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Nicht dem raschen blutigen Märtyrertode, den ihre Vorfahren starben, sondern dem langsamen, qualvollen Hinsterben.

Man tut der russischen Regierung Unrecht, wenn man sagt, daß sie die Juden aus Rußland vertreibt. Sie erschwert sogar die Auswanderung, indem sie nur den im Besit von Pässen befindlichen Juden gestattet, das Land zu verlassen und für die Pässe Geld verlangt. Sie treibt die Juden nicht aus, sondern ein, sie drängt fie in einige Städte zusammen, weist ihnen dort dieselben Erwerbszweige an und läßt sie auf diese Weise im Kampfe gegen einander langsam verhungern.

Schon vor der berüchtigten Maigesetzgebung des Grafen Ignatiew im Jahre 1882 war den Juden in Rußland mit gewiffen Ausnahmen verboten, außerhalb eines bestimmten abgegrenzten Niederlassungsgebietes zu wohnen. Das Verdienst, den Plan der langsamen Aus- | hungerung der Juden erfunden zu haben, gebührt dem Ignatiew; seine systematische Ausführung ist indessen neueren Datums. Der Inhalt der Ignatiewschen Maigeseze läßt sich in die kurzen Worte zusammenfassen: „Den Juden ist es verboten, sich ihren Lebensunterhalt zu erwerben." Es wurde innerhalb des jüdischen Niederlaffungsgebietes eine neue Grenze geschäffen, indem den Juden verboten wurde, sich in Dörfern niederzulassen. Landerwerb durch Kauf oder Pacht wurde ihnen gleichfalls versagt. Ignatiew begann sofort mit der energischen Durchführung seiner Gefeße, welche die üblichen _Mißhandlungen und Plünderungen der Juden im Gefolge hatte. Über Ignatiew wurde gestürzt, und die Gefeße gerieten in Vergessenheit. Die Juden glaubten, daß sie abgeschafft seien, denn in Rußland kann man sich nicht so leicht als in Deutschland darüber Gewißheit verschaffen, was Gesetz ist, da die Beamten es meist selbst nicht wissen. Die Geseze bestanden indessen weiter, und die wachsende Macht Pobedonoszews, des Prokurators der heiligen Synode, ließ sie aus der Vergessenheit wieder hervortauchen. Es bedurfte, um den Aushungerungsgedanken Ignatiews zur Durchführung zu bringen, feiner neuen Geseze mehr; die Gouverneure wurden lediglich verständigt, daß jest Ernst gemacht werden müsse. Nun begann Sie Austreibung der Juden aus den Dörfern des Niederlassungsbezirks. Die Juden, welche vor dem Jahre 1882 in den Dörfern gewohnt hatten, dürfen gefeßlich darin wohnen bleiben, aber sie müssen für die Tatsache ihres früheren Wohnfißes einen Nachweis erbringen, und Nachweise zu erbringen ist in Rußland nur sehr reichen Leuten möglich. Außerdem ist der jüdische Dorfbewohner genötigt, beständig in seinem Dorfe zu bleiben. Verläßt er es einmal, dann nimmt man an, daß er seinen Wohnsiz freiwillig aufgegeben hat und läßt ihn nicht mehr zurück.

Bei dieser Gesehauslegung war die regelrechte Vertreibung der Juden aus den Dörfern leichte Arbeit, der sich die höhere und niedere Beamtenwelt mit Vergnügen hingab. Die Juden verloren dabei natürlich ihre sämt liche Habe und wurden zum Ersatz dafür in die Städte gebracht, wo sie zwar eine Menge Glaubensgenossen, aber keine Nahrung und keine Gelegenheit, solche zu verdienen, vorfanden. Als Beispiel mag angeführt werden, daß in der Stadt Tschernikow die jüdische Bevölkerung, die ohnehin zur ärmsten Klaffe gehörte, sich innerhalb 18 Monaten von 5000 auf 20000 Menschen vermehrt hat.

erster Gilde auch außerhalb des Niederlassungsgebiets wohnen. Das Gesez ließ man bestehen und versuchte es mit der Auslegung, jüdische Handwerker dürfen wohnen bleiben; aber was ist ein Handwerker? Der Reihe nach wird Schriftsegern, Bäckern, Schlächtern und Glasern von den einzelnen Distriktsverwaltungen mitgeteilt, daß sie als Handwerker nicht zu betrachten seien und ihre Wohnsize, in denen viele von ihnen über 30 Jahre gelebt hatten, zu verlassen hätten. Am besten werden die Kaufleute erster Gilde behandelt, welche zwar gefeßlich auch vielen Beschränkungen unterworfen, aber an den Verkehr mit der russischen Beamtenwelt gewöhnt sind.

Nach einer oberflächlichen Statistik sind bisher im Ganzen etwa eine und eine halbe Million Juden in die Städte des Niederlassungsgebietes zusammengedrängt worden. Ihr Schicksal ist gewiß. Im verzweifelten Kampfe um ihr Leben werden sie langsam auf die Stufe der Tiere herabsinken, die nur noch das einzige Verlangen kennen, dem andern den lezten Bissen wegzuschnappen; ausgehungert und verkommen werden sie endlich der russischen Regierung den ersehnten Beweis von der Inferorität der jüdischen Raffe liefern. Dann haben sie | ihren Beruf erfüllt ́und dürfen totgeschlagen werden.

