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Rom ein.

Tod des Tiberius" einen poetischen Niederschlag ge- | vielleicht nicht ohne Einfluß auf Wilbrands freilich wertfunden. Der Wunsch, das Land seiner Helden nun auch vollere Novelle „Narziß" gewesen. mit Augen zu schauen, führte ihn im Frühjahr 1852 Künstlerische Anschauung des Seienden und geschichtzum ersten Male nach Italien. Er reiste als Schriftliche Erfassung des Gewordenen verweben sich fortan in steller, mit der Feder das Erschaute und Erlebte fest Gregorovins' Werken, namentlich in der Geschichte Roms. haltend. Von Livorno aus besucht er Elba, weckt die Erinnerungen an Napoleon und scheidet nicht ohne eine heit werden mit der Lokalschilderung verknüpft. Die Steine Ein ungeheures Wissen und eine bewundernswerte Belesenpathetische Anklage an das männermordende Jahrhundert. reden. Nichts ist bezeichnender als jene Stelle in der Er durchwandert Corsica, das Land der Blutrache, das ihn mit seiner wilden Romantik, seiner Sagen- und Lieder Schilderung des Ghetto, wo er mit starker Uebertreibung doch nur halb im Scherz bemerkt, ein Scharfblickender poesie, dem eigenartigen Charakter seiner Bewohner den Sommer über festhält. Erst am 2. Oktober trifft er in möchte wol aus den Flicken der Kleider verkaufenden Juden die Geschichte sämtlicher Moden von Herodes bis auf den Erfinder des Paletots herstellen können. Es ist nicht zu leugnen, daß mitunter die Lust am Erzählen des Zusammengelesenen so überwiegt, daß der Leser durch all die anekdotenhaften Züge von dem Gegenstand des Hauptinteresses abgezogen wird. Selbst bei der Schilderung aus dem deutsch-französischen Kriege „Fünf Tage vor Met" gedenkt er im Anblick der belagerten Stadt des römischen Dichters Ausonius, der einst die Mosella befungen, Veronas, römischer Truppen in Asien und Afrika, Karls V. u. s. w. Und auch in der bewunderten und bewundernswerten Schilderung Capris drängen sich die historischen Reminiszenzen etwas zu stark hervor. Land und Leute, Meer und Luft und Licht, Vegetation und Gefels dünfen uns hier bei weitem interessanter als verblaßte Erinnerungen an den scheußlichen „Timberio“ und seine Kreaturen, die wir uns allenfalls als düstern Hintergrund gefallen lassen, um davon dies zauberhafte Felseneiland im unfagbar blauen Meer, vogelheimisch und sonnengewohnt" fich desto heller abheben zu sehen. Und doch besteht gerade in der Verwertung dieser Fülle historischer Einzelheiten, anekdotenhafter Züge als Hintergrund Gregorovins' beste Kraft.

Rom bot damals einen andern Anblick als heute. Das mittelalterliche Element war in mancher Beziehung lebendiger, das Altertum nicht wie heut zu einer Ärt gespenstigen Lebens erweckt. Kolosseum und Forum waren von Epheu überwuchert, von einer Fülle wildwachsender Blumen umrankt. Die heutige Säuberung der Ruinen vom Pflanzenwuchs hat Gregorovius scharf getadelt urd ist den dabei waltenden wissenschaftlichen Zielen vielleicht nicht ganz gerecht geworden. Doch ist es zweifellos, daß der poetische Eindruck der Stadt gegen früher viel von seinem Zauber verloren hat: Il y a dans les grandes ruines comme dans les grandes infortunes une poésie qui ne vent pas être touchée.

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Diese Poesie ergriff den poetisch empfänglichen Geist des Mannes mit voller Lebhaftigkeit. Er dürftete nach aufregenden, erhabenen und rührenden Momenten. Zu gleich appellirten diese Ruinen unmittelbar an seine ge= schichtsphilosophische Bildung. Die Vergangenheit wirkte hier fort und fort als ein aufgehobenes Moment im Segelschen Sinne, ausgelebt und doch lebend, gewaltig predigend von der Vergänglichkeit alles Irdischen und von der Unsterblichkeit alles Lebendigen. Es sind die 'beiden Elemente, auf denen die Wirkung der ewigen Roma überhaupt beruht und die hier eigenartig zusammentrafen und in diesem Geiste zeugend fortwirften. Es ist ein sehr bezeichnendes und wertvolles Selbstbekenntnis, das Gregorovins dem Redakteur der „Cronaca Romana" gegenüber getan hat: „Wenn ich etwa dreißig Jahre später nach Rom gekommen wäre, so hätte ich schwerlich die monumen talen Inspirationen empfangen können, die für mich nötig waren, um die Idee der Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter zu faffen".

