eltern wichen unter einem geschickten Vorwande dieser Ehre aus und luden den tauben Birkhahn dazu ein, denselben, der bereits in sagenhafter Zeit in Anbetracht seiner Hinfälligkeit und Gedächtnisschwäche in den Senat aufgenommen worden. Und das junge Paar und die Eltern und die Gäste, alle waren fröhlich. Der Zeisig schritt in der Vorempfindung der Freuden, welche ihn erwarteten, stolz einher; die Braut ordnete mit dem Schnäbelchen ihre Federn; die Eltern dachten: Gott sei dant, eine Tochter haben wir an den Mann gebracht!" Die Gäste aber freuten sich auf die Berge von Hanffamen, marinirten Mücken, verzuckerten Fliegen, auf alle die Herrlichkeiten, welche sie bei den Neuvermählten in Zukunft vertilgen würden. Nur die prophetische Krähe frächzte ohne Unterlaß: „Es wird nichts Gutes bei dieser Ehe herauskommen, nichts Gutes, nichts Gutes, nichts Gutes!"

Obgleich die Krähe bei den Menschen für dumm gilt, so wiffen doch die Vögel sehr genau, daß sie nie ohne Grund frächzt. Kaum hatte darum die Krähe ihre Stimme erhoben, so rief der Kukuk sogleich: „Ku-ku! diese Prophezeihung geht sicher in Erfüllung!" nach ihm zwitscherten dieselbe Weise: das Kohlmeischen, das Gartenrotschwänzchen, der Waldlaubvogel...

Und

Und alle begannen darauf die Neuvermählten aufmerksamer zu betrachten und sich so manchen Umstand ins Gedächtnis zurückzurufen. Sie gedachten der intimen Geschichte dieser beiden Wesen, die soeben durch. unlösbare Bande mit einander vereinigt worden waren, fie erinnerten sich ihrer Neigungen, Gewohnheiten und Geschmacksrichtung. Und das Ergebnis ihrer Betrachtungen war nachstehendes Charakterbild:

Der Zeifig war ein schlichter, gutmütiger Gefelle, welcher drei wesentliche Eigenschaften besaß: Anspruchslosigkeit, Ordnungsliebe und Sinn für eine gemütliche Häuslichkeit. Obgleich bereits ein älterer Herr, war er gleichwol überzeugt, daß er da, wo es not iut, vollkommen seinen Mann stehen könne. Sein ganzes Leben hindurch war er Beamter in der Intendantur gewesen, hatte sich bis zum Range eines Majors heraufgedient und dort seinen Verstand und sein Herz gebildet. Bestechungsversuchen war er nicht zugänglich die goldene Zeit war vorüber aber durch seine Unparteilichkeit" ge= lang es ihm dennoch, ein kleines Kapital zu erwerben. Einst erhielt er gelegentlich" eine größere Partie Kanariensaat, und da kam ihm zum ersten Mal der Gedanke, ein Kanarienvögelchen zu heiraten und Frau und Kinder mit Kanariensaat zu ernähren. Seine Eltern waren ihm

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gestorben, als er noch ein Gelbschnabel war, geerbt hatte brauche ich nicht zu kaufen, denn Gott giebt mir meine er nichts, und deshalb pflegte er gern damit zu prahlen, Speise zur rechten Zeit. Und wenn ich mir ein Ver| daß er seine solide Stellung im Leben nur sich selbst zu gnügen bereiten will, so ist das auch nicht teuer: ich finge verdanken habe. Er verstand sogar, einen kleinen Napf mein Liedchen und bin zufrieden. Folglich brauche ich mit Wasser zu tragen, ohne daß ihn jemand diese Kunst mir keine Sorgen zu machen, solange es Fliegen, Spinnen, gelehrt. Raupen und ähnliche Nährung giebt und ich noch im Stande bin, auf die Jagd zu gehen. Wenn aber die Kräfte mich verlassen, dann gehts ans Sterben. Was ist dabei so schrecklich? Die übrigen Vögel sind demselben Lose unterworfen." Schon während seiner Dienstzeit schwärmte er für einen häuslichen Heerd, den Samowar, den Schlafrock, das zweischläfrige Bett und die sonstigen Ideale des Familienglücks, welche die Phantasie eines Beamten der Intendantur sich ausführlich auszumalen pflegt. (Was ist ein unverheirateter Zeisig?" erwog er, „ein naturwissenschaftlicher Begriff, weiter nichts.") Nach feiner Verabschiedung aber begann der Gedanke, einé Familie zu gründen, ihn ausschließlich zu beschäftigen. Und siehe da, als er einmal ein goldgelbes Kanarienvögelchen erblickte, legte er Uniformen und Sporen an (die Erlaubnis, beides zu tragen, hatte er beim Abschiede als als Gratifikation" erhalten) und begab sich zu den Eltern seiner Auserwählten, um sich in der Eigenschaft eines Freiers vorzustellen.

