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Eugen Wolf, Deutsche Schriften für Litteratur und Kunst. Kiel und Leipzig. Verlag von Lipfius u. Tischer. 1891. 1. Reihe. Heft 3: Ueber den Einfluß des Zeitungswesen auf Litteratur und Leben.

Das Thema dieser Broschüre ist sehr glücklich gewählt. Es giebt kaum einen Menschen mehr, der den Einfluß des Zeitungswesen nicht an sich selbst erfahren hätte und es war darum intereffant zu erfahren, was die Nächstbeteiligten darüber denken. Der Herausgeber der deutschen Schriften hat felbst hübsche Epigramme beigesteuert und außerdem kürzere und längere Aeußerungen unter andern von Bulthaupt, Dernburg, Klaus Groth, v. Hartmann, Fr. Mauthner, J. Trojan und Ernst von Wildenbruch gesammelt. Die Stimmung der meisten Mitarbeiter, so sehr die Ausdrucksweise je nach dem Charakter auseinandergeht, ist eine nahe verwante. Alle müssen die Gewalt und Uebermaß der Zeitungspreffe anerkennen und alle blicken etwas wehmütig auf die gute alte Zeit, wie auf ein verlorenes Paradies zurück. Direkte Vorschläge zu einer Revo lution gegen das Zeitungswesen wagt natürlich nur ein Philosoph wie Hartmann zu machen. Am kürzesten hat Johannes Trojan die Wehmut des Schriftstellers inmitten des überfluteten Zeitungswesens ausgesprochen in einem Vierzciler, den er Zeitungspresse und Litteratur überschreibt.

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Gottfried Böhm, Reichsstadinovellen. C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung (Oskar Veck), München, 1891.

Gottfried Böhm liefert in vorliegendem Werk den vollgiltigen Beweis, daß man, ohne Anhänger der neuesten Bestrebungen zu sein, ohne mit beliebten Schlagwörtern um sich zu werfen, ohne mit krassen Effekten zu arbeiten und endlich, ohne unsre gute deutsche Sprache mit neuen Wortbildungen zweifelhaften Wertes zu bereichern, auch heute noch ein Buch schreiben kann, das in seiner einfachen, geschmackvollen Art seine Leser zu fesseln vermag und feines Erfolges unbedingt sicher sein wird. In den Reichsstadtnovellen werden keine welterschütternden Probleme gelöst, es werden keine Tagesfragen berührt oder soziale Verhältnisse besprochen, sondern es sind schlichte Geschichten, die der Verfasser in den vergilbten Blättern der Chronik der Reichsstadt ge= funden und uns in anspruchsloser, liebenswürdiger Form darbietet. In Inhalt und Stoff abwechselungsreich und verschieden, ist die Ausführung der einzelnen Erzählungen gleich liebevoll, einheitlich und vor allen Dingen gleich vornehm gehalten. Jedes Zuviel, jede Uebertreibung ist vermieden, und abgerundet treten uns hier die Erzeugnisse einer feinfühligen aristokratischen Dichternatur entgegen.

༣.

Sin Preisausschreiben der Bhilosophischen Gesellschaft in Berlin.

Die Philosophische Gesellschaft in Berlin stellt folgende Preisaufgabe:

Das Verhältnis der Philosophie zu der empirischen Wissenschaft von der Natur.

Unter den gegenwärtigen Vertretern der Wissenschaft ist die Meinung weit verbreitet, daß in der Erforschung der Natur das empirische Verfahren das allein berechtigte sei; das Recht einer Philosophie der Natur wird entweder in Frage gestellt oder mit Entschiedenheit bestritten. Zum Zwecke einer begründeten Ents scheidung über diese Ansicht wünscht die Philosophische Gesellschaft eine eingehende Untersuchung folgender hauptsächlicher Fragen:

1. Welche Ziele verfolgt einerseits die Philosophie, andererseits die empirische Forschung, und welche Mittel und Verfahrungsweisen stehen jeder von beiden zu Gebote?

2. Giebt es Voraussetzungen für die empirische Naturforschung, die notwendig der Philosophie zu entnehmen sind, oder Grenzen ihrer Tragweite, die eine Ergänzung durch philosophische Forschung erforderlich machen?

3. Falls sich neben der empirischen Naturforschung eine Philosophie der Natur als möglich und berechtigt erweisen sollte, welches Verhältnis zwischen ihnen würde sich als das der Natur der Sache entsprechende ergeben, und in welchem Sinne wäre ein Zu-. sammenwirken der beiden Forschungsarten geboten?