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Er vollendete in Rom seine Beschreibung Korsikas, schickte ihr eine Geschichte der Korser voraus und gab das Werk 1853 in zwei Bänden heraus. Zu gleicher Zeit beginnen die Lokalstudien zur Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter" und insbesondere zu jener vortrefflichen Skizze Der Ghetto und die Juden in Rom". Sie schildert die Geschichte jenes alten Winkels am Porticus der Octavia und demi Tiber von den Tagen, wo die Kinder Israel unter Pompejus hier ihren Ein zug halten bis auf die Zeit, in der ein liberaler Papst die Mauern niederreißt, die sie von der übrigen Welt trennen und ein Römerweib voll Verwunderung und tiefster Verachtung ausruft: „Sie sind jeßt wie wir „Sie sind jest wie wir Christen". Die Schrift über Die Grabdenkmäler der Päpste", 1855 und 56 entstanden, ist dann eine Art Orientirungsgang durch das ganze Gebiet der mittelalterlichen Geschichte Roms; es sind „Marksteine der Geschichte des Papsttums". Daneben werden die Wanderungen und die Wanderbilder fortgesetzt; aber die dichterische Tätigkeit findet in dem anmutigen kleinen Idyll Euphorion" (1858) ihren Abschluß. Er schildert das Geschic eines jungen Bildhauers aus den letten Tagen von Pompeji und ist, selbst durch) Bulwer beeinflußt,

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Der erste Band der Geschichte Roms erschien 1859, der achte und leßte 1872. Gregorovins erfaßte seine Aufgabe mit all dem Pathos, dessen er fähig war. Der Stit der ersten Bände hat nicht selten etwas Rhetorisches, doch eher im guten Sinne als im schlechten, manchmal an die Grenze streifend, später etwas ruhiger. Sein Gegenstand und die Empfindungen, die es zur Gewohnheit werden läßt, geben seinem Stil eine gewisse „klassische“ Breite; die nervöse Kürze des modernen Stils ist ihm fremd, ungewohnt die lapidarische. Er giebt gern bei größeren Wendepunkten dem Leser Rechenschaft über das, was er tun will und warum. Er sieht die Geschehnisse mit den Augen des Poeten und liebt es fast zu sehr, die Geschichte mit der Tragödie zu vergleichen oder von der Ironie des Schicksals zu sprechen. Er nimmt auch persönlich Anteil an seinen Helden und prüft lobend und tadelnd ihr Tun, nicht so auf den moralischen als den ästhetischen Wert. Kaiser Heinrich IV. wird darum hart, ja ungerecht beurteilt, Gregor VII. (der voll Pathos, aber nichts desto weniger unglücklich mit Napoleon verglichen wird) verherrlicht. Gregor ist der Träger einer weltgeschichtlichen Idee. Denn jene phantafievolle Anteilnahme wird zugleich bestimmt und gemildert durch die geschichtsphilosophische Auffassung. Wir werden gern und oft an die Gesetzmäßigkeit all dieses ungeheueren Wandels erinnert: die Formen ändern sich, aber die Ideen bleiben wirksam:

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Roms nicht unbemerkt bleiben kann, auch wenn sie sich nicht gerade aufdrängt.

Es ist jene Kunst, den Hintergrund zu zeichnen, die die Charaktere scharf hervortreten läßt, weniger direkte Charakteristik. Das zeigt sich noch deutlicher in den Manographien, die an das Hauptwerk anknüpfen. Lucrezia Borgia, der er 1874 ein zweibändiges Werk widmete, wird wol von einem guten Teil der Vorwürfe befreit, die ihr die Nachwelt augeheftet; aber eigentlich schildert das Werk mehr ihre Umgebung: die Familie der Borgia, der Sforza, der Este, der Rovere und eine Fülle kleinerer. Wie anders verfährt etwa David Friedrich Strauß, an den sonst manches erinnert. Aehnliches giltvon,,Urban VIII.", dessen Kampf mit dem hartnäckigen Gasparo Borgia fich scharf heraushebt, und von „Athenaïs", der Biographie jener Philosophentochter, die im 5. Jahrhundert als Endofia den Thron von Byzanz bestieg und den Uebergang der heidnischen in die christliche Zeit markirt. Man muß aber zugestehen, daß namentlich für das letzte Werk das biographische Material nur spärlich vorhanden war.