So war im Umriß das geistige und sittliche Konterfei| des jungen Ehemanns beschaffen. Besonders anmutende Züge besaß er freilich nicht, aber vom Standpunkte des Gefeßes beurteilt war er ein ganz vortrefflicher Staatsbürger. Auch in seinem Aeußeren war nichts Verführerisches oder Glänzendes zu bemerken; im Gegenteil, seine ganze Erscheinung hatte durchaus das Gepräge des Alltäglichen und Mittelmäßigen. Sogar die Spaßen lachten, wenn er, in der Absicht, einem jungen Mädchen eine Schmeichelei zu sagen, die Falten seines Rockes glättete und das Opfer seiner Liebenswürdigkeit anschielte. Auch was er sagte, war feineswegs interessant: sei es, daß er eine Anekdote aus seinem Beamtenleben erzählte, | oder sich dessen rühmte, daß er auch von der bescheidensten Forderung des Droschkenkutschers noch einen Fünfer abziehe, und, wenn es seine Zeit erlaube, noch lieber zu Fuß gehe.

Und darum,“ schloß er gewöhnlich, „habe ich, Gott sei dank, nicht nur für mich allein genug, sondern ich kann auch eine Familie ernähren."

Solche Aeußerungen gefielen den Eltern außerordent= lich, und sie empfingen ihn alle mit offenen Armen und erdrückten ihn fast durch ihre Liebenswürdigkeit. Aber die unverheirateten Töchter nannten ihn nur „das Scheusal aus der Intendantur" und stoben bei seinem Erscheinen sofort auseinander, obgleich die Mütter ihnen zuriefen: ,,Restez! Er empfand jedoch diese Handlungsweise der jungen Mädchen keineswegs als Beleidigung, sondern beruhigte sogar noch die Eltern, indem er sagte: „Das schadet nichts, daran bin ich gewöhnt. Das ist so Mädchenart. Als ich noch in der Intendantur diente, begegnete ich einmal einer Bachstelze. Ein so reizendes Ding, sage ich Ihnen, daß man die ewige Seligkeit um sie hätte dahingeben mögen. Und anfangs machte auch sie sich stets über mich lustig. „Können wir nicht etwas näher mit einander bekannt werden, Mademoiselle?" fragte ich fie, und sie erwidert: Ach nein, Sie sind zu garstig!" Mit einem Worte, ich war immer hinter ihr her, und fie floh vor mir! Hierher, dorthin... endlich hatte ich fie erwischt! Und was meinen Sie: in der Folge beteté sie mich förmlich an!"

Also solch ein lockerer Zeisig sind Sie, Iwan Iwanowitsch!" scherzten die Eltern; gestehen Sie es nur ein, Sie haben wol auch schon Vaterfreuden kennen gelernt?"

„Genau kann ich das nicht sagen, aber verschwören will ich es nicht. Den Anfechtungen des Fleisches habe ich seiner Zeit allerdings nur selten widerstanden. Ueberhaupt bin ich, was das betrifft, der Meinung, daß nur das Uebermaß unstatthaft sei. Aber warum soll man nicht zu Zeiten sich ein Vergnügen gestatten? Ich verachte auch den Schnaps nicht, sondern ich trinke ihn, aber mit Maß, wenn Grund dazu vorhanden."

