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alle Forschungen und alle Entdeckungen auf dem Gebiete der Wissenschaft. Wenn uns die Frage entgegentritt, was foll man lieber tun? Eine alte Frau zu unter stüßen, welche zwei Tage nichts zu effen hatte, oder die ganze Arbeit der Volkszählung aufs Spiel sehen, so darf man nicht zögern. Man muß der alten Frau helfen. Die Volkszählung ist sehr nüßlich für uns; wenn sie auch keine völlige Heilung herbeiführt, so doch zum Mindesten einen Versuch um die Diagnose der Krankheit zu stellen; warum sollten wir nicht diese Gelegenheit benußen, die sich in regelmäßigen Zwischenräumen wiederholt, um ein wenig von dem Elend zu lindern? Wir wollen eine Volkszählung machen, die nicht allein eine einfache Feststellung einer unheilbaren Krankheit ist, sondern welche versucht, die Krank heit zu heben, zu heilen. Das ist eine einzige Gelegen heit: achtzig energische, gebildete Männer haben unter sich zweitausend junge Leute, welche durch ganz Moskau laufen und in gewaltsame direkte Beziehungen mit fämt lichen Einwohnern treten. Ihnen liegen aber Wunden der Gesellschaft, die Völlerei, Ausschweifung, das Elend, die Unwissenheit offen vor Augen.

Wollen wir es dabei bewenden lassen? Genügt es, die Stadt zu durchlaufen zu dem einzigen Zweck um aufzuschreiben wie viele es giebt, die müßig umhergehen und nicht wissen, wie sie die Zeit töten sollen, wie viele Zufriedene, die in ruhiger Sicherheit leben, und wie viele, die im Elend zu Grunde gehen? Wir sagen alsdann: „Ja, unser Leben ist unheilbar in seiner Schmach und diese Tatsache einmal festgestellt, leben wir ruhig weiter wie zuvor und warten auf eine Verbesserung der Dinge, zu der wir uns nicht austrengen wollen! Und die im Elend sterben, sterben ruhig so weiter.

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Ich höre schon die übliche Bemerkung machen: Ja, das klingt ja sehr schön. Aber es sind nur Redensarten; sagt uns lieber, was wir tun sollen."

Bevor man feststellt, was zu tu nist, muß man über das einig sein, was etwa zu vermeiden ist. Um die Anstrengungen der Gesellschaft nüßlich und fruchtbringend zu machen, müßte, man, meiner Meinung nach, die philantropischen Gesellschaften unterdrücken, die Reklame unterdrücken, kein Geld mehr zusammenbringen durch Feste, Bälle, Bazare n. f. w., man müßte z. B. nicht mehr veröffentlichen, daß der Fürst A.... für die und die Sache tausend Rubel gegeben hat, daß der Bankier B.... dafür 3000 Rubel gegeben hat; keine Vereinigung mehr von Komitees, keine Listen mehr, teine öffentlichen Verwaltungen.

Aber alle, die meiner Meinung sind, sollten beginnen, sich von der Stadtverwaltung einschreiben zu laffen, um die Quartiere der Armut aufzusuchen; fie sollten in Beziehungen mit den Bewohnern dieser Quartiere treten, diese Beziehungen fortsetzen und versuchen, die Armen aus ihrem Elend zu ziehen. Die Volkszähler und ihre Vorgesezten sollten ihre Aufmerksamkeit auf diejenigen lenken, die Hilfe brauchen, auf die, welche sich damit beschäftigen, und sie wiederum jenen nennen, die geneigt wären, gleichfalls für die Armen zu arbeiten.

Aber was heißt das: „für die Armen arbeiten"? fragt man mich. Ihnen Gutes tun. Nicht Geld ihnen geben, aber ihnen Gutes tun!

Unter diesen Worten: „Gutes Tun", versteht man gewöhnlich nur Geld geben. Für mich ist „Gutes tun" und „Geld geben“ nicht nur nicht daffelbe, sondern sogar zwei absolute Widersprüche.

