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Er kämpft einen langen Kampf mit sich, ob er seiner Neigung nachgeben und es auf sich nehmen soll, die Welt mit Schwindsüchtigen zu bevölkern, oder ob Entsagen hier seine Pflicht ist. Er ist start, und er entsagt. Er geht fort und wirkt in einem kleinen Städtchen still und zurückgezogen als Armenarzt, bis ein linder Frühlingstag ihn die Augen schließen sieht.

Fast dasselbe Problem, das Gerhart Hauptmann in: „Vor Sonnenaufgang" behandelt hat, wenn er es auch nicht so in den Mittelpunkt der Darstellung gerückt hat. Die Erfassung könnte auch bei Redwiß noch tiefer sein. Anstelle des Gefühls der Verantwortlichkeit für die Gesundheit der eigenen Nachkommen, steht noch der Sat: Der Menschheit Höchstes ist die Liebe."

Mit dem Jahre 1877 beginnt der fünfte Akt der Lebenstragödie des Dichters. Da zwang ihn zuerst ein grausames neuralgisches Leiden, das ihn Tag und Nacht folterte, zur Morphiumspriße zu greifen. Und nun béginnt in seinem Leben ein verzweifelter Kampf seines Willens mit der Notwendigkeit und dem Sehnen nach Injektionen, der über dreizehn Jahre gewährt hat. Vor einem Jahre fast einmal der Sucht Herr geworden, mußte er sich ihr doch wieder beugen. Nach seiner eigenen Aussage hatte er in dreizehn Jahren 63 000 Injektionen, periodisch in der Höhe von 11⁄2 gr.

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Das sind die äußeren und inneren Verhältnisse, unter denen 1883 der Gedichtcyklus: „Ein deutsches Ein deutsches Hausbuch", 1884 der Familienroman: Haus Wartenberg" und die Romane Hymen" (1887) und „Glück“ (1889) entstanden. Wer sie kennt, wird nun manches an diesen Werken begreiflich finden. Hellmuth Mielke hat dem Verfasser der Amaranth feine Stätte in der Geschichte des deutschen Romans im 19. Jahrhundert gegeben, und niemand braucht mit ihm darüber zu rechten.

gesucht hatte. Aber auch die Fichtelgebirgsluft brachte ihm keine Linderung. Sein letzter Wunsch ging noch in Erfüllung. Ein verhältnismäßig rascher Tod hat ́ihn erlöst. In München ist er begraben.

Liliencrons neue Lyrik. *)

Von

Otto Juling Bierbaum.

Auch über dem dritten Gedichtbuche des holsteinischen, jezt in München lebenden Poeten, weht das rote Banner der Lebensfreude, und als Trumpfwort könnte ihm ein Ruf voranstehen, der aus dem Gedichtcyklus „Ich war so glücklich“ heraustönt: Leben, hurrah!

Liliencron gehört zu den rechten Herzen, die garnicht umzubringen". So Schweres auf ihm lastet, so mühsam sein Weg ist zwischen den Disteln der Gehässigkeit und den dicken Geheden mangelnden Verständnisses, so sicher und fröhlich geht er dennoch seinen Weg.

Sein neuestes Gedichtbuch ist an Zahl weniger reich, als die vorhergegangenen, aber in der geringeren Zahl überwiegen wie immer die Offenbarungen einer tiefgründigen, ganz eigenen und unvergeßlichen poetischen Schönheit, die doch so wahr und lebendig ist, daß sie hier schier gewöhnlich erscheint, sie, die die seltenste Blüte des menschlichen Geistes ist.

Auch in dieser dritten Gedichtsammlung Liliencrons wird es dem genauen Leser von Zeile zu Zeile klar, daß dieser Dichter nur Erlebtes schildert. Es find erlebte Gedichte. Aber das dichterische Erlebnis besteht nicht, wie die HandgreiflichkeitsRedwig besaß einen starken Schaffenswillen, cine realisten vermeinen, lediglich in dem, was der Poet gesehen, Schreibeenergie, die sich 3. T. vielleicht aus der lebgerochen oder geschmeckt hat, sondern das innerlich Erlebte, die haften Tätigkeit seiner Nerven erklärt. Aber es war Erfahrungen des seelischen Gefühles, die Geschenke des inneren sein Unglück, daß er zu tief im geistigen Mittelalter ge- Blickes, die wahrhaftige Fabelwelt eigenschöpferischer Phantasie: boren war. Solange er sich noch fröhlich auf deffen diese Ausstrahlungen des innersten Lebens, in so greifbarer Pfaden tummelte, schuf er naiv. Von dem Augenblicke Fülle, in so kristallklarer Helligkeit, so blutwarm lebendig daran, wo er gewahr wurde, wie weit er hinter seiner Zeit gestellt, diese sind es in erster Linie, welche den Eindruck des zurück 'sei, war es damit vorbei. Nun begann bei ihm | Erlebten, oder wenn es gestattet ist, das Schlagwort einmal das Halen, ihr nachzukommen. Er hat sie niemals freier anzuwenden, des Realistischen machen. erreicht. Wenn er sich an seinem Ziele befand, war die Zeit schon wieder weiter. Als er endlich dazu kam, den Baterlandssinn zu besingen, waren die Schlachten von 1870 schon geschlagen, und er gehört nicht einmal, wie Geibel und Jordan, zu den Vorfämpfern für das neue Reich. Als schon längst niemand mehr ins Kloster ging, schichte er seinen Helden Odilo noch dahin, und ließ ihn kämpfen mit dem, was bereits überwunden war. die neue deutsche Welt sich großen sozialen und Weltanschauungsfragen zumante, besang er in Romanen das Familienleben.