Vor kurzer Zeit hatte er den Dienst quittirt. Ich hab' es satt!" pflegte er zu sagen. Seine Bedürfnisse waren bescheiden, und das Kapital, welches ihm der liebe Gott im Dienste bescheert, hatte er sicher angelegt. Die landesüblichen Zinsen genügten ihm vollständig; aber wenn er sein Geld gegen geringere Sicherheit mit entsprechender Erhöhung des Zinsfußes ausliehe, dann wüßte er garnicht, wo er mit seinen Schäßen hin sollte.

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Meine Kleidung habe ich umsonst," pflegte er zu sagen; „sie ist mir von Gott bescheert worden. Was ich esse,

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Zum ersten Mal im Leben durchdrang ein berauschendes Gefühl der Wonne sein Herz, zum ersten Mal stimmte er ein Lied an, ohne falsch zu singen. Die Leidenschaft für das schöne Kanarienvögelchen bemächtigte sich dermaßen aller seiner Sinne, daß er seiner gewöhnlichen Umsicht zuwider es sogar unterließ, Erkundigungen darüber einzuziehen, was für ein Vöglein seine Herzallerliebste sei und ob sie eine Mitgift befize.

Und diese Vorsicht wäre keineswegs überflüssig gewesen, weil die Braut eine Weltdame war und eine vornehme Erziehung genossen hatte. Sie war sehr kokett und putte sich für ihr Leben gern. Sie fang: „Si vous n'avez rien à me dire," flimperte „Le Ruisseau" und langweilte sich, wenn sich keine Kurmacher in ihrer Gesellschaft befanden. Vielleicht besaß sie auch ein gutes Herz, aber sie hatte niemals Zeit, darüber nachzudenken. Bald brachte man neue Façons aus den Magazinen_ins Haus, bald kamen die Junker zu ihrem Bruder zu Gast geflogen. So stets in Anspruch genommen, konnte sie der Ausbildung ihrer guten Gemütsanlagen keine Aufmerksamkeit widmen.

„Erlauben gnädiges Fräulein, Ihr reizendes Füßchen zu küssen?" so umschwärmten sie die Junker. Ach Sie....... nun, ich will so gnädig sein, da, küffen Sie!"

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So ging es alle Tage.

Auch ihre Eltern waren an das Leben und Treiben der großen Welt gewöhnt und empfanden Langeweile, wenn keine Gäste im Hause waren. Der Papa hatte im Kanariengouvernement fünfzehn Jahre hindurch die Stellung eines Adelsmarschalls bekleidet. Er hatte vier Erbschaften durchgebracht und ungefähr vor einem Jahre seine letzte Staatsobligation*) aufgezehrt. Jezt lebte er von Finanzoperationen“ und hatte seine Geschicklichkeit so allseitig ausgebildet, daß er einem Lohnkutscher, öhne zu bezahlen, bei den Passagen zu entwischen wußte.

(Fortsetzung folgt.)

*) Zinstragende Schuldscheine, welche nach Aufhebung der Leibeigenschaft von der Regierung den Gutsbesißern für die den befreiten Bauern zum erblichen Eigentum überlassenen Ländereien ausgestellt wurden.

Die psychologische Erziehung. Zum 50jährigen Todestage Herbarts.