Das Geld an sich ist ein Uebel! Darum tut der, der Geld giebt, nichts Gutes, sondern Böses. Dieser allgemeine Fehler, zu glauben, daß Geld geben Gutes tun ist, erfolgt daraus, daß in den meisten Fällen, wenn der Mensch etwas Gutes tun will, er sich von etwas Bösem befreit, unter anderem vom Gelde. Darum ist das einfache Geldgeben vorerst nichts anderes als ein Anzeichen, daß der Mensch anfängt das Böse von sich zu werfen. Gutes tun heißt aber: etwas tun, das ist für den Menschen; und um zu wissen, was eigentlich für den Menschen gut ist, muß man mit ihm in enge, freundschaftliche Beziehungen treten. Daher ist um Gutes zu tun das Geld überflüssig.

Was man tun muß, ist dahin zu kommen, sich für einige Zeit wenigstens von den üblichen Gewohnheiten seines Lebens zu befreien; man muß nicht fürchten sich zu beschmugen, oder sich ansteckenden Krankheiten auszusezen; man muß den Mut haben, sich auf das schmußige Bett des elenden Lumpen zu sehen, zu ihm aus vollem Herzen reden und ihm zeigen, daß man auch ihn liebt und achtet.

Das muß man tun, wenn man Gutes tun will, aber das eben ist sehr schwer.

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Als ich zuerst uuf den Gedanken kam, die Volfszählung dazu zu benußen um Gutes zu tun, um den Unglücklichen zu helfen, teilte ich meine Idee einigen reichen Personen mit, und da sah ich, wie glücklich sie waren, sich unter einem so guten Vorwande von ihrem Gelde zu befreien, welches die Sünde repräsentirt.

„Nehmen Sie dreihundert, fünfhundert Rubel,“ sagte man mir. Aber ich selbst kann doch nicht in diese Schweineftälle gehu."

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Es handelt sich aber nicht um Geld.

Was würde wol das Resultat sein, wenn die Reichen der, als er Chriftus empfing, ihm versprach, die Hälfte von Moskau sprächen wie der Reiche im Evangelium, seiner Reichtümer den Armen zu geben und denen, die er gekränkt hatte, das Vierfache? Man würde mehr als eine Milliarde dabei zusammenbringen; und was wäre das Resultat? Nichts. Wenn nicht noch mehr Böses, mehr Sünde, mehr Verbrechen, wenn man dieses Geld unter die Armen verteilte. Das Geld wirkt verderblich. Man muß eine tatkräftige Aufopferung an den Tag legen; die Leute, die Gutes tun wollen, müssen nicht ihr Geld geben, sondern ihre Arbeit, ihr Leben Die Volkszählung bringt vor unsern Augen, vor uns, die wir behaglich leben, und zu den sogenannten Aufgeklärten über alles Elend gehören, alle die schrecklichen Leiden, welche sich in sämtlichen Ecken einer Stadt ver bergen. Zweitausend von uns, die auf eine der höchsten Leiter stehen, tefinden sich plötzlich Angesicht zu Angesicht mit den tausenden, die bis zum Fuß dieser Leiter zurückgedrängt worden sind. Verlieren wir nicht Gelegenheit dieser Begegnung. Laßt sie uns dazu dienen, unsere eigene nußlose und sträfliche Eristenz besser anzuwenden, und zugleich die Anderen von ihrem Elend und ihren Leiden zu befreien.

Folgendes also schlage ich vor:

1) Daß alle Diejenigen, welche an der Volkszählung beteiligt sind, denjenigen Unglücklichen, welche ihnen dabei begegnen, persönliche Hülfe leisten. 2) Daß sie in diesen Hülfeleistungen fortfahren auch nach Beendigung der partistischen Arbeiten. 3) Daß alle Bewohner der Stadt, welche in sich den Mut fühlen, für die Unglücklichen zu arbeiten, sich mit mis vereinigen und ́an unserer Arbeit teilnehmen.

Welches hiervon das Resultat auch sei, es wird immer besser sein als das, was gegenwärtig existirt.