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Es sind Gedichte in diesem Buche, die man rein naturalistisch nennen kann, doch machen sie nicht die Mehrzahl aus, denn Liliencron liebt es, mitten auf die stets wirklichkeitsgetreue Szenerie seiner Dichtungen einen bald grell zuckenden, bald müd phosphoreszirenden Strahl der Phantastik fallen zu lassen. So entdeckt er auf dem „Waldgang" mitten in einem holsteinischen Gehölz

Sanft eingeschlafen, mit dem Haupt im Schatten,
Den kleinen Gott, der soviel Unheil stiftet."
Aber es ist kein Eros von hellenischem Geblüte, und seine
Stellung ist nicht so, wie wir sie auf Marmorsockeln ge=
wöhnt sind, sondern:

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Und wie das Kind, das seine Weihnachtspuppe

Ins Bettchen nahm, glückselig dann entschlief,
So hielt er fest mit seinen teden Fäustchen,
An seine Brust geschlossen, Pfeil und Bogen."
Oder in dem Gedicht Feudal", nebenbei einer scharfen
Satire auf seine Standesgenossen: Da befinden wir uns an-
fangs mitten unter höchst wirklichen Junkern von heute, so
sonderbar sich diese auch in diesem Heute ausnehmen:

Ihr Sprechen ist etwas absonderlich,
Statt Ja sagen fie Jä.

Ich unterhalte im Kreise mich,

Mit Dellégaard Westensee."

Und nun sind wir mit einem Schlage aus den mittelalterlichen Ueberbleibseln von heute mitten im wahrhaftigen Mittelalter und jagen den Wolf mit dem Burgfräulein:

*) Der Haidegänger und andere Gedichte von Detlev Freiherr von Liliencron. Leipzig, Verlag von Wilhelm Friedrich.

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da locken die schwarzen, herrischen Augen einer schönen Komteß den Dichter bis tiefst in feudale Vergangenheit, und er lebt eine Wolfsjagd mit ihr, er selber feudal bis zum Schauder haften, und die Modernen sind sein höriges Gefolge, keuchend hinter ihm drein, unterworfen der Wahrheitswucht seiner Werke. Es kommt ihm auch nicht darauf an, thm, dem Naturalisten, der nach drafonischer Schlagwortgeseßesauslegung am Staube zu „fleben" hat, uns einmal ganz von diesem Erdball_weg. zuheben, hinauf auf einen schönern Stern", den Aldebaran 3. B., den er so sehr liebt, daß einmal ein ganzer Roman von ihm dazu in Beziehung stehen soll. Freilich die Menschen da oben sind immer noch Erdenmenschen, Liliencronsche Menschen voll heißen, stürmischen Blutes, die lieben und geliebt sein wollen. Aber schön ists da oben, auf dem roten Aldebaran, so schön, wie es hier unten nur manchmal auf Böcklinschen Bildern und in Liliencronschen Gedichten ist. Böcklinsches Traumschauen und Schaffen aus dem Traum zum lebendigsten Leben im Kunstwerk, das ist diesem wunderbaren Dichter (ich meine das Wort ernsthaft) überhaupt häufig eigen. In allen seinen Büchern hat es sich gezeigt: in diesem neuesten Buche ist gerade dieser Wesenszug besonders voll zum Ausdruck gekommen. Neben dem Aldebarangedichten gilt dies hervorragend von dem zauberhaften Phantasiestück Zwei Welten“. Die Verbindung des Realistischen mit dem Phantastischen zu einem Bilde von blendender Tagesglaublichkeit ist da in ungeahnter Fülle gelungen. Nur die Schlußversé mögen es hier beweisen: Das Gitter schwindet, schwand; und eine Landschaft, Von zwanzig Monden violett beschienen, Zeigt sich auf einer fernen, fremden Welt. Die Monde löschen aus. Und Finsternis,

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In matten, geistergelben Farben kommt

Die Dämmerung. Ein schmaler, langgestreckter,

Von schroffen Felsen eingeengter See

Ruht in der Morgenfrühe ohne Laut.