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Die Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter" ist Gregorovius' Hauptwerk nicht blos dem Umfang nach. Sie hat das Verdienst, das Jutereffe für die romantische Zeit in der klassischen Start in gewiffem Sinne erst ge= schaffen zu haben.

Es war eine wolverdiente Ehre, daß ihn die ewige Stadt Rom, in der er einen guten Teil seines Lebens zugebracht, 1876 zu ihrem Ehrenbürger, die Akademien S. Luca in Rom und die der Wissenschaften zu München zu ihren Mitgliedern ernannten. Eine größere Gunst gewährte ihn das Schicksal: den Abschluß jener Periode Roms zu erleben, deren ruhmvollsten Abschnitt sein Werk schilderte, der päpstlichen, und das in einem Augenblick, wo er sich aufchickte, sein Werk zu beschließen.

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Es war ihm beschieden, den Genuß seiner Lebensarbeit ausschöpfend, am Schlusse seines Lebens jenem größeren Wert ein kleineres über Athen im Mittelalter an die Seite zu stellen, nachdem er im Frühjahr 1880 diese Stadt zum ersten Mal besucht hatte. Die erwähnte Biographie der Athenaïs-Eudokia, deren Wurzeln in der Geschichte Roms liegen und ein Auffah über Athen in den dunklen Jahrhunderten" bilden die Vorstudien, denen sich ein neues Wanderbild „Korfu“, ein liebliches Bild von der alten Phäakeninsel und en Gegenstück zu „Capri" aureiht. So darf man sagen, daß ein reiches Leben voll und ganz ausgelebt wurde. Der kleinen Dichtung Euphorion" leßter Gesang ist überschrieben Thanatos und Eirene". Thanatos und Eirene dürfen fich auch am Ausgang dieses siebenzigjährigen Lebens die Hände reichen.

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Das Grund-Ideal der neuen Ethik.

Von

Curt Grottewitz.

Die neuen Wahrheiten haben gewöhnlich etwas außer ordentlich Abstoßendes, zum mindesten aber Furcht erregendes. Da man sich an die alten Regeln, unter denen man so lange gelebt, gewöhnt und sie erträglich gefunden, vielleicht gar lieb gewonnen hat, so betrachtet man das Neue mit Argwohn als etwas Fremdes, Befremdendes,

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| Verdächtiges, Drohendes, Feindliches. Wenn dieses Neue sich nun aber auf das ethische Gebiet erstreckt, dann liebt man es, mit sittlicher Entrüstung, das heißt, mit der durch Verlegung der alten Sittlichkeit hervorgerufenen Erregung das Verdammungsurteil auszusprechen.

Und doch ist es klar, daß die Revolution, die der alten Ethik seit einigen Jahren droht, durch das à basSchreien der alten Weltära nicht im geringsten aufgehalten werden wird. Schon das bloße Auftreten einer neuen Ethik muß der alten, die auf absolutistischen Dogmen auf erbaut war und als ewig und unveränderlich nicht einmal den Gedanken einer anderen Ethik ertragen kann, den Todesstoß geben. Giebt es eine neue Ethik, dann fällt die Absolutheit, Ewigkeit, Unveränderlichkeit der alten und also diese selbst, und die Relativität, das oberste Abzeichen der neuen Ethik, hat damit den Sieg davon getragen.

Relativität ist das Kennzeichen der neuen Ethif; indessen diese Eigenschaft derselben betrifft mehr die Form, sie besagt nur im allgemeinen, daß jede ethische Anschauung von dem Werturicil, von der persönlichen Schätzung des einzelnen abhängig und daß das Werturteil durch lokale und temporale Beeinflussungs-Miliens bestimmt ist. Allein die neue Ethik unterscheidet sich von der alten nicht nur durch die Bedingungen ihrer Geltung, sondern auch durch ihren Inhalt, das heißt, die sittlichen Ideale, die sie auffstellt.

Am meisten und für jedermann klarsten offenbart sich die neue Sittlichkeii durch ihr oberstes Ideal, ihr Grundideal, wie ich es nennen will, weil auf demselben alle anderen Ideale und Sittenregeln aufgebaut sind und aus demselben sich herleiten lassen.