Wer ist Rembrandt?")

der Kunstforschung arg gefährlich werden, indem er bei Der sensationslüsterne Band von 470 Seiten kann dem größeren Publikum die Vorstellung von der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts in Verwirrung bringt, in den Kreisen der Gelehrten die junge kunsthistorische Disziplin diskreditirt.

Mit großem Aufwand von Worten, ohne Beibringen Nicht Rembrandt, sondern Ferd. Bol ist der Schöpfer neuen Materials, wird die Behauptung bewiesen": der unter Rembrandts Namen bewunderten Gemälde, Zeichnungen, Radirungen.

Unsere Vorstellung von Rembrandt strömt aus drei Quellen: urkundlichen Nachrichten über die Persönlichkeit wesentlich nur die finanziellen Verhältnisse der Malerei des Meisters, die, zum Teil erst seit kurzem bekannt, beleuchten, dadurch ein schwaches Streiflicht auf seinen Charakter werfen, dann wenigen Bemerkungen zeitgenössischer Autoren über den Menschen und Künstler, die, mit Vorsicht behandelt, über das Verhältnis Rembrandts zu seiner Zeit Aufschlüsse geben, endlich vielen uns erhaltenen Kunstwerken, die des Meisters Namens3g tragen, denen die Kunstkritik unbezeichnete Werke

angereiht hat.

Dieses Material unterwirft M. Lautner einer, scheinBearbeitung, die ihn Widersprüche auffinden läßt, die bar streng wissenschaftlichen, in der Tat unkritischen ihn zu dem überraschenden Ergebnis führt: der aus brandt ist nicht der Schöpfer der ihm bisher zugeteilten Urkunden und zeitgenössischer Beurteilung bekannte RemGemälde; die Signaturen, die auf sehr vielen dieser Arbeiten vorkommen, sind gefälscht. Den Nachweis im einzelnen Fall, daß die Bezeichnung unecht sei, spart sich fprüche die Unechtheit notwendig erscheinen lassen. der Verfasser. Ihm genügt, daß die unlösbaren Wider

Während man so innerhalb des Niederlaffungsbezirks die Städte mit Juden überfüllte, ging man gleichzeitig mit der Säuberung der übrigen Bezirke vor. Geseßlich dürfen Handwerker, Gelehrte, die einen wissenschaftlichen *) Mar Lautner: Wer ist Rembrandt? Grundlagen zu einem Beruf als Aerzte, Lehrer u. s. w. haben und Kaufleute | Neubau der holländischen Kunstgeschichte. Breslau, Kerns Verlag, 1891.

Die Widersprüche sind aber nur in der Einbildung, die Gegenaufstellung, die Ausgaben des Meisters, von Lautners vorhanden. denen wir nicht viel wissen können.

Das Urteil, das einige Schriftsteller des 17. und des 18. Jahrhunderts, Vondel, Pels, Sandrart, Houbraken u. a. über Rembrandt aussprechen, enthält tadelnde Worte. Lautner schließt, ein ungünstiges Urteil könne sich nicht auf die vollkommenen Schöpfungen beziehen, die heut als Werke Rembrandts gelten und folglich sei Rembrandt nicht der Autor dieser vollkommenen Schöpfungen. Diese höchst bedenkliche Schlußfolgerung zieht den Stand punkt der Beurteiler nicht in Betracht. Schon um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts wendet der Zeit geschmack, auch der Geschmack des amsterdamer Publikums, sich zum Weichlichen, zum glatt Eleganten.

Das Nationale, Germanische tritt zurück. Die Verbindung mit der Kunstauffassung der romanischen Völker wird enger. Auf das Vorbild der großen italienischen Meister wird wieder hingewiesen, auf das Vorbild antiker Formensprache. Die Akademieen kommen zu Geltung und Ansehen, damit die Regel, das Lehrbare. Die Kunstübung wird absichtlich, ästhetisirend. Der neue Geschmack mußte über Rembrandt, über den rücksichtslosen Sonderling, der nur der Natur und der eignen Empfindung folgend auf neuen Wegen „irrte", die nie der Fuß eines der italienischen Großmeister betreten hatte, ungünstig oder doch mit unbehaglicher Bewunderung urteilen. Wir können genau verfolgen, wie die bedeutenderen Schüler Rembrandts, z. B. N. Maes, zu Verrätern werden, wie sie den grandiosen, farbengewaltigen Naturalismus ihres Meisters nach und nach dem zahmen Zeitgeschmack anpassen. Lautner stellt sich das Datum der angedeuteten Geschmackswandlung zu spät vor. Auch scheint sein Auge für Stilunterschiede nicht sehr empfindlich zu sein. Bei dem Tod Rembrandts war Lairesse, der typische, zu seiner Zeit hochangesehene Vertreter der neuen Kunst, der Antipode Rembrandts, bereits 29 Jahre alt. Schon 1648 wurde die pariser Akademie gegründet, die in erfolgreicher Propaganda einen antiquisirenden, französischen Stil in halb Europa zu Ansehn brachte. Und wenn nun einige Autoren in der zweiten Hälfte des 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor den vollkommenen" Schöpfungen, die als Rembrandts Werke gelten, ihrem scheuen Mißbehagen Ausdruck gaben, über die regellose Freiheit solcher Formen sprache, die nicht antike Plastik, nicht die großen italienischen Meister zum Muster hatte und die Schönheit der Form vernachlässigte, wenn diese Beurteiler Anstoß nahmen an der rücksichtslosen Kühnheit und Breite des Vortrags, wo ist da ein Widerspruch?