Durch seine Längenrichtung schwimmt der Krake,

Wie eine Riesenschlange, ab und zu

Den Schuppenrücken frümmend fortbewegend;
Kein Plätschern stört die ungeheure Stille.

Das ist der Traum in seinem schnellen Bildverändern, in seiner ganzen atemlosen Stimmung, der Traum mit dem geschlossenen Auge, das ins Schrankenlose einer unendlich reichen Seele blickt und darin Welten entdeckt.

Wie wird man angesichts solcher freiesten großen Künstlerschaft müde der Schlagworte, dieser aufdringlichen, plumpen Hummeln, die sich auf jede junge Blüte sehen, sie leer zu fressen. Ist ihnen der Blütenstaub bei einer zu fein, so fliegen sie entrüstet davon und brummen: Nichts mit der da, sie ist leer. Und merkwürdig: die Mehrzahl der Menschen glaubt den Hummeln und nicht den Blüten.

So ist es mit Liliencron bitter oft geschehen. Entweder hat das Schlagwort ihn einseitig betont, ein Zerrbild von ihm mit plumpen Strichen gezeichnet, oder es hat sich über ihn entrüstet, weil ihm sein Inhalt nicht gemäß war.

Aber es hat sich nun wol ausgeschrieen; selbst die Deutschen, die bekanntlich der Völker gründlichstes zu sein sich berühmen, gehen wol wieder selber an die Blüte und trauen der eigenen Nase. Möchten sie es bei Liliencron tun. Sie befißen einen Schat in ihm, der manchen Mangel an andren Punkten wett macht. Noch fehlt uns der große moderne Epiker, und auch

das moderne Drama ist noch sehr im Werden, wenngleich die Keime frisch und saftig sind: den großen Lyriker aber haben wir, wir besigen ihn in Detlev von Liliencron.

Das Lied und das lyrische Bild: beides ist in ihm. Er ist nicht blos der reiche Erbe unserer Großen, er ist auch ein Geist von Eigenwuchs und selbstschöpferischer, ganz neuer Kraft. Goethisches Erbe finden wir viel in ihm. Man lese die selbsterfundene Legende" von dem Hündchen, das zu dem Heiland kriecht im Garten Gethsemane:

Und der Herr hat mild lächelnd den Trost gespürt,
Und er nimmts und drängts an die Brust gerührt,
Und muß es mit seiner Liebe umfassen,

Die Menschen hatten ihn verlassen.

Und Winternacht". Das ist die Mannesliebe nach Goethes „Generalbeichte", nichts für die Mucker und Dunkelgeister, die das Beste und Ehrlichste, gesunde Natur, unerquicklich machen durch Verschleierung, aber ein Labsal für alle kräftigen Gemüter. Dann aber auch die Zartheit Goethischen Liedertons, die Melodik einer innigen Schlichtheit: „Die Laterne". Wie da der Dichter durch die Nacht geht, ein jungfrisch Blut am Arm, begleitet vom Hans dem tauben Knecht:

Trabt der Alte uns voran,
Treu, wir zwei Verirrten,
Folgen wir wie Lämmer dann,
Lämmer ihrem Hirten.

Wo fich durch den Buchenstand
Eng der Weg gewunden,

Hat sich schleunig Hand in Hand,
Mund zu Mund gefunden.

Finsternis und Waldesruh,
Himmel ohne Sterne.
Ünverdroffen, immerzu
Wandert die Laterne.

Es ist wie das bewegte Bild eines alten holländischen Meisters, voll flackernder Lichter und voll milder, beglückender Wärme:

Scheidegruß am Meilenstein,
Dicht verhüllte Ferne,

Lester Blitz und legter Schein,
Fort ist die Laterne.