Das Grundideal der alten Weltära war das: Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst. Der erste Teil dieses Ideals, der im gegebenen Falle eines Widerstreits der Pflichten die Menschen dem jeweiligen Gotte zu opfern befiehlt, ist natürlich jest vollständig gegenstandslos geworden. An dem zweiten Teile des Grundideals, du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, halten indessen noch jetzt auch diejenigen fest, welche den Aberglauben an Götter längst aufgegeben haben. Die Nächstenliebe, fie gilt jetzt noch fast allen Philosophen, felbst denen, welche unter Darwins Einflusse die Relativität der Ethik als ihr Prinzip erkannt haben, als Grundideal. Es bleibt der neuen Entwicklungs-Ethik vorbehalten, dieses Grundideal der Nächstenliebe als veraltet, thöricht und schädlich zu kennzeichnen.

Die neue Ethik bekämpft dieses alte Grundideál indeffen nicht nur negativ, sondern besonders positiv dadurch, daß sie ihm ihr eigenes Grundideal entgegenstellt. Das selbe aber besteht in der vollpersönlichen Höherentwicklung der Menschenfamilie, d. i. in der physisch-geistigen Höherzüchtung der zoologischen Species Mensch".

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Das Wohl der Menschheit freilich hat vielen als erste Großmacht bei ihrem sittlichen Handeln gegolten, die Hu manitätsbestrebungen des vorigen Jahrhunderts zielen darauf ab, und auch die neuesten Strömungen, soweit sie nicht noch nach antikem oder romantischem Muster die Patriotismus-Sittlichkeit pflegen, haben die Gesamtmenschheit zum Objekt des ethischen Handelns gemacht.

Indeffen es kommt sehr darauf an, auf welche Weise man das Wohl der Menschheit fördern will. Einstmals in den ältesten Zeiten legte man auf geistige Höherent wicklung nicht den mindesten Wert, man würde damals das Wohl der Menschheit dadurch zu fördern gesucht haben, daß man die Menschen zu Riesen und Recken zu machen sich bestrebt hätte. Auch die jüdisch-christliche Aera wollte in gewiffer Weise das Wohl der Menschheit. Aber abgesehen davon, daß ihr Gott das erste Objekt ihres fittlichen Gefühls und die Menschheit erst das zweite war

so unterließ man doch, das physische Wohl der Menschheit | zu erstreben. Man hielt ja das Fleisch, den Körper als etwas Untergeordnetes, oft Gleichgiltiges, in den meisten Fällen Hemmendes, Verächtliches, „Böses“. Es galt Seelen“ zu gewinnen, der Leib konnte zu grunde gehen. Aber überhaupt richtete man den Sinn weniger auf die gesamte Menschheit, als auf den Nächsten. Denn ihn zu lieben, das ward ja als großes Verdienst angerechnet.

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Die neue Ethik will ebenfalls das Wohl der Mensch heit fördern. Dabei bevorzugt sie weder die physische, noch die geistige Seite zu Ungunsten der einen oder der anderen. Da Geist und Leib so wenig von einander zu trennen find wie die Drehungserscheinungen eines Rades von diesem selbst, so betrachtet die neue Ethik den Menschen als physischgeistiges Wesen ein Begriff, für den wir leider noch kein bezeichnendes Wort haben, für welchen ich hier Vollperson (Adjektivum: vollpersönlich) sehen will.

Die neue Ethik hat daher als Ziel das Wohl der Gesamtheit von Vollpersonen im Auge oder besser gesagt: das vollpersönliche Wohl der Gesamt-Menschheit. Indeffen auch damit ist das Grundideal derselben noch nicht vollständig bezeichnet. Die alte Welt hat gewisse Urbilder von Menschen und Menschheit und bemühte sich die letzteren nach jenen zu bilden oder zu ihnen zurückzuführen. Ein paradiesisches Sein oder ein rousseauischer Naturzustand schwebte dabei als Muster vor. Erst die darwinischen Entdeckungen haben derartige Träumereien ein für allemal zerstört. Sie haben gezeigt, daß alle Dinge nicht von einem vollkommenen Urzustande entartet sind, sondern daß sie sich aus unscheinbarer Schwäche und Mangelhaftigketi allmählich feiner und feiner differenzirt, allmählich höher und höher entwickelt haben. Die Entwicklung ist es also, der alle Wefen unterworfen sind, und es ist daher Unkenntnis, von einem vormaligen Glückszustande jener zu träumen. Aber es ist überhaupt unberechtigt, ein Idealbild von Menschheit für alle Zeiten aufzustellen, da dieselbe sich immer weiter entwickelt. Die Weiterentwicklung selbst muß das Streben werden. Darum darf die Menschheit in der Entwicklung nicht aufgehalten werden, es darf niemals Stillstand eintreten; denn ein solcher erzeugt Stagnation, Schwächung und Niedergang. Und das positive Ziel ist Höherentwicklung vollpersönliche Höherentwicklung der Menschenfamilie ist das Grundideal der neuen Ethik.