Bon

H. Müller.

Unter den großen Aufgaben des neuen deutschen Reiches steht neben der sozialen Reform die des Erziehungswesens obenan beide in tiefem Zusammen hang. Denn alle gerechtere Verteilung des Besizes hat nur einen Wert, insofern sie als solche empfunden wird, und ob sie das wird, hängt von den empfindenden Seelen ab, von der Richtung ihres Begehrens und ihrer Befriedigungen. Vergebliches Bemühen, durch ein bloßes Hin- und Herschieben äußerer Güter das Glück bewirken zu wollen, das doch nur ein Zustand der Seelen ist! Dringendste Forderung, auf diese bildend zu wirken, daß sie, was das Leben ihnen an Können und Haben bietet, zum eignen Glücke und zum Glück der Mitmenschen | formen! So bereitet allein Pädagogik den Boden, auf dem jede Reform ihre Früchte tragen kann. Wegen dieser ersten und höchsten Aufgabe aber bedarf sie der Kenntnis der Seelen, wie der Künstler sein Material kennen muß; und in der Ausbildung unserer Lehrer ist vielleicht kein schwererer Fehler, als daß sie im Weseni lichen zu philologischen oder naturwissenschaftlichen Gelehrten gebildet werden, statt vor allem zu Psychologen fie lernen die schönsten Stücke, aber nicht das Instrument kennen, das sie wiedergeben soll. Als wäre die mensch | liche Seele eine Tafel, die passiv alles aufnähme, was man in sie schreiben will! Dann freilich würde es genügen, recht viel wichtige und sichere Tatsachen zu wissen und sie einfach vorzutragen; der beste Gelehrte wäre dann der beste Lehrer. Nun aber steht es ganz anders, nun ist die Seele ein lebendes, bewegtes Gebilde, das jedes ihr Entgegengebrachte umformt und es mit eignen Kräften erwirbt, um es zu besitzen. Keine Vorstellung läßt sich in den Kopf des Schülers hineingießen, wie mit dem nürnberger Trichter in ein leeres Gefäß, sondern jede muß er selbsttätig erzeugen, zu jeder kann man ihn nur anregen; und man kann ihn nur anregen, wenn man die Formen und Normen kennt, nach denen der Geist sich bewegt, die Kräfte, mit denen er das Gebotene aufnimmt und in sich weiterbildet, die geistigen Wachs tumsgefeße, die den Inhalt jedes Augenblicks affimiliren oder ausstoßen und von denen jeder Einfluß der Er ziehung erst abhängt. Und so sehr man es prinzipiell leugnen mag: im Ganzen wird die Aufgabe der Schule heute noch mit dem Darbieten des Lehrstoffs, der wissen schaftlichen Tatsachen, für abgeschloffen gehalten, und darum gleichen so viele unsrer Lehrer und Lehrerinnen den Gärtnern, die zwar guten Samen ausstreuen, aber nichts von dem Boden wissen, der diefem allein die Bedingungen der Entwicklung gewähren kann.

Ein Gedenktag Herbaris darf zu solchen Betrach tungen wol anregen; denn er war der Erste und Größte, der die Notwendigkeit erkannte, Pädagogik auf Psychologie zu gründen. Zwar wußte er sehr wol, daß in der Psychologie nicht der lezte Zweck der Pädagogik zu fuchen ist; diesen bestimmen die praktischen Notwendigfeiten des Lebens, die sittlich-sozialen Forderungen. Aber die Mittel und Wege zu ihm, das Verfahren, mit dem das Rohmaterial der jugendlichen Seele zum Kunstwerk zu bilden ist, das giebt uns allein die Seelenkunde an die Hand. Als Mittelpunkt der Pädagogik erscheint Herbart deshalb der Begriff des sittlichen Charakters, nach seinen psychologischen Bedingungen erwogen". Wenn man von einer Wirkung auf Seelen