Und wenn wir unter die Hungernden auch selbst nur 100 Rubel verteilen, auch das ist schon etwas. Nicht allein weil die Hungernden dann zu essen haben, aber deshalb, weil wir durch diese Tat hundert unserer Brüder mit Menschlichkeit behandelt haben werden. Wie kann man im Voraus alle die moralischen Konsequenzen berechnen, die aus dieser Tatsache entspringen würden: an Stelle des Verdruffes, des Aergers und des Verlangens, welches wir hervorgerufen hätten, indem wir die Ver hungernden zählten, würden wir ein gutes Gefühl in ihnen provoziren, welches sich wie eine woltuende Welle in den Seelen der hundert Menschen ergießen würde.

Es genügt nicht, daß der Volkszähler sagt, wenn er sich unter den Elenden befindet, daß sie sehr interessant sind; er muß die Idee haben, daß sie mehr sind als blos interessant, schon das ist gut und nüßlich. Wenn allen diesen Unglücklichen Hülfe zu teil würde, wenn die Arbeiter, die nach der Stadt gekommen sind und die schon alles bis zu ihrem leßten Kleidungsstück verkauft haben um leben zu können, in ihr Vaterland zurückgeschickt werden könnten; wenn die Greise, die von der öffentlichen Mildtätigkeit leben, dem Tod entrissen werden könnten; ja, alles das wäre schon viel, sehr viel.

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Und warum nicht noch mehr erhoffen? Wird man nicht mit dem Werke beginnen, welches sich ausführen läßt durch die Arbeit, nicht durch das Geld; wird man nicht die Trunkenbolde retten und die Diebe, für welche die Rückkehr zur Ehrlichkeit noch möglich ist?

Zweifellos kann man nicht alles Böse ausrotten, aber man bekommt dann wenigstens einen Neberblick über seine Ausdehnung und Verbreitung, man wird dagegen anfämpfen, nicht mit Hülfe der Polizei, sondern durch die brüderliche Vereinigung der Menschen, die das Nebel sehen mit jenen, welche es nicht sehen, weil sie davon umgeben sind.

Wie wenig man auch tut, es ist immer schon viel. Aber warum nicht hoffen, daß der Tag kommen kann, an dem man in den großen Städten keine Verhungernden, Zerlumpten, Verlassenen und hoffnungslos Unglücklichen überhaupt mehr findet?

Was erstaunlich flingt, ist nicht, daß es möglich sein sollte, dieses Ziel je zu erreichen, sondern die Tatsache, daß es Seite an Seite mit unserem Lurus und unserem Müssiggang soviel Elend überhaupt geben kann, und daß wir es wissend, ruhig neben diesen Unglücklichen weiter leben können. Laßt uns nicht wie die Anderen sagen, daß in jeder der europäischen Hauptstädte ein Proletariat existirt und daß das nötig sei.

Nein, es ist nicht nötig, denn es ist unserm Geist und unserem Herzen zuwider.

Warum wollen wir nicht hoffen, daß wir endlich begreifen werden, daß es keine gebieterische Pflicht giebt, als die sozialen Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten zu unterdrücken?

Warum nicht glauben, daß ein Tag kommen wird, wo die Menschen erwachen und endlich begreifen werden, daß diese Pflicht die einzig wahrhaft wichtige ist? Warum nicht hoffen, daß es der Menschheit ebenso ergehen wird wie einem franken Organismus, der plößlich die Gesund heit wiedererlangt?

In dem Krankheitszustand des Organismus stocken die Zellen in ihrer geheimnisvollen Arbeit: die einen

sterben, die anderen leiden, einige bleiben neutral und arbeiten für sich weiter. Dann beginnt plötzlich jede Zelle von neuem ihre belebende Arbeit: sie stoßen die Toten aus, schließen in einer lebenden Barrière diejenigen ein die frank sind, geben denen das Leben wieder, die schon sterben wollten, und der Körper erhält sie wieder. Warum also nicht glauben und hoffen, daß die Zellen unserer Gesellschaft zum Leben zurückkehren und den sozialen Organismus wieder gesund machen können? Wir wissen nicht, von wem das Leben der Zelle abhängt, aber wir wissen, daß unser Leben von uns abhängt. Wir können, nach unserem Belieben, das Licht, welches in uns ist, leuchten lassen oder es ersticken.