Dieses moderne Grundideal ist nun aber nicht immer zu verwirklichen, ohne daß dasjenige der Nächstenliebe verlegt wird. Die Pflege des Kranken und Schwachen, als des der Nächstenliebe am meisten Bedürftigen, ist die Folge dieser Nächstenliebe-Religion. Die Sorge für das Untaugliche und Kräufliche aber wird fünftighin in dem Grade unterlassen werden müssen, als sie sich der gefunden Höherentwicklung der Menschheit hinderlich in den Weg stellt. Man wird zwar niemanden mehr verhungern lassen, aber es ist ein Vergehen gegen die moderne Sittlichkeit, wenn man aus Nächstenliebe diejenigen Personen, welche die Raffe schänden, welche gebrechlich oder erblich belastet oder sonst irgendwie untauglich sind, künstlich Existenzbedingungen verschafft, welche ebenso günstig oder günstiger find als diejenigen, unter denen raffenüßliche Individuen stehen. Vor allen Dingen aber wird die neue Sittlichkeit die Aufopferung des einzelnen für den anderen im all gemeinen verwerfen. Denn gerade dadurch, daß jeder für sich selbst eintritt und auf den anderen keine Rücksicht nimmt, wird derjenige, der am stärksten ist und dasjenige, das am bedeutendsten ist, siegen. Zwar auf gewiffe Ge biete wird sich der Kampf nicht mehr erstrecken und die Bedeutung der künstlichen Zuchtwahl, durch welche Menschen zu gemeinsamen und und gegenseitigen Handeln sich verbinden, wird gewiß von der neuen Ethik nicht unterschäßt werden (s. des Verf. Die künstl. Zuchtwahl des Menschen",

Fr. Bühne, II. Jahrg. Heft 3). Aber es wird darauf ankommen, die künstliche Zuchtwahl da nicht eintreten zu lassen oder falls sie schon besteht, da aufzuheben, wo durch Konkurrenz des einzelnen mit dem anderen dem modernen Ideal eher entsprochen wird. Das sittliche Ideal der Nächstenliebe ist jedoch eine solche künstliche Zuchtwahl, die der persönlichen Höherentwicklung der Menschheit ungeheuer geschadet hat und noch schadet. Sie ist schuld daran, daß das Schwache, Geistesarme, Niedere, Glanzlose, Bescheidene als gut gefeiert und gezüchtet worden ist.

Dem gegenüber wird die moderne Ethik nach nietzscheschem Vorbild alles letztere als schlecht verachten und dasjenige als gut, als Tugend bezeichnen, schätzen, pflegen, was dazu beiträgt, die Menschheit geistig und physisch höher zu entwickeln. So wird im Gegensatz zu früher das Selbstbewußte, Kraftbewußte, Schaffensfrohe, Energische, Lebensübersprudelnde einen hohen sittlichen Wert bekommen, Kampflust, Schaffenslust, Lebensluft werden hohes Ansehen erlangen, Selbstlosigkeit, Geduld, Langmut, Demut, Ergebenheit, Aufopferung werden ihre Bedeutung mehr und mehr verlieren.