Für die fruchtbare Erörterung des Gegenstandes ist eine gründliche Kenntnis der besten neueren Autoren und ein umfassendes historisches Material selbstverständliche Voraussetzung. Aber der Aufgabe würde nicht durch bloße Kritik fremder Ansichten, sondern durch selbständige Gedankenentwickelung zu genügen sein.

Die Bewerbungsschriften sind in der deutschen, französischen, englischen oder lateinischen Sprache abzufassen; dieselben sind mit einem Motto zu versehen, welches gleichzeitig sich auf einem versiegelten Couvert, in welchem Name und Wohnung des Verfassers angegeben sind, befinden muß. Die Arbeiten müssen bis zum 1. April 1893 sich in den Händen eines der Unterzeichneten befinden. Der Preis beträgt 1000 Mark, welche dem Verfasser der besten als würdig befundenen Arbeit im Januar 1894 ausgezahlt werden.

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Verantwortlich: Dr. Curt Grottewiß, Berlin, - Verlag von F, & P, Lehmann, Berlin W., Körnerstr, 2, - Gedruckt bei R. Gensch, Verlin SW.

1832 begründet

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Joseph Lehmann.

→ für Sifteratur.

Berausgegeben von Fritz Mauthner und Otto Neumann-Hofer.
Redaktion: Berlin W., Körner: Straße 2.

Verlag

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S. & P. Lehmann. Erscheint jeden Sonnabend. — Preis 4 Mart vierteljährlich. Bestellungen werden von jeder Buchhandlung, jedem Postamt (Nr. 3589 der Postzeitungsliste), sowie vom Verlage des „Magazins" entgegengenommen. Anzeigen 40 Pfg. die dreigespaltene Petitzeile. Preis der Einzelnummer: 40 Pig. &

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Nr. 19.

Kristian

Juhalt: Marie v. Ebner-Eschenbach: Margarete. Marie Mellien: Oktavia Hill. Dahl: Die Ibsen-Björnson-Reaktion im Norden. Curt Grottewiß: Herr Mantegazza und die Aesthetik. Ernst v. Wolzogen: Wasserscheu, Humoreske. Dr. Albrecht Schüße: Betrachtungen über die internationale Kunstausstellung in Berlin. Friz Mauthner: Carmen Sylvas Dramen. Litterarische Neuigkeiten: F. Kauffmanns „Deutsche Mythologie“, besprochen von L. Freytag; Dantschenkos „Hinter den Kulissen“ und Arthur Zapps „Außerhalb der Gesellschaft“, besprochen von F.

Auszugsweiser Nachdruck sämmtlicher Artikel, außzer den novellistischen und dramatischen, unter genauer Quellenangabe gestattet. Unbefugter Machdruck wird auf Grund der Gesetze und Verträge verfolgt.

Margarete.

Von

Marie v. Ebner-Eschenbach.

(Fortsetzung.)

XI.

Im Laufe des folgenden Vormittags schellte Steinau an der Wohnung der Näherin. Die alte Magd öffnete ihm und er war kaum in die Küche getreten, als auch schon die Tür des Zimmers aufging und Margarete auf der Schwelle erschien. Beim Anblick des Besuchers verfinsterte sich ihr Gesicht, und sie fragte kurz: „Was wollen Sie?"

Ei, meine Schönste, dachte er, wen erwarteten Sie? wem eilten Sie entgegen? Er verneigte sich leicht, und antwortete in geschäftsmäßigem Tone, daß er eine Bestellung zu machen habe. Ohne die Aufforderung dazu abzuwarten, schritt er in das Zimmer:

„Sehen Sie einmal dieses Altertum an, was sagen Sie dazu? Es stammt aus fernen Zeiten, aus entlegenen Landen."

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Damit hatte er die Stickerei aus der Tasche hervor- Nun sind wir fertig.“ gezogen und sie auf dem Tische ausgebreitet.

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„Ich muß doch,“ sprach er immer in derselben ironisch scherzenden Weise, „um eine nähere Bestimmung des Ablieferungstermines bitten. Die Arbeit ist zu einem Geschenke für die Frau meines Freundes, des Grafen Vohburg bestimmt, und . . ."

Margarete erbebte und schoß unter den halbgesenkten Wimpern einen Blick nach ihm, leuchtend wie ein Bliß. Die lauernde Neugier, mit der Steinau sie beobachtete, entging ihr nicht.