Wenn bei hereinbrechender Nacht tausend Männer verhungert und schlecht gekleidet im Schneegestöber stehen und warten, daß sich ihnen die Pforte des Asyls öffne, und ein einzelner Mann erscheint, der ihnen gerne helfen möchte, so müßte sein Herz brechen angesichts seiner absoluten Ohnmacht, ihnen helfen zu können, und er müßte sich wieder entfernen voller Verzweiflung und Entrüstung gegen die Gesellschaft.

Aber wenn anstatt dieses einen wolgesinnten Menschen sich tausend einfänden, um den tausend Unglücklichen zu helfen, so wäre die Aufgabe eine leichte.

Wenn doch die „Mechaniker“ eine Maschine erfinden möchten, die das uns erdrückende Gewicht der Ungerechtig= feit von uns höbe, so täten sie ein großes Werk; aber indem wir darauf noch warten müssen, wollen wir anderen versuchen, in unserer ganz dummen Bauerumanier zusammen als Christen uns davon zu befreien: vielleicht würde es uns ebenso gut gelingen.

Auf Brüder, zum guten Werk!

Die Vorstellungen vom besseren Jenseits. (3weiter Artikel.)

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Einen höheren Grad von philosophischer Reflexion und ein gesteigertes Bedürfnis, zu idealisiren, verraten die Vorstellungen vom Paradies, welche uns der Koran bietet. Die Freuden der ersten Klasse des Auserwählten werden in der Klasse 56. Sure folgendermaßen geschildert: Sie werden ruhen auf Kissen mit Gold und edlen Steinen ausgeschmückt, auf den= selben einander gegenübersißend. Jünglinge in ewiger Jugendblüte werden, ihnen aufzuwarten, um sie herumgehen mit Bechern, Kelchen und Schalen fließenden Weines, der den Kopf nicht schmerzen und den Verstand nicht trüben wird, und mit Früchten, von welchen sie nur wählen, und mit Fleisch von mit großen, schwarzen Augen, gleich Perlen, die noch in ihren Vögeln, wie sie es nur wünschen können. Und Jungfrauen Muscheln verborgen, werden ihnen zum Lohn ihres Tuns. Weder eitles Geschwätz, noch irgend eine Anklage wegen Sünde werden sie dort hören, sondern nur den Ruf: Friede! Friede!" Und die Gefährten der rechten Hand werden wohnen bei dornenlosen Lotusbäumen und bei schön geordneten Talchabäumen und unter ausgebreiteten Schatten, und bei einem immerfließenden Wasser, und bei Früchten in Ueberfluß, die nie vermindert und nie verboten werden. Wohnen werden sie bei Jungfrauen, gelagert auf erhöhten Kissen, die wir durch eine frauen, von ihren Gatten, welche in gleichem Alter mit ihnen, besondere Schöpfung geschaffen. Wir machten sie zu Jungstets gleich geliebt."

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Die Lehre vom tausendjährigen Reiche, welche in den Zeiten des Urchristentums die herrschende war, gab ́phantasie

vollen Köpfen Gelegenheit zu lebhaften Schilderungen einer allerdings irdischen, aber aller irdischen Einschränkungen entkleideten Glückseligkeit, deren nahes kommen die Gläubigen, gestützt auf authentisch geltende Aeußerungen Christi selbst, bestimmt erwarteten. In Anlehnung an die Verheißungen der Propheten des alten Testaments und die farb.nreichen Bilder der Apokalypse malte man sich das neue Jerusalem als eine Stadt aus, erbaut aus Gold und kostbarem Gestein.

Ein übernatürlicher Reichtum an Korn und Wein erfüllt die umliegenden Gefilde, deren freiwillig sich darbietende Erträge dem Genusse cines glücklichen und wolwollenden Volkes durch keine eifersüchtigen Gefeße ausschließlichen Eigentums verkümmert werden. Frenäus, einer der einflußreichsten Vertreter der Lehre von Chiliasmus, schildert uns die Fruchtbarfeit des Bodens in jener glücklichen Zeit mit orientalischer Uebertreibung: Es werden die Tage kommen, an welchen Weinstöcke hervorsprießen, von denen jeder 10 000 Schößlinge treiben wird, und an jedem einzelnen Schößling 10 000 Zweige, und an jedem einzelnen Zweige 10 000 Ranken, und an jeder Ranke 10 000 Trauben, und an jeder Traube 10 000 Beeren. Und jede Beere, die man auspreßt, wird 25 Metreten (der Mietretes zu ca. 40 Ltr.) Wein geben. Und wenn dann einer der Heiligen nach einer Traube langt, so wird eine andere Traube rufen: Mich nimm, ich bin eine bessere Traube, durch mich preise den Herren." Aehnliche überschwengliche Fruchtbarkeit werden auch das Getreide und alle Feldfrüchte zeigen, und die Tiere werden sich ausschließlich von Pflanzenkost nähren und den Menschen völlig untertan sein.