Es wird nun die weitere Aufgabe der Ethik sein, die einzelnen ethischen Säße, die sich aus dem modernen Grundideal ergeben, aufzustellen. Es ist dies eine Aufgabe, die natürlich nicht einfach ist und die wohl kaum jemals zu aller Zufriedenheit gelöst werden wird. Wenn man auch in dem Grundideal einig ist, so wird man doch in den einzelnen Fragen oft verschiedener Meinung sein, und wenn eine Frage endgültig gelöst ist, so werden neue Fragen auftauchen. Denn das Verhältnis der Menschen zu einander wird immer komplizirter, und jede nene Komplikation ruft nene sittlichen Regeln hervor. Indessen der Grundzug dieser neuen Ethik wird jedenfalls ungeheuer lange derselbe sein; aller Voraussicht nach beginnt jett eine nene, sittliche Aera, die länger dauern wird als die antike oder die jüdisch-christliche gedauert hat. Denn die jebige Ethik baut zum Unterschiede von den bisherigen ihr Grundideal nicht auf ein absolutes Dogma, sondern auf empirische Erkenntnis. Ja, es ist möglich, daß die beginnende Aera der cmpirischen Erkenntnis solange dauert wie es überhaupt Menschen giebt. Es müßten denn die Menschen einmal die Möglichkeit gewinnen, die Schranken ihrer Vernunft zu zersprengen und mit dem Ding an sich ohne die trübende Vermittlung der bisherigen Anschauungsformen und Verstandesbegriffe in Beziehung zu treten; erst dann würde eine in ihrem Grundwesen von der jezt beginnenden verschiedene Weltära, eine Aera der transzendenten Erkenntnis anheben. Indeffen die Möglichkeit dieser Aera ist noch nicht erwiesen, und wir brauchen uns darum vor der Hand nicht zu bekümmern. Es genügt, wenn wir der beginnenden Weltära nach allen Seiten hin zur praktischen Durchführung verhelfen, und nach der ethischen Seite hin ist dieses Grundideal die für jezt maßgebende Forderung. Es berücksichtigt alle Menschen, und es berücksichtigt den Menschen in seiner vollen Person; die Höherentwicklung aber ist eine Forderung, die nicht so leicht veraltet, denn das liegt in dem Begriff. So lange also die Menschheit nicht einmal der Höherentwicklung überdrüffig wird, solange sie sich nicht einmal nach Auflösung sehnt, solange wird wohl auch das Grundideal der nenen Ethik bestehen: die vollpersönliche Höherentwicklung der Menschenfamilie.

Die Töchter Miltons.

Von

Dilliers de l'Isle-Adam.*)

Das junge Mädchen öffnete plößlich die Augenlider ein wenig, und ohne durch eine andere Bewegung ihre Stellung zu verändern, blickte sie aus ihren mit sanfter aber ausge= sprochener Melancholie erfüllten Augen starr vor sich hin; dann mit matter Stimme:

„Meine Mutter, wenn ein Mann kraftlos wird und sein Geist erlahmt, wenn er halsstarrig und unlenksam geworden, wenn er nicht mehr im Stande ist, den Seinen oder sich zu nüßen, wenn seine greisenhafte Eitelkeit, deren Selbstgefälligkeit die Vorübergehenden zum Lachen bringt, sich mehr und mehr dem Anfang einer zweiten Kindheit zu nähern scheint, ist es dann strafbar zu Gott zu flehen, daß er ihm Barmherzigkeit erweise . . . . die Barmherzigkeit, ihn sobald als möglich von hier fortzunehmen, empor zum Licht... zum ewigen Leben?!...."

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Die alte Frau wante mit einem Schauder ihren Kopf ab, aber sie antwortete nicht. Mir kommen wahrhaftig ganz gefährliche Gedanken!" fuhr Deborah Milton fort mit der gleichen weichen, klaren, schleppenden Stimme, und es wird mir manchmal schwer, mich davon zurückzuhalten, von hier zu entfliehen um dann bald wiederzukommen und dir Hülfe zu bringen, meine Mutter! Dir Brod und Feuer anzubieten. Was tuts, welchen Preis ich dafür bezahlt haben würde!"

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„Schweige. Das verhüte Gott! Das ewige Seelenheil durch Glauben und durch Prüfungen zu gewinnen juchen und niemals zu murren gegen das Schicksal; das ists, was man tun muß!,,

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Aber.... ich bin zwanzig Jahre alt! Das vergissest du vielleicht, meine Mutter."

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Morgen!.... Du wirst jo alt werden wie ich. Dann wirst du schon sehen .... wenn du dort angelangt bist." "Heute Abend ist nicht morgen."

„Schweige.“ Pause.

„Du bist schön. Du heiratest noch eines Tages einen jungen Edelmann.... hoffe nur, meine Tochter." Bei diesen Worten erhob sich Deborah Milton mit kalter, strenger Miene und blieb so stehen.

„Einen jungen Edelmann! Ah, ich will nicht lachen zwischen diesen blutroten Mauern! Welcher Edelmann würde wol die Tochter eines jämmerlichen, brodlosen, alten Verse schmieds zur Frau nehmen, der für den Tod seines Königs gestimmt hat? Ich hoffe noch nicht einmal auf einen . . . . armen Geistlichen, denn auch diesen würde die Furcht vor der Mißbilligung des niedrigsten Untertanen von Charles II. von mir abwenden...