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Uebrigens wie viele, und nicht nur aus dem großen „Publikum", würden auch heute jenes ungünstige Urteil über Rembrandts Kunst bereitwillig unterzeichnen, wenn nicht die Heuchelei des Bildungsphilisteriums bei dem Namen „Rembrandt“ seinen mächtigen Einfluß geltend machte!

Damit erledigt sich zugleich der angeblich unlösbare Widerspruch zwischen der Not, dem finanziellen Unglück, das über Rembrandt hereinbrach, und der heutigen Schäßung seiner Gemälde. Starb nicht Hollands größter Portraitmaler, Franz Hals, in Armút?

Die Berechnungen, die Lautner aufstellt von den Einnahmen, die Rembrandt gehabt hätte aus dem Ertrage der ihm heut zugeteilten Werke die Höhe der Einnahmen soll im Widerspruch stehen zu der urkundlich feststehenden Geldnot des Meisters sind ganz wertlos. Sie fußen auf der unbewiesenen und unbeweisbaren Voraussetzung, jedes Gemälde sei mit vollem Ertrag aus Rembrandts Atelier hervorgegangen. Und dann fehlt

Die Urkunden lassen den Charakter Rembrandts nicht makellos erscheinen. Sein Verhalten in Geldangelegenheiten erscheint zum mindesten zweideutig. Keineswegs aber geben die Urkunden ausreichendes Material zu der unbedingten siitlichen Aburteilung des Meisters, die Lautner mit dem Brustton edler Entrüstung ausspricht, um dann zu folgern, ein solcher Mann kann die „hochethischen" Werke nicht geschaffen haben, die seinen Namen tragen. Der Schluß wäre höchst zweiflhaft, selbst wenn die Prämiffe beffer beglaubigt wäre. Zur Verquickung der ästhetischen und der ethischen Beurteilung neigen gewöhnlich die, denen der Blick für das eigentlich Künstlerische abgeht.

Die angedeuteten Argumente, die den famosen Shakespeare-Bacon-Streit in Erinnerung rufen, genügen dem Verfasser zur negativen Begründung seiner sensationellen These.

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Die positive Begründung der Behauptung aber liefert Lautner dadurch, daß er in den unter Rembrandts Namen bekannten Gemälden mit heißem Bemühen Signaturen Ferdinand Bols entdeckt, latente" Beziehungen Bols. Latente Beziehung"! Eigentlich ist das ein Unding. Ferdinand Bol verfuhr seltsam, da er seine Bilder derart fignirte, daß seine Autorschaft unbekannt blieb, bis das scharfe Auge Lautners das Licht der Welt erlickte. Der Verfaffer veröffentlicht auf einigen Lichtdrucktafeln eine Anzahl der gefundenen Monogramme, oder beffer er veröffentlicht die Stellen, wo er die Monogramme erblickt. Kunsthistoriker, die auf den Ruf der Scharfsichtigkeit halten, werden die latenten Beziehungen wohl sehen. Man erinnert sich des hübschen Märchens von des Kaisers neuen Kleidern, das Andersen erzählt.

Leichten Sinns schleuderte Lautner seine sensationelle Nachricht, J. Bol, nicht Rembrandt, sei der Großmeister der holländischen Malerei, in die Welt. Ganz außer Acht ließ er dabei diejenigen Momente, die für die Frage zuerst in Betracht kämen: die beglaubigten Gemälde und Radirungen Bols. Ein Blick auf sie hätte den Verfasser Aber dann wäre das ganze Buch ungeschrieben geblieben von der Unmöglichkeit seiner Annahme überzeugen können. und Mar Lautner heut kein berühmter Mann. Es ist doch gut, daß er sich die Werke Vols nicht genau angesehen hat.

M. Fr.

Erlebnisse aus den fünfziger Jahren.

Von

Ludwig Pietsch.

Die durch meine Entwürfe zu seinem „Immensee“ angeknüpfte freundschaftliche Verbindung mit Theodor Storm, der schöne Auftrag zur Illustrirung jener Dichtung, im Verein mit dem ganz eignen, wundersamen Reiz meiner winkligen Dachwohnung auf dem Karlsbad und des dazu gehörigen uns zur Mitbenutzung überlassenen großen Gartens, das alles wirkte zusammen, um mich während jenes Sommers von 1856 in eine ganz besonders freudige, hoffnungsvolle, für das Gelingen jeder Arbeit günstige Stimmung