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Aber das Neue, in deffen Schönheit wir keinen Anklang an frühere Gaben der deutschen Dichtung finden, überwiegt bei Liliencron. Dies gilt vorzüglich von dem kleinen Cyclus „Ich war so glücklich". Ausflug“ und „Kleine Reise" heißen die beiden Gedichte in willkürlicher Betonung", wie Liliencron diese freleste Art freier Rhythmik bezeichnet. Da wird im Plaudertone ungezwungen erzählt, wie man zu einem lieben Freund spricht, gegenübersißend bei einer Flasche Wein und gutem Essen, Auge in Auge, wo man sich kein Blatt vor den Mund nimmt und sicher ist: der fühlt mit, neidet nichts, vergröbert nichts mit beslissener Scheelsucht, hier giebst du dein Herz aus, hier machst Du aus eigener Freude auch in einem anderen Herzen Vergnügen. Von Metaphysik wird dabei nicht gesprochen und auch nicht von hochhehren Gefühlen“, kurz und gut: da redet ein ehrlicher, fröhlicher, freier, edler Mann zum andern, dem alles schön dünkt, das von schlichter Herzensherkunft ist:

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Am Schlusse des Gedichtes heißt es denn:

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Euch, ihr Götter, bring' ich das Opfer nicht,
Ihr neidischen!

Gelt, ihr möchtet das bischen Glück
Mir gerne nehmen?

Bleibt's g'sund! sagt der Münchner;

Da lur up, sagt der Holsteiner;

Begegnet mir im Mondschein, sage ich.

Das Mädchen lacht und zappelt, zappelt und lacht. Vor uns liegt

Die ruhige, bescheidene,

Schornsteinrauchfriedliche Landschaft.

Vom Heidegänger", dem großen Hauptgedichte der Somm lung, gilt in Zusammenfallung alles, was von den einzelnen Stücken gesagt wurde. Auch in ihm ist die Grundstimmung gemiicht aus Realistik und Phantastik, auch in ihm ist Lied und Bild. Schwach wird Liliencron nur, wo er satirisch sein will. Dazu ist er zu gutmütig, wenngleich ihm auch da manch guter Treffer gelingt. So in den Gesprächen mit dem Staatsanwalt und dem Moralisten. Die Hauptkraft aber liegt hier in der Naturschilderung einesteils und andernteils in den Herzensgeständnissen, diesen stürmisch herausbrechenden, flammenden ,,confessions" eines wahrhaftigen Mannes. müßte das halbe Gedicht abschreiben, wollte ich einen Begriff von dieser Schönheit in der Wahrheit geben, welche erfrischt und erhebt wie ein junger Frühlingstag. Nur die Schlußverse, mit denen das ganze Buch ausklingt, mögen hier stehen. Eine meisterhafte Schlachtschilderung, wie sie so nur Detlev von Liliencron, der ehemalige Offizier, zu schreiben versteht, ist vorangegangen. Der Heidegänger" ist als Hauptmann an der Spiße seiner Kompagnie gefallen. Er spricht zur Heide hanne", in welcher Liliencron seine Liebe zur derben Natur verkörpert hat:

"

Nun lehn' ich mich an deine Brust,
Es verzuckt, es verzittert die Erdenlust.
Versenkt mich hier unters Heidekraut,
Des Menschengezeters brüllt hier kein Laut.

Im Herbst fliegt der Tütvogel, wie hör' ich ihn gerne,
Ueber mein Dunkel im Dämmer der Sterne.
Nachtverschluckt schlaf' ich, nur du kennst mein Grab,
Brich dir einen Erikastrauß von ihm ab.
Dant Mädel dir für deine rohfrische Natur,

Sie roch wie die kraftgährende Ackerflur.
Das hat mich entzückt zu dir gezogen,
Das hab' ich entzückt aus dir gesogen.
Die Sonne sinkt, meine Hünenmale
Feiern Andacht im legten Abendstrahle.

Hanne, hilf mir auf, stüß mich, mein Leben verloht,
Ein Grashälmchen, nichts weiter, rupft sich der Tod;
Du aber bleib immer in deinem Bestand,

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Ich

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des Menschen leicht und bequem geworden. Achte darauf, in welchem Klima, in welchem Lande, in welcher Stellung er lebt, was er ißt und von welchen Eltern er abstammt und du kannst dir den Menschen konstruiren, wie du ein Dreieck konstruiren kannst, wenn dir eine Seite und die anstoßenden Winkel bekannt sind.

Die Lehre war für die kleinen Leute vom gefunden Menschenverstande sehr einleuchtend und beruhigend. Addiren hatten sie in der Schule sehr gut gelernt, und die neue Lehre vom Milieu war nichts weiter wie ein Additionsexempel. Die einzelnen Posten waren die einzelnen Einflüsse, und die Summe dieser Einflüsse war der Mensch. Es fonnte zum Lobe des Maschinentums und zum Preis der Automaten-Epoche nichts Lieblicheres und Einschmeichelnderes erfunden werden.