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Dein Vater hat nach der Stimme seines Gewissens ge= handelt und seine Pflicht getan.

*) Wir veröffentlichen obige nachgelassene Skizze des kürzlich verstorbenen Villiers de l'Isle-Adam, der von der Schule der Mysticiens als Altershaupt verehrt wurde. In so tiefe Schleier sich die Mystik Villiers hüllte, so war er doch immer noch klarer, als seine jugendlich überspannten Nachfolger. Wenigstens schrieb er doch noch das altbekannte Französisch, während diese eine neue Sprache zu ihrem kindlichen Privatgebrauch erfanden.

Daher erscheint es uns immer noch, um von der Schreibweise der Mysticiens eine Probe zu geben, am besten, dem alten Villiers das Wort zu erteilen, zumal die obenstehende nachgelassene Skizze ganz im Schulsinne seiner jungen Freunde gehalten ist.

D. R.

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Es ist auch, ist auch schrecklich, alles das! Immerwährend diese Träume!.... Die Götter!.... Engel, Dämonen, welche Aehnlichkeit mit Wolkengebilden haben! Und der Ton, in dem sie reden, alle aufgepugt mit dem Geflingel ihrer tönenden Reime, läßt einen an der Wirklichkeit zweifeln, die sie darstellen sollen: Da schweigt sie, die bewegende Wirklichteit. Es verlohnte sich wahrlich blind zu werden, um in der ewigen Dunkelheit in einem fort nur hohle Fantome vorüberziehen zu sehen. Der Glaube verneint sich in einer zu abgerundeten Phrase, die die Aufmerksamkeit auf sich selber lenkt und den Geist von dem, was sie ausdrücken will, abzieht. Man sagt: „ich glaube“ und es ist genug. Aber den Himmel malen und die Hölle! Und das irdische Paradies! Und die Geschichte des unglücklichen Menschenpaares, von dem wir alle abstammen! unerträgliches Geflingel von leeren Worten! Hohles Schaffen! Und da müssen wir, meine Schwester und ich, uns vorspannen zu dieser Arbeit! stumm dasigen und die unsinnigsten Reden niederschreiben! manchmal eine Stunde lang warten müssen auf die Verse, die dann oft sogleich wieder ausgestrichen werden.... Und wenn wir über dem Papier einschlafen und dann wieder erwachen, nüchtern, hungrig dann gehts weiter mit der Feder und dem Gekrißel - und wieder und immer wieder Schwarzes auf Weißes seßen . . . . und so unsere Jugend vernichten . . . . vergeuden . . . . während es dort unten in London gutes Unterkommen giebt, reichbeseßte Tische und schöne junge Männer. ... die uns mit Freuden willkommen heißen würden!"

Sie schwieg.

....

„Das sind böse Gedanken! Du mußt dich fügen."

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Worte, Worte! Du hast Hunger, ich habe Hunger!... Das ist die Wahrheit."

„Auch er hat Hunger, aber er beklagt sich nicht, und sein Leiden wird noch dadurch vergrößert, daß er euch in Not weiß, die er verschuldet hat."

„Bah! Er hat zwei Dinge, die ihn sättigen: den Stolz und den Glauben! Die Dichter sind Wesen, welche eine müßige Zerstreuung zum Lebenszweck nehmen, ihrer Umgebung und der Leiden, welche diesen daraus erwachsen, nicht achtend! Sie berührt nichts! Sie leben in ihren Träumen! Eitelkeit. Wenn man bedenkt, daß er sich einbildet, dieses verlorene Paradies" wird in der Nachwelt noch fortleben, diese beherrschen! Lächerlich! Der Buchhändler wird nicht so viel dafür zahlen, wie das Papier dazu gekostet hat. Wir werden bald in Lumpen sein, aber er ist ja blind und ist auf seine Verse stolz, nicht auf seine Töchter! Und wütend genug, um uns zu schlagen! Nein: es ist zu viel, ich gehorche nicht länger!....."

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Du redest, wie er reden würde, wenn er dächte, wie du. Aber er gehört zu jenen Männern, die das, was du soeben sagtest, belächeln würden."

„Diese würden dann nichts weiter sein als Lügner; das allein würde mich der Notwendigkeit, sie zu überzeugen, entheben, ebenso wie unter ihrem Tadel zu leiden, oder stolz auf ihr Lob zu sein. Man sieht sie an.... sie sind vernichtet.... und es ist fertig."

Ich denke, wir könnten am Ende von Mr. Lindson etwas Geld borgen, wie wenig es auch sei. Wir haben von ihm bis jezt noch nie etwas verlangt."