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zu versehen. Der Gedanke an die noch immer nicht ausgeschlossene Möglichkeit einer größeren künstlerischen Zukunft schlich sich wieder in meine Seele und nistete sich mehr und mehr bei mir ein. Durch Storms gute Meinung. der er zuweilen einen fast enthusiastischen Ausdruck gab, wurde dieser Glaube nicht allein genährt und groß gezogen. Andere Erfolge, die ich mit Bildniszeichnungen und Lithographien errang, trugen gleichzeitig dazu bei. Aber während ich gläubig troß meiner zweiunddreißig Jahre mich in solchen Träumen von mir doch vielleicht noch vorbehaltenen, künstlerischen Taten und Siegen wiegte, wurde ich zugleich, fast ummerklich, durch neu eintretende Umstände und Zufälligkeiten nach der anderen Seite, auf das Gebiet der schriftstellerischen Tätigkeit, hinüber gedrängt. Einmal war es ecin jüngerer Landsmann, ein Architekt aus Westpreußen, Fritz Giebe, von dem ein solcher Anstoß oder Druck ausgeübt wurde. Hier seit einigen Jahren lebend und seinem ursprünglichen Beruf untren geworden, saß er zu den Füßen Prince-Smiths, um sich in der allein seligmachenden volkswirtschaftlichen Weisheit belehren zu laffen und zum publizistischen Vorkämpfer seiner Freihandelstheorie auszubilden, was ihm denn auch gelungen ist. Er hatte von dem Herausgeber der Danziger Zeitung, Kafemann, den Auftrag, in Berlin einen Schriftsteller zu gewinnen, der es übernähme, ihm monatlich ein- oder zweimal ein Feuilleton, einen Berliner Brief" für jenes Blatt zu schreiben. Giebe selbst konnte sich nicht dazu entschließen, aber er schlug mir vor, es zu versuchen. Das Honorar war freilich nicht besonders verlockend. Ein Ein ganzer Taler war für jedes Feuilleton ausgesetzt. Troßdem reizte mich die Aufgabe unwiderstehlich. Ich fühlte, daß ich manches auf dem Herzen, manches zu sagen hätte, was die Frucht des eigenen Erlebens, Denkens, Beobachtens war und auch für andre ein Interesse haben könnte. Bisher war mir bei meiner litterarischen Nebentätigkeit, welche fich ausschließlich auf die Texte zu meinen Zeichnungen für die illustrirte Zeitung beschränkt hatte, keine Gelegenheit geworden, das Beste von dem, in Schrift und Druck öffentlich auszusprechen, was mir in Kopf und Herzen schwirrte. In solchen Berliner Briefen" ließ sich das desto leichter tun. Ich nahm den Auftrag an und schrieb denn auch in den Jahren 1857 und 1858 manchen derartigen Beitrag für die Danziger Zeitung, mit dem mir damals noch ganz neuen ungewohnten Bewußtsein, auch durch meine Schreibfeder etwas Geld, sei es auch noch so wenig, zu verdienen. Wie diese Feuilletons den Lesern der genannten Zeitung behagt haben mögen, kann ich nicht beurteilen. Diejenigen mir einst freundlich gesinnt gewesenen Bekannten in meiner lieben schönen alten Vater stadt, welche sich etwa noch auf den, den Namen des Verfaffers dieser Briefe führenden, jungen Danziger befannen, der damals vor sechszehn Jahren nach Berlin gegangen war, um ein Maler zu werden, mochten entweder beide nicht für identisch gehalten, oder andernfalls traurig den Kopf geschüttelt haben angesichts des flaren Beweises, den sie in der Tatsache meiner journalistischen Beschäftigung finden mußten, daß dieser Landsmannn unter die Litteraten gegangen sei, was für ihre Vorstellung sehr wahr scheinlich gleichbedeutend mit gänzlichem Verfall, zu Grunde oder vor die Hunde“ gehen gewesen ist.

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Ich habe die bestimmte Empfindung und Erinnerung, daß jene Erstlings-Feuilletons nicht eben schlechter gewesen sind, als die zahllosen in meinen späteren Jahren geschriebenen, die mir zwanzig und dreißigfach so hoch honorirt wurden. Jedenfalls habe ich sie mit aufrichtiger Liebe und Freude daran geschrieben, auf welche die Honorarfrage nie einen mindernden, herabstimmenden Einfluß zu üben vermocht hat.