Als Rückschlag freilich, das muß man anerkennen, war die Lehre vom Milieu sehr heilsam und förderlich. Der Mensch ist frei und wär' er in Ketten geboren, hatte Schiller behauptet, und die ganze vergangene Aera hatte den Menschen als ein abgeschlossenes, unabhängiges Wesen aufgefaßt, dessen physiologische Bewegungserscheinungen, Seele genannt, ein ewiges, abfoluies Selbstsein ausmachten, ganz ohne Rücksicht auf Leib und Materie. Materie. Da war der Mensch ein Wesen für sich, mit den Neigungen zu allen damals erstrebten ewigen und absoluten Tugenden begabt, wenn seine Vorfahren auch sämtlich am Galgen gestorben waren, ein Wesen, das mild und friedfertig sein konnte, auch wenn es unter Räubern aufgewachsen war. Damals konnte man die Verhältnisse, in denen der Mensch lebte, ganz außer Betracht lassen, Mensch und Verhältnisse hatten so wenig Verwantschaft zu einander, wie Gold und Blei chemische Affinität haben. Die Dichter und Historiker dieser Aera rechnen denn auch mit den Menschen wie mit absolut unabhängigen Größen, deren Qualität man hinnehmen muß, ohne zu fragen, wie oder wodurch sie so geworden, wie sie ist. Es fiel niemandem ein, danach zu fragen, welche Einflüsse, welches Milieu auf jemanden gewirkt hatte, man sah auf die Tatsache, nicht auf die Ursachen, auf das Sein, nicht auf das Werden.

Gegen diese Absolutheitsanschauung vom Menschen war die Lehre vom Milien eine gesunde und fortschrittliche Reaktion. Sie zerstörte den Irrtum von der freien Selbstbestimmung des Menschen und befreite uns so von einem falschen Ideale einer überwundenen Zeit.

Aber das pflegt ja stets zu geschehen, und in den können, daß neue Wahrheiten Schroffheit und Gegenlezten Jahren hat man es genug und genau beobachten seßlichkeit lieben. Denn wenn etwas sich als überlebt und schädlich erweist, so dünkt es uns immer, es müsse das Gegenteil, das diametral Entgegengeseßte, Heil und Vorteil bringen. Hatte man gefunden, daß die alten geistigen Werte zu Lüge und Hindernis geworden, so jah man jest leichthin alles, was der menschliche Geist gebildet und geformt hatte, für nichtig und wertlos an, und ehrte und honorirte überhaupt nur noch das grob Materielle. Aehnlich oder ganz gleich wars mit der Lehre vom Milien. Hatte man früher der Umwelt eines Menschen keinen Einfluß auf diesen zugeschrieben, so war jezt die Umwelt alles und der Mensch gar nichts. Die Verhältnisse machten den Menschen; aber daß der Mensch auch die Verhältnisse mache, davon mochte man nichts wissen.

Jezt ist es nun Zeit, daß man die Sache von neuem untersuche. An die absolute Abgeschlossenheit des Menschen von seiner Umgebung glaubt ja jezt niemand mehr, so braucht auch jetzt niemand mehr, um die neue Wahrheit recht schroff und deutlich hervortreten zu lassen, die Abhängigkeit vom Milieu als eine unbedingte hinzustellen.

Freilich die Lehre von dem unbedingten Milieu paßte so trefflich zu der ganzen Anschauungsweise der Gegenwart. In unserer Uebergangszeit, in der, wie immer in Epochen des Uebergangs der Materialismus und Naturalismus seine geistesdumpfe, unwissenschaftlich plebejische Herrschaft ausübt, war die Ueberschäßung des Milieus natürlich und für den gesunden Menschenverstand unwiderstehlich. Wenn Zola den Menschen beim Regen sofort melancholisch und traurig werden läßt, wenn er auf jeden äußeren Impuls eine automatenhafte Bewegung des Menschen erfolgen läßt, so war das recht nach dem Wunsche des naturwissenschaftlichen Zeitalters, das außer der Naturwissenschaft keine andere Wissenschaft kannte, weder Philosophie noch Geschichte.

Der Fehler war, daß man den Menschen den Verhältnissen gegenüber als bloß receptives Wesen ansah. Daß einzelne Faktoren des Milieus unter Umständen gar nicht auf den Menschen wirken, andere dagegen aus schließlich, daß außerdem die verschiedenen Faktoren nicht als Summe wirken, sondern in das Netz geistigen Geschehens eingeflochten, etwas ganz Neues ergeben können, das hat man ganz unberücksichtigt gelaffen. Auf jeden Menschen wird das Milien anders wirken, je nach feiner Eigenart; wessen Eigenart aber so beschaffen ist, daß sie sich mit dem Milieu zu etwas Neuem verbindet, der wird vermittels dieses Neuen wiederum auf das Milien einwirken, er wird die Verhältnisse umgestalten. Die bisherige Lehre vom Milien war für den Durch schnittsmenschen geschaffen, der, wenig individualisirt, geistig inferior, allerdings den Einflüssen des Milicns blind gehorcht. Indessen die hervorragenderen, die geborenen Aristokraten stellen dem Milien ihre Berechnung, ihre Erfindungsgabe, ihre Erfahrung und Vermutung, ihr Glauben und ihr Wissen entgegen, und unter ihrem Willen beugt sich die Umwelt zu ihrem Dienst. Ein Stephenson erfindet die Eisenbahn, und seine Erfindung verändert die ganze Signatur der Erde, der Zeit, der Verhältnisse.