Ja wol, ich glaube, er sucht schon nach einem Vorwande, um uns nicht mehr zu grüßen, und wagte es doch nicht, diese Feigheit zu begehen, ohne einen guten Grund. Er wird uns etwas geben, überzeugt davon, daß er es niemals zurückerhält, und dies Bewußtsein wird ihn ermächtigen, uns von nun an nicht mehr zu kennen. Aber du hast Recht. Willst du, daß ich gehe? Allein oder mit dir? Uns nicht mehr kennen? Dieses Recht wird er sich gerne erkaufen ich denke sechs Schilling.

Die Alte blickte zum Fenster hinaus.

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„Da geht soeben Mr. Lindson .... man könnte doch viel

leicht....."

„Ich gehe."

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"Ja, mein Freund" sagte die alte Frau. Deborah zuckte die Achseln, Emma lächelte.

...

...

„Vorwärts also, aber schreibt leserlich, oder ich Vor allem ändert nicht die Worte, die mir kommen und hört nicht auf mit Schreiben, bevor ich eine Pause mache.. Ihr habt die Manie, mir Worte einzuflüstern, die mir gut erscheinen, wenn ihr sie sagt, weil sie mich überraschen. ... Die aber ganz hohl und inhaltlos klingen, wenn ihr sie mir nachher vorlest!... Das Wort, welches für sich allein stehend nicht passend er= scheint, ist im Zusammenhang oft das richtigste, denn in Wirklichkeit giebt es keine Worte: Der einzig wahre Dichter ist derjenige, der seinen Gedanken nur großartig herausbellen kann, manchmal ihn heulen... oftmals ihn donnern ... Aber man vernimmt ihn nur im Sturmesbrausen .. Um so schlimmer für die, welche die Sprache jenes Landes nicht verstehen, aus welchem der Hauch der Ewigkeit meine Verse durchweht.

Und um dann das Schnurren der Verse wieder wegzubringen, die Bilder, die Ausdrücke, die gedrechselten Wendungen, die Bewegung des Gedankens, das geht wie nichts, fast von selbst, ohne daß man es weiß! Und mit ein wenig Ge=

Emma tritt ein, mit einem schweren Bündel Holzabfälle schicklichkeit kopirt man nicht mehr, man äfft nach. Und man

beladen.

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bedient sich dieser Geschicklichkeit für irgend welche Albernheit, welche unbeachtet vorüberziehn müßte, welche aber in der heutigen Zeit die Aufmerksamkeit auf dem Werk festhält, von welchem die leere Seifenblase ausgeht... und das einzig gut bezalte ist... denn die hohle Welt bezalt und achtet nur das Leere ... Was tut das? Der Gedanke allein wird leben. Die Worte verändern sich rasch und werden unmodern, der Gedanke allein wird leben denn auf dem Grunde der Dinge giebt es weder Worte noch Phrasen, noch irgend etwas anderes als das, was diese Hüllen belebt! Der Gedanke allein wird erscheinen... der Eindruck des Werks allein wird bleiben! ... Zwischen diesen seinwollenden Poeten komme ich mir vor wie ein Lebender zwischen den Toten, wie ein Mensch unter Affen, wie ein von den Ratten verschlungener Löwe. Jesus Christus hat mir den Weg gezeigt; ich weiß wie die Menschen einen Gott behandeln. Ich werde das Schichsal der Profeten teilen. Ich füge mich darein. daß die Menschen spotten über meine Dichtung und meine Armut ... Denn wenn ich reich wäre, ah, welch einen großen Dichter würden sie in mir erkennen. den Nebenbuhler mindestens des Mr. Tom Crait, Dichter des .. der unsterbliche Name ist mir entfallen.

....

„Vorwärts! Mein Gott, wie schlecht wirds mir im Magen! Aber das ist vielleicht ein wenig... Hunger? Vorwärts, das macht nichts. Uebrigens, ihr, meine Töchter, müßt quch nüchtern sein, ihr auch, nicht wahr? Denn, wenn ich mich recht entsinne, giebts bei uns nichts mehr? Also laßt uns Gott preisen und loben. Die Heiligen aßen nur wenig... Diese Unannehmlichkeit ist weniger peinlich, als der verdorbene Magen derer, die uns durch ihre bösen Streiche das Notwendigste stehlen ... Schreibt ... Warum antwortet ihr nicht? Seid ihr denn wenigstens da?

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