Noch von einer ganz anderen Seite her, von der ich

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es sicher am allerwenigsten erwartet hätte, empfing ich ungefähr in derselben Zeit einen zweiten fräftigen Antrieb zur schriftstellerischen Tätigkeit. Dort in der Wohnung auf dem Karlsbade besuchte uns zuweilen ein einst viel genannter, gefürchteter, gehaßter, verläumdeter und bewunderter alter Bekannter aus den vierziger Jahren, Bruno Bauer, der große Philosoph und Evangelienkritiker, dessen Absetzung von seinem philosophisch-theologischen Dozentenlehrstuhl in den ersten Regierungsjahren Friedrich Wilhelms IV das ganze gebildele Deutschland in die heftigste Erregung versezt gehabt hatte und zum Gegenstand und Anlaß jahrelanger leidenschaftlicher ge= lehrter und journalistischer Federkriege geworden war. Von Hause aus ein ernster, fittenstrenger Theologe, ein gelehrter Denker und Forscher von heißem, rücksichtslosem Wahrheitsdrange, wurde er dadurch, daß die Regierung ihm die mit glänzendem Erfolge begonnen gewesene Laufbahn als Universitätslehrer gleichsam zur Strafe seines dieses Wahrheitsdranges verschloß, aus seiner natürlichen Wirksamkeitssphäre herausgeschleudert und verlor mehr und mehr den Boden unter seinen Füßen. Die Frommen im Lande, die pfäffischen Zionswächter eiferten gegen ihn, als ob er der prophezeihte Antichrist oder der böse Feind in eigener Person wäre. Alle übermütigen Tollheiten, welche sein jüngerer Bruder Edgar mit einem Kreise von litterarischen und gelehrten jungen Genoffen, den sogenannten „Freien", während der vormärzlichen Jahre in Berlin trieb, mit der bestimmten, ausgesprochenen Tendenz, die tief verachtete Masse", zu der für sie nicht nur die Regierungspartei, sondern mehr noch das liberalisirende, zaghaft fortschrittliche, lichtfreundliche bezw. christkatholische, für Uhlich, Rouge, Czersky, für Rotteck, den Welker und den Igstein" begeisterte, aufgeklärte Bürgertum zählte möglichst zu ärgern und zu entrüsten, wurden eifrig und geschickt auf das große Schuld- und Sündenregister Brunos gesett, der nichts damit zu schaffen hatte. Seine Welt- und Menschenverachtung steigerte sich mehr und mehr. Er führte das stille und einfache Leben des gänzlich bedürfnislosen Gelehrten weiter und mischte sich nur selten und ungern in den Lärm jener erregten Tage. Wenn es aber einmal ausnahmsweise geschah, so goß er die Schale seines grimmigen Hohnes und Spottes nicht minder reichlich über seine gelehrten zahmen Fürsprecher und über die gemäßigten Reformer in Staat und Kirche, als über die verbissenen, fanatischen Gegner und die im damaligen Preußen und Deutschland herrschenden Mächte aus. Zur Märzrevolution war er in einem ziemlich platonischen Verhältnis geblieben. Vor der durchdringenden Schärfe seines kritischen Blicks konnte der legendarische Glorienschein nicht bestehen, welchen die Volksphantasie und die demokratische Presse um das Haupt der Märzhelden wie der redegewaltigen parlamentarischen Größen, Klub- und Volksversammlung - Wortführer gewoben hatte. Dazu kam der persönliche Widerwille seiner im Innersten vornehmen Natur gegen den Lärm der Gaffe, gegen die Blindheit, Beschränktheit, Rohheit der Maffen. Die Beschäftigung mit dieser, die praktische Demagogenarbeit, überließ er seinem Bruder Edgar, der sich ohne die Spur einer wirklichen revolutionären Begeisterung, eines Glaubens an die Freiheit, an das Volk, als guter Schauspieler nach dem Muster so manches französischen_Revolutionshelden dieser Tätigkeit mit dem Behagen der Durchführung einer effektvollen Rolle hingab. Der Uebernahme eines Abgeordnetenmandates für Berlin oder Frankfurt aber zeigte sich auch Bruno nicht abgeneigt. Er gab seinen Freunden und Bewunderern, die ihn dazu drängten, nach und trat wirklich mit einer Kandidatenrede als Bewerber um ein Mandat in. einzelnen Wahlversammlungen vor die berliner Wähler hin Ich entsinne mich noch deutlich einer solchen

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Versammlung im Konzertsaal des königlichen Schauspiel hauses, in welcher Bruno Bauer seine politischen Anschauungen und Meinungen in seiner klaren, scharf accentuirten, gänzlich unpathetischen, ruhigen Sprechweise entwickelte. Es war dieselbe Versammlung, in welcher auch der unglückliche brave Oberst von Auerswald sprach, dessen Bemühungen um ein Mandat für die frankfurter Paulskirche einen besseren Erfolg als Bauers hatten; einen Erfolg, der für ihn, der ihn errang, zum grauenvollen Verderben werden sollte. Führte er ihn doch zwar auf den erstrebten Abgeordnetensiß, aber auch in die Kugeln und Messer seiner und Fürst Lichnowskis barbarischer Mörder. Das, was Bruno Bauer vor diesen berliner Wählern sprach und wie er es sprach, war gleich wenig nach ihrem Geschmack. Sie vernahmen keine einzige der gewohnten vertrauten Phrasen aus seinem Munde; zu keinem der gestempelten, nach der Schablone gearbeiteten Parteiprogramme inochte er sich bekennen. Natürlich fiel er bei der Wahl durch. Später gelang es ihm wenigstens, sich als Ersatzmann für die berliner Nationalversammlung durchzubringen. Aber er ift nie einberufen worden und hat nie Gelegenheit erhalten, feine Begabung als Parlamentarier und praktischer Bo litiker zu erproben. Der große Krach des revolutionären Aufschwungs im wiener Oktober und im berliner No vember konnte ihm nur geringen Schmerz erwecken. „Kritisch" hatte er selbst schon lange vorher diese ganze deutsche Revolution aufgelöst" und das stehende Heer als „eminent fritische Institution" gefeiert. In seinem Haß und seiner Verachtung der deutschen Masse" verbiß er sich immer mehr und mehr, so daß er allmählich bis zu einer für diesen durchdringenden kritischen Geist doppelt be= Fremdlichen Bewunderung des vermeintlich jugendfrischen und von gesunder Kraft strößenden slavischen, speziell des russischen, Volkstums, gelangte. Er schrieb und veröffent lichte in den ersten fünfziger Jahren noch vor dem Krimkriege, dessen Ausgang eine zermalmende praktische Kritik an Bauers Behauptungen und Prophezeiungen üben sollte, eine sehr merkwürdige Broschüre, die in Berlin ungeheures Aufsehen machte. Sie führte den Titel: „Rußland und das Germanentum" und stellte das Volk des weißen Zaren als das Volk der Zukunft Europas hin,, welches erwählt und bestimmt sei, mit der, im Schlamm der faulenden bürgerlichen Maffe versunkenen, bereits in Verwesung begriffenen Kultur des Westens, wie mit dieser Masse selbst, gründlich aufzuräumen und deren Erbe anzutreten; zunächst in Deutschland. Der hiesige russische Gesante foll fich damals lebhaft nach dem Verfasser erkundigt, ihm in hohem Auftrage glänzende Auerbietungen als Ausdruck des russischen Dankes und der russischen Bewunderung gemacht haben und nicht wenig erstaunt geweseu sein, einen gänzlich bedürfnislosen, deutschen Philosophen, der unter den armseligsten Daseinsbedingungen lebte und arbeitete, ohne den geringsten Wunsch, sie verändert zu sehen, und jede Art des Lohnes, jedes Anerkennungszeichen verachtend zurückwies, in dem Autor zu finden. Aehnliches sollen russische Beauftragte in Deutschland weder vor noch nach diesem Fall Bauer bei verwanten Anläffen und Gelegenheiten jemals erfahren und zu be= richten gehabt haben. Diese Broschüre aber mag damals die Annäherung Wagners (des KreuzzeitungsWagner") an den einst so verlästerten, verfolgten, ausgestoßenen Kritiker der Evangelien herbeigeführt haben. Die „absolute Kritif" fonnte überall in der Publizistik zweckdienlich verwendet werden, zumal wenn sie sich mit so umfassendem, stupendem, gelehrtem, staats-, sozialund wirtschaftspolitischem Wissen verband, wie hinter dieser mächtigen Stirn. So ließ sich Bruno Bauer bewegen, in die Redaktion des von Wagner unternommenen Staatsund Gesellschafts-Lerifons einzutreten und persönlich Artikel