Aber die Verhältnisse bewirkten eben, daß Stephenson die Eisenbahn erfand?" Warum erfand sie gerade Stephenson und kein anderer? Und dann, würde man die Eisenbahn erfunden haben, wenn es keine Menschen gäbe? Würden Esel auf den Gedanken gekommen sein, eine Lokomotive zu bauen?

Mit dem bloßen Einfluß der Verhältnisse ist es also nichts, es kommt auf den Menschen an. Und je entwickelter ein Mensch ist, um so mehr wird er Auswahl halten unter den Eindrücken, die er empfängt, um so mehr wird er alle Einflüsse, die seinen Zwecken zuwider laufen, zurückweisen, er wird das Milieu mit den Waffen seiner Ideale in Schranken halten. Er wird das Milieu überwinden.

Gesetzt, ein Mensch befinde sich in einem Milien, das aus den Größen a, b, c, d, e besteht. Man nimmt nun ganz willkürlich an, daß der Mensch die Summen dieser Größen, also a+b+c+d+e sei. Nichts ist oberflächlicher als diese Meinung. Es ist sehr leicht denkbar, daß z. B. der Einfluß e gar nicht wirkt, weil der Mensch einfach nicht zur Reaktion gegenüber dieser Größe e disponirt ist. Besteht e in lärmendem Geräusch, so ist es sehr leicht möglich, daß dasselbe gar keinen Einfluß ausübt, weil der Mensch, der von diesem lärmenden Geräusch umgeben ist, so gesunde Nerven hat, daß jenes ihn nicht im geringsten stört. Ferner aber, warum sollen die übrigen beeinflussende Größen a, b, c und d gerade als Summe wirken? Warum sollen diese Größen, wenn sie von den menschlichen Sinnen auf genommen werden, keine Veränderung erleiden?

Man kann es sogar ganz gut nachweisen, daß sie Veränderungen erleiden können. Eine bestimmte Menge von Tönen brauchen von uns nicht als eine Reihe von Tönen empfunden zu werden, sondern sie können auch als eine Tongestalt, eine Melodie aufgenommen werden. Daß die Melodie für uns nicht als Summe oder Produkt empfunden wird, das ergiebt sich ganz einfach daraus, daß man die einzelnen Posten (die Löne) nicht willkürlich verstellen kann, während doch sonst die Stellung der Posten ganz gleichgiltig ist. Aus einer bestimmt grrangirten Reihe von Tongrößen braucht also nicht die Summe dieser Größen hervorzugehen, sondern es fauif etwas ganz neues, eben eine Melodie, hervorgehen. Der menschliche Geist empfindet dann diese Töne nicht einzelu, sondern als etwas Einheitliches...

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So ist es auch natürlich, daß der Mensch die Milieueinflüsse a und b nicht als a+b empfindet, sondern daß dieselben in ihm eine Größe m erzeugen, welche fönst nirgends in der Welt vorhanden ist. Daß die Erde rund sei, und wie man ein Schiff zu lenken habe, wußte Kolumbus. Daß er aber seine Kenntnis. seine Erfahrung in den Gedanken umseßte, Ostindien durch eine Seefahrt nach Westen zu erreichen, das hatte er keiner Vererbung, keinem Klima, keinem Milieu zu verdanken. Das war etwas neues, etwas durch seinen individuellen Geist Erzeugtes, eine Idee, welche die Ver hältnisse ganz bedeutend umgestaltete. ··

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Ostindien auf einem neuen Wege zu erreichen fuchte, das Nun werden freilich einige sagen: Aber daß Kolumbus konnte doch nur dadurch gescheheit, daß er Seemann war und daß er sich mit Aftronomie beschäftigte. Der Seealso das Milieu, die in Kolumbus den epochemachenden mannsberuf und die Beschäftigung mit Astronomie find Gedanken hervorriefen. Da antworte ich: Es gab doch damals viele andere Seeleute, die sich auch mit Astronomie beschäftigten, warum kamen fie nicht auf diesen Gedanken? Ich weiß sehr wohl, daß die angegebenen Einflüsse notwendig waren, damit Kolumbus überhaupt auf seinen daß jene diesen Plan hervorriefen. Luft und Nahrung Plan kommen konnte, aber damit ist doch nicht gesagt, find gewiß nötig, damit ein Mensch ein Haus bauen kann, aber Luft und Nahrung bringen doch kein Haus hervor.