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Man wird es begreiflich finden, daß ein Land von solchem Ueberfluß mächtige Anziehungskraft ausüben mußte auf Leute, denen Hunger und Entbehrung auf ihrem Lebenswege unzertrennliche Begleiter gewesen waren, Leute, deren niedrige ge= sellschaftliche Stellung, Celsus, einer der ersten schriftlichen Bekämpfer des Christentums, andeutet, wenn er darüber spottet, „daß Wollarbeiter, Schuster, Gerber, die ungebildetsten und bäurischsten Menschen, eifrige Verkündiger des Evangeltums seien."

Ein Umstand, der nicht ohne Bedeutung ist und in vielen Schilderungen der Herrlichkeit des Jenseits eine Rolle spielt, ist das verschwenderische Prunken mit Stoffen, welche hier auf Erden kostbar und begehrenswert erscheinen. Die edlen Me talle, besonders das Gold, die edlen Steine, finden in allen Beschreibungen des Himmels die ausgiebigste Verwendung. So wird uns das neue Jerusalem in der Apokalypse folgendermaßen geschildert: Und der Bau ihrer Mauern war von Jaspis, und die Stadt von lauterem Golde, gleich dem reinen Glase. Und die Gründe der Mauern und der Stadt waren geschmückt mit allerlei Edelsteinen. Der erste Grund war ein Jaspis, der andere eiu Saphir. der dritte ein Chalcedonier, der vierte ein Smaragd, der fünfte ein Sardonich, der sechste ein Sardis, der siebente ein Chrysolith, der achte ein Beryll, der neunte ein Topafier, der zehnte ein Chrysopras, der elfte ein Hyacinth, der zwölfte ein Amethyst. Und die zwölf Tore waren zwölf Perlen, und ein jegliches Tor war von einer Perle, und die Gassen der Stadt waren lauter Gold, als ein durchscheinendes

Glas.

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Während der Himmel der roheren Naturvölker fast ausschließlich, oder doch vorwiegend sinnliche Freuden darbietet, so genügen diese Vorstellungen keineswegs mehr für entwickeltere Gemeinwesen auf einer höheren Bildungsstufe.

Nicht so sehr seine eigenen Ueberzeugungen als vielmehr die idealisirten Vorstellungen seiner Zeitgenossen, giebt uns Lucian in der anmutigen Beschreibung von der Insel der Seeligen, welche die kühnen Seefahrer in seinem Märchen, der wahren Geschichte", erreichen. Die Stadt, in welche sie geführt werden, ist auch hier von gediegenem Golde, und ihre Ringmauern sind von Smaragden. Jedes threr sieben Tore ist aus einem einzigen Zimmtbaum gearbeitet; der ganze Boden der Stadt und das Pflaster aller Pläße und Gassen in der= selben ist von Elfenbein; die Tempel aller Götter sind aus Quaderstücken von Beryll erbaut und die Hochaltäre, worauf die Hekatomben geopfert werden, aus einem einzigen Amethyst. Rings um die Stadt fließt ein Strom des schönsten Rosenöls, hundert königliche Ellen breit, und tief genug, um bequem darin Ichwimmen zu können. Ihre Bäder sind herrliche Gebäude

vom Krystallglase; sie werden mit Zimmt geheizt und statt ge= meinen Wassers werden die Badewannen mit warmem Tau gefüllt . .... Niemand wird hier älter, sondern jeder bleibt unveränderlich, wie er hierher gekommen. Das Land