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in großer Zahl dafür zu schreiben. Es ging sogar das Gerücht, daß er an der Kreuzzeitung" selbst mitarbeite. Das entrüstete Gerede der Liberalen über sein angebliches Renegatentum, seine Verleugnung der Sache der Freiheit würde ihn freilich nicht davon zurückgeschreckt haben, es zu tun.

Wiener Theaterbrief. 1890-91.

Von

Gustav Schwarzkopf.

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Die abgelaufene Theatersaison stand unter dem Zeichen Ibsens. Diese Behauptung, die sich in einem Bericht über das wiener Theaterleben verblüffend und unwahrscheinlich genug unsere beiden Schauspielhäuser, das Burg- und das Volks ausnimmt, wird äußerlich begründet durch die Tatsache, daß theater, je zwei Stücke Jbsens zur Darstellung brachten, daß man diesen Aufführungen mit Neugierde und regem Interesse entgegenjah. Daß sie eine lebhaftere Bewegung hervorriefen als irgend eines der anderen theatralischen Ereignisse. Wenn das aber nicht genügt, wenn andauernde Erfolge und nachhaltige Wirkung erforderlich sind, um diese Behauptung zu rechtfertigen, dann steht sie allerdings auf schwachen Füßen. Repertoirstüßen sind die Dramen Jbsens bis jeßt nicht ge= worden, haben, wie es scheint, auch keine Aussicht es zu werden. Ziffern sprechen da am deutlichsten. Ein Volksfeind" hat es zu elf Aufführungen gebracht, die durchaus nicht vor ausverkauften Häusern stattfanden, die nur ermöglicht wurden, daß man Sonn- und Feiertage und zur letzten Borstellung die Anwesenheit des Dichters zu Hilfe nahm, „Die Kronprätendenten" wurden siebenmal gegeben, nach derselben Anzahl von Vorstellungen mußten im Volkstheater die Gespenster" abgesezt werden, und „Die Wildente", in der Mittermurzer sein Gastiptel eröffnete, kam nicht über vier Aufführungen hinaus. Weitere Kreise sind also nicht berührt worden; die Teilnahme des großen Publikums ist ausgeblieben, mußte wol ausbleiben, da die Besucher der ersten Vorstellungen in ihren Berichten an Bekannte nicht viel Enthusiasmus verbraucht haben dürften. Interessant war es, die Haltung dieses Premièren - Bublifums zu beobachten. Diese Herrschaften, die doch sonst die geräuschvollen Liebesbezeigungen eifriger Freunde, das Toben der Claque gutmütig und geduldig über sich ergehen lassen, sie erhoben diesmal energisch Protest, als die Beifallskundgebungen der kleinen Jbsen-Gemeinde allzu laut wurden. Wie mußten fie empört sein, wie tief mußten sie sich verlegt fühlen, wenn fie fich so weit aufrafften zu zischen. Und es wurde tapfer gezischt in den ersten Vorstellungen der Gespenster" und der Wildente". Eine gemischte Gesellschaft, diese Zischer: Junge und ältere Herren, die unentwegt das Banner des Idealismus hochhalten", die sich die Sonne nicht verdunkeln", die „Lebensfreude nicht vergällen" laffen wollen, die nur in der Pflege des Schönen" die Aufgabe der Kunst sehen; unverbesserliche Optimisten, welche hartnäckig dabei bleiben, daß derlei häßliche Dinge sich überhaupt nie ereignet haben, oder gar nicht möglich sind; naiv Entrüstete und Prüde, die Deutlichkeit nicht vertragen können; Litteraten, die sich in der Ausübung des Handwerks bedroht sehen, wenn der Geschmack für die neue Richtung allgemein würde; endlich die große Masse derjenigen, die im Theater sizen um zu verdauen, die unterhalten, gerührt, gefißelt, aber nicht zum Denken gezwungen sein wollen, die es als Eingriff in ihr Selbstbestimmungsrecht empfinden, wenn der Eindruck eines Schauspiels über die Theaterstunden hinaus währte, wenn sie auch noch beim Souper durch unangenehme Erinnerungen belästigt werden.