„Ich laffe mich nicht drängen,“ sprach sie,,,und Sie haben Eile. Wenden Sie sich an jemand andern." „An jemand andern!" — rief er. „Und eben sagten Sie, niemand könne es machen außer Ihnen?“ ,,Nun - auch ich kann es nicht machen."

"

Sie täuschten sich? es ist Ihnen doch zu schwer?“

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Margaretens Wangen überzogen sich mit einer plößlichen Röte: „So liebt sie ihn... ihren Mann nicht!“ „Laffen wir ich bitte, diese Dame aus dem Spiele. Wir wollen ihrer nicht mehr gedenken als eines seligen Geistes. Diese Vohburgs überhaupt was haben wir mit ihnen gemein? was kümmern sie uns? Es sind keine Menschen, es sind Engel. Im Himmel Gegenstand des Wohlgefallens, auf Erden Kinderspott... Kein

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Wunder, daß sie dem Himmel die Erde opfern und das Leben der Ewigkeit. Ich habe für derlei kein Verständnis, besonders in solcher ich bin ein Weltkind. Mir ist

Nähe"
berde

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er verneigte sich mit einer huldigenden Ge„unser vielgeschmähter Stern schön genug." Damit ließ er sich auf einen Stuhl nieder und begann zu plaudern. Der geistvolle Steinau, dem man

Ich kann nicht, weil ich nicht will... weil ich nachsagte, daß er nur im gewähltesten Kreise, vor dem

meine Augen nicht anstrengen will

manchmal leide ..

"

an denen ich

Kein Wunder" sagle er „wenn man so viel weint..."

auserlesensten Publikum die Quellen seiner Laune sprudeln ließ, bot seine ganze, reiche Unterhaltungsgabe auf, um die arme Näherin zu feffeln. Es gelang ihm. Sein glänzender Wit, seine lustigen Einfälle, seine kühnen

„Ich weine? das ist etwas Neues? Woher haben Paradoren fanden bei Margarete lebhaften Anklang, entSie das?"

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gegenkommendes Verständnis und schlagfertige Erwiderung. Er war entzückt von einem Verstande, der den seinen so sehr zu würdigen wußte, und erbat beim Abschied die Erlaubnis, bald wiederkommen zu dürfen.

„Ich muß nachsehen, ob die Arbeit fortschreitet, die Sie für mich machen“, sagte er „für mich —, ich schwör's

zur Sohle; seinen Worten schien sie keine Aufmerksamkeit | ich würde Ihr Werk lieber vernichten, als mich davon zu schenken, um so mehr aber ihm selbst. Forschend, durch- | trennen!“ dringend ruhte ihr Blick auf ihm, und sie sprach langsam:

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Der Ton ihrer Stimme war weniger wegwerfend, ihm bot. als sie jezt sagte: „Ich kenne Sie nicht.“

"

„Keine Zeit, lieber Freund! keine Zeit... komme Erlauben Sie mir, mich Ihnen vorzustellen. Ich nur, weil mein Weg mich eben hier vorbei geführt, Sie heiße Steinan, beschäftige mich berufsmäßig mit der in Eile fragen: Werden Sie sich nicht einmal wieder bei Förderung der Wohlfahrt meines Vaterlandes und trachte meiner Löwin blicken lassen? Tun Sie es doch... Ich dabei, meine eigene nicht zu vergessen. Ich habe Sie glaube, es wäre gut, indem ... weil nämlich ... Sie vergestern gesehen, bin Ihnen in respektvoller Entfernung bis | stehen mich ... und dann was ich sagen wollte, denken an Ihr Haustor gefolgt, habe von Ihnen geträumt Sie! Wen treffe ich jezt alle Augenblicke bei ihr? gewöhnlich träume ich nicht befinde mich überhaupt, | den Grafen Steinau!" seitdem ich Ihnen begegnet bin, in einer mir ganz neuen Gemütsverfassung und das Neue zu studiren es nun in mir vorgehen oder mir von außen zufliegen ist meine Marotte. Mein Besuch also wird allerdings durch eine Mission veranlaßt, allein durch eine innere, selbsterteilte. Ich bin mein eigener Vewollmächtigter."