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spricht, so muß man - dies ist Herbarts Grundüber-. zeugung unser Seelenleben als einen Mechanismus ansehen, in dem jede Bewegung eines Teiles, d. h. einer Vorstellung, nach beständigen Gesezen vor sich. geht, und mit andern verbunden, deren Ursache oder. deren Wirkung ist. So ist es z. B. eine psychologische Regel, daß unsre Vorstellungen nicht in dem Momente ihres Auftauchens ihre größte Stärke haben; sondern es findet ein meistens allerdings sehr schnelles — Wachstum jeder Vorstellung zu ihrem höchsten Bewußtseinsgrade statt, und von diesem sinkt sie wieder herab, sei es, weil die seelische Energie erlahmt, sei es, weil andere Vorstellungen sie verdrängen. Jede Vorstellung geht über die Höhe des Bewußtseins wie über einen Berg, all= mählich aufsteigend, allmählich absteigend. Diese einfache Regel schon hat die wichtigsten pädagogischen Folgen. Wenn einem Schüler das Aufzusagende oder geistig zu Produzirende nur schwer und stockend gelingt, so bedeutet dies, daß der Weg der Vorstellung zu ihrer vollen Bewußtseinshöhe sehr langsam zurückgelegt, oder daß diese überhaupt nicht erreicht wird; die Vorstellung sinkt wieder herab, bevor sie völlig bewußt und klar geworden ist. Daraus folgt, daß der Moment, in dem man dem Schüler einzuhelfen hat, während er sich mit dem Auffagen oder mit der Lösung einer Aufgabe abmüht, keineswegs gleichgültig ist. Denn hilft man ihm zu früh mit demjenigen ein, was eigentlich das Resultat seines eigenen Nachdenkens sein sollte: so überspringt die Entwicklung der Vorstellung denjenigen Weg, den sie noch aus eigner Kraft leisten könnte, die Uebung des Geistes geht verloren, und wo es sich um das Finden einer Vorstellung handelte, wird das Résultat überhaupt nicht gefaßt, wenn die Vorstellung sich nicht vorher bis zu einer gewissen. Höhe entwickelt hatte. Andererseits, ist die Vorstellung wieder im Sinken, ohne den erforderlichen Klarheitsgrad vorher erreicht zu haben, so kommt das Einhelfen zu spät, weil es dann an der Aufmerksamkeit und Fassung für die Vorstellung fehlt, weil die Kraft, sie vorzustellen, ermattet ist und nur mühsam zu der früheren Höhe. gehoben werden kann. Deshalb darf das Nachhelfen nur in dem Augenblick eintreten, wo das Nachdenken des Schülers zu dem höchsten ihm selbst erreichbaren Punkt gelangt, wo also einerseits nur ein Minimum von Nachhülfe erforderlich ist und wo man andrerseits von den Punkten der nicht genügenden Vorbereitung wie von denen des erschlafften Herabsinkens des Vorstellens gleich weit entfernt ist. Hieraus wird sofort klar, wie falsch sowol der ungeduldige wie der selbst nicht völlig aufmerksame Lehrer handeln werden: jener, indem er einhilft, bevor das Vorstellen des Schülers so hoch gestiegen ist, wie es von selbst konnte, der andre,. indem er den Moment dieser Aufgipfelung verpaßt. Andere Erfordernisse ergeben sich, wenn wir diese Regel von dem Verlauf der einzelnen Vorstellung mit der andern, für alles Lernen wichtigsten, kombiniren: daß zwei Vorstellungen, die unmittelbar hintereinander ins Bewußtsein treten, sich verbinden oder verschmelzen, derart, daß einem die zweite einfällt, sobald die erste wieder ins Bewußtsein gerufen wird. Jedes Lernen und Auffagen einer Reihe von Vorstellungen, mögen es nun die Buchstaben des Abc oder die Worte eines Gedichts, oder die Ausnahmen einer Genusregel sein - hängt von diesem Geseze ab; sobald der Anfang eines Gelernten im Bewußtsein ist, rollt die ganze Reihe ab, weil mit der ersten Vorstellung die zweite unmittelbar verbunden ist, mit der zweiten die dritte u. s. w. Darum ist es leicht, Vorstellungen in der Reihenfolge aufzusagen, in der man fie ursprünglich gelernt hat, sehr schwer aber, das 1., 3., 5. und 7. ic. Wort herzusagen weil diese nicht un