Und dieser Gesellschaft gegenüber die kleine Jbsen-Gemeinde, bestehend aus jungen Leuten, die bedingungslos begeistert und fest entschlossen sind, erschüttert, überwältigt, hingerissen zu werden, aus den um einige Nuancen ruhigeren Verehrern und Bewunderern des Dichters, die den Triumph der neuen Kunst

von ganzem Herzen wünschen, die nichts Besseres verlangen als neuerdings und in verstärktem Maß dem Zauber zu unterliegen, der sie beim Lesen der Dichtungen ergriff und gefangen hielt. Die Stimmung dieser ist wol am besten geeignet, den Eindruck wiederzugeben, welche hier Jbsens Dramen von der Bühne herab machten. Wer sich nicht selbst belügen will, wer Kraft genug hat, sich eine schmerzliche Enttäuschung zuzugestehen, der wird auch zugeben müssen, daß die erhoffte, ersehnte Wir kung sich nicht einstellen wollte, daß sie oft genug ganz versagte. Woran liegt dies nur. Die Kunst der Schauspieler, die Hilfsmittel der scenischen Darstellung, sie müßten das, was schon bei der Lektüre ergreift und erschüttert, doch noch zu stärkerer Geltung bringen; warum tragen sie nur dazu bei, es abzuschwächen, den Goldglanz zu verwischen? Warum erscheint uns die unübertreffliche Charakteristik der Personen, an denen wir beim Lesen feinen Zug zu viel und keinen zu wenig finden, auf dem Theater als überdeutlich, absichtlich und verwirrend, warum flingen Aussprüche, deren Wahrheit, Gedankentiefe und Bedeutung wir bei der Lektüre bewundernd anerkennen, im Munde des Schauspielers gewagt, paradox, verlegend, oft sogar fomisch, warum berührt die Natürlichkeit des Dialogs, die Fülle der den Lebensäußerungen abgelauschten Details, die uns früher so inniges Behagen erweckt haben, nun auf einmal als über flüssig, breit, ermüdend? Es mag sein, daß die Schauspieler Es mag sein, daß die Schauspieler den neuen Aufgaben noch nicht völlig gewachsen sind, daß das Publikum für das Verständnis der neuen Kunst noch nicht genügend geschult ist, daß wir uns noch zu stark im Banne des Alten, Ueberlieferten, Konventionellen befinden. Alles dies zum Teil zugegeben, aber es erklärt noch immer nicht genügend das oft gänzliche Versagen der Wirkung, es erklärt nicht die Tatsache, daß die Dramen Jbsens „Die Etüßen der Gesellschaft" ausgenommen nirgends festen Fuß zu fassen vermochten, daß die Werke seiner talentvollen deutschen Nach= empfinder nur litterarisch gewürdigt werden, aber das Theater nicht erobern können.

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Man findet schließlich nur die Erklärung, daß gerade die Kunst des Schauspielers, das grelle Lampenlicht, die scenischen Hilfsmittel der Darstellung dem Realismus feindlich sein müssen, daß das Theater selbst sich sträubt gegen die peinliche Lebenstreue, gegen die absolute Naturwahrheit. Das Theater mit seinen eigenen Gesegen, die wol eine Deutung, Auslegung, Erweiterung zulassen, aber in ihren Grundzügen doch respektirt sein wollen. Das Theater mit seinem Anspruch auf eine fort schreitende, energisch geführte Handlung, mit seinen Forderungen nach Knappheit, Konzentration, das Theater, welches strenge verlangt, daß alles Ueberflüssige, Zufällige und sei es noch so wahr, so geistreich, so bezeichnend vermieden werde, das selbst das Wesentliche, Notwendige nur im Extrakt duldet. Das Theater, welches sich willig dazu hergiebt, wenn der Versuch gemacht wird, wirkliche Menschen sprechen und handeln zu laffen an Stelle der Puppen, die so lange ihr Unwesen ge= trieben haben, wenn man die verbrauchten, unmöglichen, verlogenen Situationen durch mögliche, dem wirklichen Leben ent= nommenen Vorgänge erseßen will; das aber eigensinnig seine Mitwirkung verjagt, wenn es mit dem Rüstzeug des Novellisten erobert werden soll, wenn es Vorgänge verfinnlichen soll, die wol unzweifelhaft wahr sind, aber nur durch eine ausführliche Motivirung, durch eine verwickelte Vorgeschichte verständlich und wirksam sein können, wenn es Menschen beherbergen soll, die jeden Sag dazu benüßen, sich in geisivollster Weise psychologisch zu erflären oder von Anderen kommentiren zu lassen. Das Theater, das, unbarmherzig wie ein Geldgeber oder eine verwöhnte hübsche Frau, verlangt, daß man seine Bedingungen acceptire, daß man ihm Konzessionen mache, das sich seine Lebensbedingungen, jeine Tricks und kleinen Hilfsmittel: die Steigerung und absichtliche Verzögerung, die Spannung und die kleinen Uebertreibungeu, die grellen Farben und die Einseitigkeit, das fünstliche, für den jeweiligen Bedarf berechnete Arrangement der Wirklichkeit, die vorbereiteten Effekte nicht rauben lassen will.