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„Ich habe zwar großen Einfluß auf diese merkwürdige Person,“ sprach der Hofrat, legte beide Hände auf den Rücken und senkte nachdenklich den Kopf ,,fie hält zwar sehr viel auf mich es ist nicht nötig, daß mich ein Anderer bei ihr in Ansehen bringt, aber eine | kleine Unterstützung würde gerade nicht schaden ... es würde nicht schaden, wenn jemand ihr sagen wollte: „Der alte Keller, der meint es gut! Ihr das einzuschärfen, wäre Ihre Sache, lieber Freund!" sprach der Hofrat lauter und etwas gereizt durch Roberts Schweigen. Mir diese Person so ganz und gar zu überlassen und zu denken: Sieh wie Du mit ihr fertig wirst geht doch nicht an. Vergessen Sie nicht, wer mir, dem Arzte, der fich in der Welt für nichts interessirt, als für Kranke, diese gesunde Patientin aufgehalft hat!"

Robert antwortete nicht Ja und nicht Nein. Abends traf er Steinau im Klub, sie begegneten einander fühl führten ein mattes Gespräch. Im Laufe deffelben warf Robert die Frage hin:

„Kennst du die Person, vor der du mich jüngst ge

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Octavia Bill. Von

Marie Mellien.

Die Höhlen der tiefsten Armut und des tiefsten Lasters, angefüllt mit allem_physischen und moralischen Schmuß, den sich die Phantasie nur ausmalen kann, wie sie ganze Stadtteile Londons dicht neben den elegantesten und glänzendsten Straßen durchzogen, waren seit Jahrhunderten ein Gegenstand des Schreckens und Abscheus für die anständige Bevölkerung und ein Thema für schlechte Schauerromane, ehe sie ein Gegenstand der Aufmerksamkeit und der werktätigen Liebe wurden.

leids für die Schwarzen im fernen Amerika, für die unter Die Engländer schwelgten in Gefühlen innigen Mitdrückten Rayas im türkischen Griechenland, für Polen, Juder und Tartaren, ehe sie an das Elend im eigenen Lande dachten. Das Herz und das Genie eines edlen Dichters entdeckte dieses inländische Elend gleichsam zum ersten Mal in den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts. Thomas Hood dichtete tränenden Auges und zuckenden Herzens seinen,,Song of the Shirt", und seine,,Bridge of Sighs", und öffnete mit dieser einfachen und ergreifenden Schilderung der sozialen Zustände Augen und Ohren seiner wolfituirten Landsleute für den Jammer, der barfuß und ging und an ihre eigenen Türen klopfte. Die unsterblichen zerlumpt, hungernd und hauslos durch ihre eigenen Straßen Berse erweckten das werktätige Mi leid in den weit sten Kreisen der Aristokratie, der Geistlichkeit, des Besizes, und es entstand allmählich die,,Organisation of Charity" in London, wahrscheinlich die umfassendste und größeine europäische Stadt rühmen fann. Jest leuchtete man artigste Einrichtung der Woltätigkeitsanstalten, deren sich hinein in die finstersten Winkel der verrufenen Armenviertel Londons; man gab Almosen mit vollen Händen und ohne Ansehen der Person, man baute Armenhäuser, man predigte Besserung, man half mit Rat und Tat furz man tat unendlich viel Gutes.

Ob der Erfolg dieser Liebestätigkeit der aufgewanten Mühe entsprach, ist eine andere Frage. Jedenfalls scheint es, als habe das Elend in den folgenden zwanzig Jahren sich nicht wesentlich vermindert, so daß zu Beginn der sechziger Jahre noch immer eine große Anzahl „schwarzer Inseln" im Straßenozean Londons vorhanden waren. Auch damals noch fam man in den eleganten Quartieren an den Eingängen zu Gaffen vorüber, die so schlimm und abschreckend aussahen, daß kaum ein Policeman hinein zu dringen wagte, geschweige ein anständiger Bürger oder gar eine Dame aus gebildeten Kreisen. Man zuckte die Achseln, fühlte sich von einem leichten, durch den Kontrast mit der eigenen Lebenslage nicht ganz unbehaglichen Gruseln beschlichen und ging vorüber!

3u jener Zeit war es, daß eine Musiklehrerin, ein zartes, schmächtiges, junges Wesen, bei ihren Gängen zu den Stunden in den Häusern der Reichen und Vornehmen. oft genug an diesen Engpässen des Elends und Lasters vorüberkam. Aber bei ihr blieb es nicht beim „Vorbeigehen"; sie war tapferen Herzens und ernsten Willens und besaß ein unerschrockenes tatkräftiges Mitempfinden mit der Not des verlorenen Volkes" dadrinnen im Finstern, und sie schritt hinein in jene Gaffen und sah und hörte Dinge, vor denen die Satten und Glücklichen, die Gebildeten und Wolhabenden so gern Auge und Ohr verschließen, und sie beschloß jofort, daß diese Dinge nicht so bleiben dürften und daß sie alles, was in ihren Kräften stände, tun wolle, um sie zu ändern. Diese zarte, feingebildete, mitleidsvolle und doch so tapfere Frau war Miß Octavia Hill!