mittelbar hintereinander ins Bewußtsein kamen und also nicht unmittelbar assoziirt sind. Nun aber findet die neueintretende zweite Vorstellung die erste nicht mehr auf dem vollen Klarheitsgrade vor, da die höchste Bewußtseinshöhe nicht für mehrere Plaß hat; die erste ist schon im Sinfen begriffen, wenn die zweite bewußt wird, und so ver schmilzt denn diese nur mit einem Reste der ersteren. Hieraus ersteht man ohne weiteres die Wichtigkeit des Lempos, in dem man dem Schüler das zu Lernende mitteilt. Folgen die Vorstellungen zu schnell, so ist das Bewußtsein noch so sehr mit der ersten beschäftigt, daß sie die zweite überhaupt nicht zu dem vollen Klarheitsgrade kommen läßt, bevor die dritte eintritt. Es ist Sann also auch nicht die ganze zweite Vorstellung, die mit der ersten verschmilzt, sondern nur ein Teil ihrer; tritt die erste also wieder ins Bewußtsein, so ruft sie nicht die ganze zweite hervor, sondern nur jenen Teil von ihr; es entsteht nur ein Ansah zur Erinnerung, ein halbes und unsicheres Wiederauftauchen. Dies ist das Bezeichnende für denjenigen, der zu schnell gelernt hat, bei dem sich die Vorstellungen fo rasch folgten, daß keine einzige auf ihre volle Bewußtseinshöhe fam, fondern die Verbindungen ausschließlich an Teilen der Vorstellungen vor sich gingen. Andrerseits, folgten sich die Vorstellungen beim Lernen sehr langsam, so ist die erste schon zu tief untergefunken, ist nur noch mit einem allzufleinen Teil im Bewußtsein; ihre Verbindung mit der neuen Vorstellung wird also gleichsam durch einen allzudünnen Faden geknüpft, der leicht durchreißen und durch sonstige psychische Durchkreuzungen seine Wirkung für die Erinnerung verlieren kann. Die Kunst der Pädagogik beruht zum großen Teil darin, daß man die Vorstellungen, die das geistige Eigentum des Schülers werden sollen, in einer Art und einem Tempo aufein ander folgen läßt, welche die Verbindung denselben möglichst erleichtern. Denn eine unvergleichliche Kraftersparnis und Sicherheit des Behaltens wird dadurch erzielt, daß die Vorstellungen nicht isolirt dastehen und jede eine besondere Anstrengung nötig macht, um ins Bewußtsein gerufen zu werden. Vielmehr muß das Zusammengehörige sich gewissermaßen von selbst reproduziren, die Vorstellungsreihen, durch die ein bestimmter Gegenstand oder ein Gebiet erkannt wird, müssen derart innerlich verbunden sein, daß jede Einzelvorstellung uns sozusagen sofort den ganzen Kompler zur Verfügung stellt. Dadurch erzielen wir bei dem Schüler außer der Erleichterung für das Gedächtnis noch die Weite des Blicks, die ihn nicht an der Einzelheit kleben, sondern diese stets in ihrem Zusammmenhange mit dem Ganzen erblicken läßt. Aber nicht nur das zeitliche Nacheinander folgen bindet die Vorstellungen aneinander; noch wichtiger sind jene Beziehungen, die durch Aehnlichkeit oder Verwantschaft ihres Inhalts gestiftet werden und deren Bedeutung für die Pädagogik Herbart durch seine grundlegende Lehre von der Apperzeption" klar gemacht hat. Das vernünftige Seelenleben nämlich kommt nur so zu Stande, daß jede neu eintretende Vorstellung, ein Sinneneindruck, ein gehörtes Wort nicht isolirt in der Seele stehen bleibt, sondern sofort Anknüpfungen in dem schon vorhandenen Seeleninhalt findet. Immer, wenn wir einen Menschen wiedererkennen, wenn wir die Bedeutung eines Wortes verstehen, wenn wir eine Tat beurteilen, findet eine Erregung schon vorhandener Seeleninhalte durch den neu dazukommenden statt; dieser lettere ordnet sich in die früheren ein, er ruft die irgend wie mit ihm verwanten in das Bewußtsein, wird durch sie gedentet und gewinnt dadurch sein Verhältnis zu ihnen, seine Stellung als Element des Seelenlebens. Hierauf beruht alle Anwendung eines Gelernten. Wenn