In den wenigen Stücken der neuen Richtung, die wirklich gefallen und sich mit Erfolg behauptet haben, ist diesen Forde rungen des Theaters auch mehr oder weniger Rechnung getragen worden. Die Stüßen der Gesellschaft" machen bei aller Lebenswahrheit nicht unbedeutende Konzessionen, arbeiten ziemlich stark mit alten Theatermittelchen; „Das vierte Gebot",

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so unerbittlich, so wahr, so konsequent bis zur Grausamkeit, ist doch im besten Sinne theatralisch, d. h. den Forderungen des Theaters entsprechend, und die vorzüglichen Hinterhausscenen der Ehre" zeigen bei aller Schärfe und Richtigkeit der Beobachtung, bei aller Treue doch auch nur eine arrangirte Lebenswahrheit, die sich beispielsweise darin kundgiebt, daß die Vorgänge im Hause Heinecke, die sich sowol im Leben wie bet Gerhart Hauptmann nur ratenweise, in sehr vielen Scenen und unter zahlreichen Wiederholungen abspielen würden, uns in rascher unmittelbarer Aufeinanderfolge, in größter Knappheit, in wolberechneter Steigerung vorgeführt werden.

Man muß also unter aufrichtigstem Bedauern zur Ueberzeugung gelangen, daß das Theater nicht mehr an Realismus verträgt, als der freundschaftliche Verkehr an Wahrheit; ein Etwas, das nur in der Absicht ganz echt, in der Ausführung aber verkleidet, gemäßigt, umgemodelt, eingeschränkt, überfirnißt ist, sein muß; daß der Realismus des Theaters, d. h. der= jenige, der wirken soll, immer ein wenig seinen Dekorationen, seinen Gobelins, Bronzen, Statuen, Bildern, Nippes wird gleichen müssen, in deren Herstellung man es ja bis zur vollkommensten Täuschung, bis zum Schein der Echtheit gebracht hat, die aber doch nur in großen, groben Umrissen, in grellen Farben, mit absichtlicher Vernachlässigung aller Details angefertigt werden müssen. Psychologische Regungen, Wandlungen, die in einem unterdrückten Lächeln", in einem Ausruf, einem fast unmerklichen Wechsel des Tons, in ciner halben Be= wegung ihren Ausdruck finden und das Verständnis für das Folgende vermitteln sollen, sie werden schon in den Mittelreihen des Parquets nicht bemerkt, sie fönnen von der großen Menge nicht verstanden und gewürdigt werden, so wenig wie die zarten Nuancen eines Gobelins, dic feingeäderte Zeichnung eines Blattes, einer Blume, die sorgfältig ausgeführten Relieffiguren einer Kassette aus größerer Entfernung gewürdigt oder auch nur gesehen werden könnten.

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Wenn der hie und da gewagte Ausspruch: „das Theater der Zukunft wird realistisch bis zur äußersten Ronsequenz oder es wird gar nicht sein" wirklich Sinn und Begründung hat, dann ist sehr zu fürchten, daß das Theater gar nicht sein“ wird. Oder daß dieses ganz realistische Theater nur für einen sehr kleinen Kreis, für eine geistige Aristokratie bestehen wird; denn es ist nicht abzusehen, wann die große Masse, die im Theater doch nur Zerstreuung sucht und nie etwas anderes suchen wird, die nicht vorbereitet ist, für die das Blühen und die Entwickelung der Litteratur durchaus nicht die Bedeutung einer Lebensfrage hat, so weit erzogen und geschult sein wird, um sich aus rätselhaften Andeutungen, die hie und da durch= sickern, mühsam eine Vorgeschichte zu konstruiren, um freiwillig und freudig auf alles zu verzichten, was das Theater fordert, was sie vom Theater zu erwarten, zu verlangen gewohnt sind.

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Das Theater der Zukunft, wenn es voraussichtlich auch nur gemäßigt realistisch sein dürfte, wird aber dem historischen Drama wol noch weniger Raum gewähren, als die Bühne von heute. Daß Vorliebe und Aufnahmefähigkeit hiefür immer mehr abhanden kommen, fonnte man bei der Aufnahme der „Kronprätendenten" wieder deutlich bemerken. Wenn auch diese Kronprätendenten als Werk eines Dichters sich von den landesüblichen historischen Dramen sehr unterscheiden, wenn auch die Gestalten wenigstens die der Männer von Ibsen mit menschlichen Gesichtern versehen, mit dem reichsten Gedankeninhalt erfüllt wurden, sie muten uns doch fremd an, vermögen nicht sich menschliche Teilnahme zu erzwingen. Eine ganz merkwürdige Bearbeitung“, die sich darauf beschränkte, den Rotstift spazieren zu führen und ihn hie und da ganz willfürlich Halt machen zu lassen, die Unmögliches, Unpassendes zusammenzogso spielte sich z. B. die große Scene zwischen tule und Hakon, in welcher dieser den großen Kriegsgedanken", die Erklärung der zweiten Hälfte des Stückes_ausspricht, so ganz en passant vor der Leiche des Bischofs ab -, die Wesentliches strich und alles Ueberflüssige, Ermüdende stehen ließ, sie mag wol einiges dazu beigetragen haben, die mögliche Wirkung abzuschwächen. Auf Darstellung, Scentrung, Ausstattung der Kronprätendenten" hat das Burgtheater übrigens viel Mühe und Arbeit verwendet, die sich freilich nur in einzelnen schauspielerischen Leistungen und in einigen Dekorationen zur Geltung brachte. Es wurde überhaupt fleißig gearbeitet im Burgtheater - das mußten bei einiger Unpartei=

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