„Ich hatte kein festes System und keine großartigen | Gesinnung keinen Hehl ihr gegenüber. Aber sie ließ sich Gedanken", so berichtet sie später selbst über den Beginn nicht abschrecken; sie war flug genug, um auf solche Erihrer Tätigkeit zur Verbesserung der Wohnungsverhältnisse fahrungen gefaßt zu sein und edel und liebreich genug, wie der ganzen Lebensweise und Lebensführung der um fie aus den gegebenen Verhältnissen zu erklären und ärmsten Klaffen. Was man später ihr System genannt zu verzeihu. hat, ist erst allmählich, gleichsam von selbst, entstanden, ist erst durch den Druck der Verhältnisse zu dem geworden, was die Bewunderung von Hunderttausenden erregt hat und was Millionen zum Segen gereichte. Sie handelte einfach, praktisch und verständig, geleitet von einem sehr fühlen Verstande und einem sehr warmen Herzen. Selbst unvermögend, warb sie bei bemittelten Freunden um Beihilfe und erhielt durch Mr. Ruskin, den bekannten Aesthetiker, ein Kapital von 700 Pfund Sterl. (etwa 15 000 Mark), wofür sie zunächst drei kleine Häuser amkeit der Mieter verwendet werden sollte, eine treffliche Paradise-Place in Marylebone pachtete, jener verrufensten Gegend Londons, die selbst ein Schugniann nur ungern

betritt.
Diese Gebäude befanden sich in einem grauenvollen
Zustande. Schmuß, Verwahrlosung und böser Wille
hausten darin mit den verfommenen Bewohnern, die
sämtlich der allerärmsten Klasse angehörten. Die meisten
waren schon seit 6 bis 8 Wochen die Miete für die von
ihnen bewohnten Zimmer schuldig und hatten kaum eine
Ahnung davon, daß sie sich dadurch einer Pflichtver-
fäumnis schuldig machten.

Octavia Hill schildert uns das Gefühl „der mit Ehrfurcht gemischten Freude", mit der sie ihr neues Besißtum antrat, in dem Bewußtsein, es in anderen Zustand setzen zu können. Zunächst entließ sie nur die Leute, welche ein offenkundig unmoralisches Leben führten; allen Anderen stellte sie eine Frist, innerhalb welcher sie sich den von ihr getroffenen Anordnungen zu fügen, vor allem Micte pünktlich zu zahlen hätten.

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Diese Forderung der pünktlichen Zahlung der Miete -so seltsam es flingen mag, der archimedische Punkt, von dem aus Oktavia Hill es unternahm, diese Welt der Verkommenheit und Indolenz zu bewegen und umzugestalten. Von dem Grundsatz ausgehend, „daß die Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten die beste Erziehung der Mietsleute sei", und daß és vor allem darauf ankomme, sie zu zwingen, sich aus der Lethargie und den lang jährigen trägen Gewohnheiten, in denen sie versunken waren, aufzuraffen", und daß man ihnen nicht helfen, sondern sie in den Stand setzen müsse, sich selbst zu helfen“, begann sie jetzt eine stille, energische, gewaltige Erziehungsarbeit auf eine ihr eigentümliche, höchst praktische und einfache Art.

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Jeden Montag Abend ging sie selbst in alle ihr gehörigen Häuser, um die wöchentliche Miete für die kleinen, aus einer bis zwei Stuben bestehenden Wohnungen (zu zwei bis drei Schillingen die Woche) einzukassiren. Das waren schwere Gänge für die zarte, fein empfindende Frau! Sie erzählt höchst lebendig, wie sie an den feuchten Novemberabenden, wo der braune Londoner Nebel über den Dächern hing und dicke Finsternis Gassen und Höfe erfüllte, in die unbeleuchteten Häuser trat und sich die Treppen emportastete bis zu den schmutzigen dunstigen Räumen, deren Bewohner ihr oft genug übellaumig den Eingang verwehrten, ihr unter Fluch- und Scheltworten die Miete mit dem Fuß durch die nur handbreit geöffnete Tür zuschoben; wie sie hier ein halb betrunkenes Weib auf schmierigen Lumpen am Boden liegend, dort ein paar niedliche, aber unglaublich verwahrlofte Kinder in einem Winkel hockend fand, und wie aus vielen Räumen ihr das wüste Gezänt uneiniger Nachbarinnen entgegen scholl. Anfangs sahen all diese Leute Miß Hill als ihre natürliche Feindin an, die da käme, um ihnen erbarmungslos ihr bischen Armut abzunehmen und machten aus dieser