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Kurzum man hat bis jetzt ganz außer Betracht gelaffen, daß der Mensch doch eine gewisse Größe repräsentirt, die ihm eigen ist, die, mag fie noch so sehr von allen Seiten beeinflußt sein, doch in ihrem Zusammenhange nicht dasselbe wie die Einflüsse, sondern etwas anders ist. Wie min die Milieueinflüsse a und b die Größe m im Menschen hervorrufen können, so können e und d eine neue Größe n erzeugen, m und n aber ergeben vielleicht eine Größe (Empfindung, Idee, Handlung u. f.w.) 0. War schon m und n etwas neues, so ist jedenfalls o eine Größe, die aus dem bloßen Milieu a, b, c und d ebensowenig zu erklären ist, wie oben das Haus aus Luft und Nahrung.

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Bei hochveranlagten Menschen aber werden sich immer neue Kombinationen ergeben und aus jedem neuen Kombinationskompler neue Kombinationseinheiten, die nie vorher jemand bemerkt, die nie sonst vorhanden waren und auf die vielleicht niemand hätte verfallen können als eben ein einzelner Mensch von der und der bestimmten individuellen Anlage....

Wie sehr also auch der Mensch von dem Milieu beeinflußt sein mag, es bleibt immer noch etwas übrig, was ihm eigen ist, was er sich errungen hat. Je höher nun aber jemand differenzirt ist, um so mehr wird er sich Eigenheiten erwerben, um so mehr werden sich seine Eigenheiten permutationsweise zu neuen Eigenheiten verviel

fältigen, und um so mehr wird er sich von dem Einflusse des Milieus emancipiren, um so mehr wird er das Milieu beeinflussen.

Das kann man sich daher als Ziel vor Augen halten: Das Milien zu überwinden. Und darin steckt eine Forderung, die fast identisch ist mit der: Die Epoche zu überwinden. Denn mit der Ehrfurcht vor dem Milieu hängt jest alles zusammen. Es hängt damit zusammen die pedantische Bewunderung der Dokumentensammlung, die über die Details das große Ganze und Dominirende vergißt, es hängt damit zusammen, die Freude der Rezeptivität, die jeden Eindruck auf sich wirken läßt und wahllos und planlos auf jeden reagirt, und es hängt damit zusammen das Protokollantentum, das überall referirt, schildert, registrirt, was ist", aber niemals zu ahnen, zu forschen, zu erwerben sucht, was sein wird und was sein muß.

Die Ehrfurcht vor dem Milieu hat uns zu biederen Tagelöhnern gemacht, die jahraus jahrein dieselbe Arbeit mit demselben Handwerkszeug verrichten, ohne jemals darüber nachzudenken, ob nicht eine andere Art zu arbeiten, eine Verbesserung des Handwerkszeuges die ganze Mühe und Anstrengung aufheben würde.. Derjenige aber, der sich mit dem gewohnten Hausrat ererbter Denfungsart nicht zufrieden geben und das Leben nach seinen Ideen umgestalten will, der wird als Phantast verschrieen, der sich in das Leben nicht zu schicken weiß, der für die „realen Verhältnisse“ keinen Sinn hat. Wie fann er auch wagen, aus seinem Milieu herauszutreten? Wie kann er wagen, Mensch zu sein und von der menschlichen Fähigkeit, Ideen zu haben und nach Ideen zu handeln, Gebrauch zu machen?

Freilich, welchen Verkeßerungen und Verspottungen auch immer derjenige ausgefeßt ist, der das Milieu umzugestalten sucht, er wird sich, getrieben von der Macht seiner Pläne und seiner Ideen, wol selten durch die Angriffe seiner lieben Mitmenschen abschrecken lassen. Denn Sie ererbte und gewohnte Dummheit der lieben Mit menschen ist gerade das Milien, von dem sich derjenige am ersten emanzipiren muß, der überhaupt daran denkt, sich dem Einfluß des Milieu zu entziehen.