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der Knabe eine Blume oder einen Käfer in eine Klaffe der gelernten Systeme einreiht, so wird eben die Vorstellung dieser letteren dadurch erregt, daß die in den Merkmalen damit übereinstimmende Vorstellung jener Einzelwesen in sein Bewußtsein tritt; die ältere Borstellung apperzipirt" die neue und bestimmt sie dadurch als zu ihr gehörig; dies und nichts anderes bedeutet es, daß wir eine Sache erkennen. Jeder Vorstellung kommen gleichsam an der Schwelle des Bewußtseins ihre Verwanten entgegen und nehmen sie in ihre Mitte. Aller Zusammenhang der inneren Welt, wie alles Verstehen der äußeren rüht auf diesem Prozesse. Und nun kann man als das Ziel der Pädagogik geradezu bezeichnen: den Geist des Schülers derart mit Vorstellungen aus. zufüllen, daß beim Eintritt in das Leben jeder neue Eindruck sogleich in der richtigen Weise äpperzipirt. wird, d. H., daß jede Erscheinung die Begriffe und Kategorien vorfindet und ins Bewußtsein ruft, nach denen sie verstanden und beurteilt werden muß. Welche Wichtigkeit die Apperzeption, d. h. die Aufnahme der neuen Vorstellung durch die schon vorhandene, innerhalb der Erziehung selbst besißt, liegt auf der Hand. Der Lehrplan, ja die einzelne Lehrstunde muß so disponirt sein, daß kein neuer Saß dem Schüler dargeboten wird, der nicht seine apperzipirenden Vorstellungsmaffen schon vorfindet, so daß er sich sofort in ein verständliches System von Wahrheiten eingliedert; andernfalls steht der Schüler mit dumpfem Erstaunen der neuen Vorstellung gegenüber, sie wird nicht fruchtbar für ihn, wird nicht von dem geistigen Organismus resorbirt, was man unverdaute Wahrheiten nennt, hier solche, die nicht von dem anders weitigen Inhalt des Geistes apperzipirt, d. h. aufgenommen und in ein bestimmtes Verhältnis zum Ganzen gebracht werden. Auch die Aufmerksamkeit wird nur durch Apperzeption erregt, die neue Vorstellung gleitet vorüber, wenn fie nicht in dem bisherigen Geistesinhalt Anhalts- und Berührungspunkte findet; sie kann nur feffeln“, wenn sie Fäden zu unserm bisherigen Ich besißt, an denen sie dieses au sich heranzieht, anspannt, mitreißt. Ich gebe über diesen Punkt ein Beispiel der Herbart'schen Schreibweije. „Das Aufmerken durch Apperzeption", so schreibt er wörtlich, zeigt sich schon bei kleinen Kindern deutlich, wenn sie in der ihnen noch unverständlichen Rede der Erwachsenen die einzelnen bekannten Worte plötzlich auffaffen und nachlallen. Nicht weit davon ist das Talent zerstreuter Schulknaben, während der Lehrstunden den Augenblick wahrzunehmen, wo ein Geschichtchen erzählt wird; ich erinnere mich an Schulklassen, worin während eines wenig interessanten Unterrichts bei schlaffer Disziplin beständig ein summendes Plaudern zu hören war, das jedesmal eine Pause machte, so lange die Anekdoten dauerten. Wie konnten die Knaben, da sie garnichts zu hören schienen, den Anfang der Erzählung ergreifen? Ohne Zweifel hatten die meisten stets wenigstens etwas von dem Lehrvortrage vernommen; es fehlte aber demselben die Anknüpfung an frühere Kenntnisse und Beschäftigungen. Sobald hingegen alte Vorstellungen erwachten, deren starke Verbindung Reihen hervorzurufen im Begriffe war, mit welchen sich das hinzukommende Neue leicht vereinigte, entstand eine Totalkraft aus Altem und Neuem, wodurch die zerstreuten Gedanken auf die Schwelle des Bewußtseins getrieben wurden.

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Ich glaube, daß diese wenigen Ausblicke doch den Umfang des Gebietes zeigen, auf dem pädagogische Erfolge von psychologischen Kenntnissen bedingt werden und wo die Herbart'schen Theorien über die Gesezmäßigkeit im seelischen Geschehen der Praxis die Wege bereiten können. So müßlich die rastlose Arbeit an der Verbefferung der Lehrpläne unserer Schulen ist sie er

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