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Die schlimmsten Uebelstände in den schrecklich verwahrloften Häusern wurden beseitigt, zerbrochene Fensterscheiben, schadhafte Dächer, zerstörte Wasserleitungen ausgebeffert und Treppen und Flure gründlich gefehrt und gescheuert, lekteres müßliche Ereignis fand in einem der Häuser zum ersten Mal seit sechs Jahren statt! Dann aber sette sie eine bestimmte Summe für jährliche Reparaturen aus, mit der Weisung, daß, was davon am Schluß des Jahres übrig bleibe, zum Nüßen und zur Bequemtich

Maßregel, da die Hausbewohner sich dadurch veranlaßt sahen, sorgfältiger und rücksichtsvoller mit allen Sachen umzugehen, damit nur jener Ueberschuß recht ansehnlich ausfalle!

Ebenso wirkie das Beispiel der Reinlichkeit auf Gängen und Treppen anregend und förderlich; die schwarze Grenzlinie" zwischen den eigenen unsauberen Räumen und dem blank gescheuerten Flur wurde vielen Frauen zu einer lauten Mahnuna, selbst Besen und Scheuerlappen zu handhaben und den Fußboden ihres Zimmers jenem möglichst ähnlich zu machen.

Natürlich waren es vor allem die Frauen, auf welche Oktavia Hills erzichlicher Einfluß sich erstreckte, aber allmählich gewann sie eine fast unbeschränkte Macht über alle Gemüter ihres kleinen Königreiches, auch über die der Männer. Ihre zugleich liebreiche und imponirende Art, ihre unerschütterliche Festigkeit, ihre ernste und milde Ruhe gewannen ihr wunderbar schnell das Vertrauen der Armen, Sie sie durch jene regelmäßigen Besuche persönlich genau kennen lernte und denen sie Gelegenheit bot, ihr alle ihre Wünsche, Klagen und Beschwerden vorzutragen. Freundlich und geduldig hörte Miß Hill sie an und erteilte ihnen Antworten und Ratschläge, nicht von oben herab, im Tone eines Predigers oder einer Gouvernante, sondern, wie sie selbst uns jagt, als wenn sie mit Ihresgleichen verkehrte," —ücksichtsvoll und schonend, mit jenem unvergleichlichen Takt, jener Achtung vor der Menschenwürde des Armen und jenem zarten Verständnis für die Individualität und die verschiedenen Charaktere, welche das Geheimnis des Einflusses bilden, den Oktavia Hill allmählich gewann.

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Mein Bestreben in der Behandlung dieser Leute," berichtet sie selbst, mußte dahin gehen, unsere geschäftlichen Beziehungen vollkommen pünktlich und unsern persönlichen Verkehr durchaus achtungsvoll zu gestalten.“

Bald genug hatten ihre Mieter denn auch gelernt, sie als ein Wesen höherer Art, zugleich aber auch als ihre beste Freundin zu betrachten, der sie das vollste und unbedingteste Vertrauen entgegenbrachten, und von diesem Augenblick an hatte Oktavia Hill gewonnen Spiel in ihrem Kampfe gegen die Stumpfheit und Trägheit, die schlimmsten Feinde der Armen, und konnte mit Stolz und Rührung von den wunderbaren Fortschritten" sprechen, welche alle ihre Mieter oder doch die meisten von ihnen, in den Tugenden der Pflichttreue, Ordnung, Reinlichkeit und des Fleißes gemacht hatten.

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wir

Um den Verkehr mit ihren Pflegebefohlenen, können fast sagen Zöglingen, - noch inniger zu gestalten, ließ sie an eines ihrer Häuser einen großen Versammlungs saal anbauen, in welchem sie regelmäßig an jedem Sonn abend Abend mit ihnen zusammenkam. Hier konnten die Frauen von ihren kleinen und großen häuslichen Nöten erzählen, sie wegen der Erziehung ihrer Kinder oder deren Zukunft um Rat fragen, hier konnten feindliche Nachbarinnen

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