Sicher ist ja allerdings, daß viele das Milieu in einer vollkommen verkehrten Weise umzugestalten versuchen. Aber dann muß man eben die Verkehrtheiten der betreffenden Ideenkombinationen, nach denen jemand die Verhältnisse ändern will, aufzudecken suchen. Dagegen ist es ganz widersinnig, wenn man von vornherein das Streben nach Veränderung des Milieus als Phantasterei, Lebensunerfahrenheit und dergleichen brandmarkt. Es kommt allein darauf an, daß jemand den richtigen Weg zeigt, daß er brauchbare neue Ideen und Entdeckungen zur Umgestaltung der Verhältnisse zur Verfügung hat.

Das scheint mir aber gewiß zu sein, daß die Menschheit, auf eine je höhere Entwicklungsstufe sie gelangt, sich immer mehr und mehr individualifirt, immer mehr und mehr aus dem Zustande des Herdentiertums heraustritt und damit viel größere Unabhängigkeit gegenüber dem Milieu gewinnt. Natürlich wird es troßdem wieder große Geister geben, die die übrigen Menschen um Eifelturmhöhe überragen. Sie sind dann die eigentlichen Milieubrecher, in ihrem Gehirn gestalten sich neue Anregungen zu immer neuen Gedanken, sie lassen das Milien nur insoweit auf sich wirken, als es diesen neuen Gedanken entspricht, und nach ihnen wandeln sie die Verhältnisse um. Die umgewandelten Verhältnisse aber erzeugen im Verein mit den menschlichen Gedanken wieder neue Ideen, und so eröffnet sich uns denn eine

unerschöpfliche Perspektive sich stetig erneuernder Neu heiten.

Dann wird aber die Macht der Ideen gegenüber dem Milieu immer größer, und die Ideen werden auch wieder zu Ansehen gelangen. Die Ideen stehen jezt in Ungunst, und Ideen haben ist jetzt gleichgiltig mit Narr sein. Natürlich, denn es giebt nur alte Ideen, an die man nicht mehr glaubt, und neue Ideen, an die man nicht mehr glauben kann. Der große Führer, der die Menschheit wieder zum Glauben an die Ideen zwingt, ist noch nicht erschienen. Bis dahin muß eben jeder sehen, wie er mit dem Milieu fertig wird. Aber es ist schon viel gewonnen, wenn man sich der sklavischen Ehrfurcht vor dem Milieu zu schämen anfängt und sich wiederum daran erinnert, daß es nicht immer nötig ist, daß die Verhältnisse den Menschen machen. Dann geht man wohl endlich aus der trägen Receptivität zur Produktivität über und sucht die Verhältnisse zu machen, das Milieu zu zwingen und zu kneten. Der Wahlspruch lautet: Nous sommes plus forts que ça!

Richter Lynch.”

Von

Paul Schellhag.

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Die bekannten Vorgänge in New Orleans haben wieder einmal die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß die Lynchjuftiz in den Vereinigten Staaten von Amerika ihre eingestellt hat, so große Fortschritte auch die Befestigung Tätigkeit neben den gefeßlichen Behörden noch keineswegs geordneter Zustände selbst in den entlegneren Staaten und Territorien gemacht hat, ja sie haben gezeigt, daß diese Art strafrechtlicher Selbsthilfe sogar in einer großen Stadt, wo doch an Polizei- und Gerichtsbehörden kein Mangel ist, noch nicht verschwunden ist, sondern gleichsam als eine berechtigte Volksfitte betrachtet wird. Was in Gegenden, wo die öffentliche Ordnung bedroht ist, wo die Behörden fehlen, wo es von Abenteurern und Verbrechern wimmelt, als ein Notbehelf nur gebilligt werden kann, ist denn doch in der größten Stadt der Südstaaten, mit einer Bevölkerung, die nach Hunderttausenden zählt, in einem großen Handels- und Verkehrszentrum eine etwas befremdende Erscheinung, wenngleich man nicht verkennen darf, daß die Rechtspflege vielfach an bedenklichen Mängeln leidet, die nur zu geeignet sind, den öffentlichen Unwillen zu erregen, ganz besonders bei dem leicht erregbaren Volkscharakter in dem füdlichen Teile der Union.

Die Lynchjustiz ist eine bezeichnende Aeußerung der eigentümlichen, auch in den Rechtsgrundsäßen zum Ausdruck fommenden Neigung der englischen und amerikanischen Bevölkerung zur Selbständigkeit des einzelnen, zur Selbsthilfe und zur Emanzipation von der Bevormundung durch Behörden. Das Selfgovernment" ist eine echt englische Erfindung, und ihm entsprießt in der Lynchjustiz eine Art von Self-justice". Es ist falsch, über diese Eigentümlichkeit ohne weiteres den Stab zu brechen; die Chuchjustiz ist in manchen Gegenden und unter besonderen Verhältnissen eine durchaus notwendige und sehr segensreiche Einrichtung gewesen, das einzige Mittel, um ge

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