ist immer grün und mit allen Arten von Blumen sowohl als von schattigen Bäumen beseßt. Ihre Weinreben tragen zwölfmal des Jahres; ja, die Pfirsich- und Aepfelbäume und alle Obstbäume überhaupt sollen sogar dreizehnmal, nämlich in dem bringen. Anstatt des Weizens treiben ihre Aehren kleine Monat, den sie nach dem Minos benennen, zweimal Früchte Brödchen aus ihren Spizen hervor. Rings um die Stadt sind dreihundert und fünfundsechzig Quellen mit Wasser, ebenso viele mit Honig, fünfzig etwas kleinere mit wohlriechenden Effenzen und Delen, und überdies sieben Flüsse mit Milch und fröhlichen Gastmähler der Helden und Weisen, unter denen acht mit Wein. Mit anmutiger Ironie schildert Lucian die „Während der Aristipp und Epikur die erste Rolle spielen. Tafel erlustigen sie sich mit Musik und Gejang. Am liebsten ingen sie Homers Gedichte, und er ist selbst da und hat seinen Play über dem Ulysses. Sie haben Chöre von Knaben und Mädchen, denen Eunomus von Lokri, Arion von Lesbos, Anakreon und Stesichorus vorsingen. Wenn diese zu singen aufhören, folgt ein zweiter Chor von Schwänen, Schwalben und Nachtigallen, und, wenn auch diese fertig sind, fängt der ganze Hain, von Abendlüften angeblasen, zu flöten an. Aber beiträgt, find die zwei Quellen der Wollust und des Lachens, was am meisten zu der Fröhlichkeit, die an ihrer Tafel herrscht, die neben derselben springen. Jeder trinkt zu Anfang der Mahlzeit aus einer von beiden, und so bringen sie dann die ganze Zeit derselben fröhlich und lachend hin."

Die strengere, mehr asketische Richtung des späteren Christentums, wies, zugleich mit dem Glauben an das tausendjährige Reich, den man durch allegorische Deutung der Prophezeibungen verflüchtigte, auch alle Verheißungen eines sinnlichen Glückes im Jenseits zurück. An die Stelle der verlockenden Ausmalung der himmlischen Freuden treten als moralische Sanktion immer mehr die gräßlichen Darstellungen der ewigen. Höllenstrafen. Man regierte die Menschen nicht mehr mit lieblichen Versprechungen, sondern mit schrecklichen Drohungen, Bemühen, sich immaginäre, unbegreifliche Himmelsfreuden vorund in demselben Maße, als die Phantasie in dem vergeblichen zustellen, erlahmte. versenkte sie sich immermehr in Bilder von widersinnigen Höllenquolen. Man vergleiche nur auf alten Gemälden, welche das jüngste Gericht vorstellen, die Nüchternheit in der Darstellung des Loses der Erwählten mit dem kraftvollen Realismus, der sich in den Bildern von der Pein der Verdammten fundgiebt.

Troß dieses Kampfes gegen die sinnlichen Vorstellungen der Chiliasten tauchen zu allen Zeiten, hervorgerufen durch die Bedürfnisse des Publitums, welchen man predigte, bei den Theologen der verschiedensten Richtungen, Reminiszenzen an die Freuden des tausendjährigen Reiches hervor. Die Visionen des Mittelalters enthalten manches derart in Anlehnung an die Offenbarung Johannes und spätere den Aposteln mit Unrecht zugeschriebene Schriften. In solchem Zusammenhange mit mittelalterlichen Visionen steht die Apokalypse des Paulus, welche nach Tischendorfs Vermutung im Jahre 380 in Jerusalem entstand. Dieses apokryphe Werk ist freilich, wie die meisten anderen mittelalterlichen Visionen, bereter in der Schilderung der Leiden der Verdammten, als der Freuden der Seligen, gleichwol ist auch der Aufenthaltsort dieser Lepteren mit einiger Anschaulichkeit geschildert. „Das Land der Sanftmütigen, heißt es dort, war glänzender als Gold und Silber. Herrliche Palmen, mit schönen Trauben bedeckt, wuchsen daselbst. Die Stadt ist ferner von vier Flüssen umgeben, welche von Honig, Milch, Del und Wein fließen. Sie dienen zur Erquickung der Gerechten, welche im Leben dem. Genusse entsagten. An dem Milchflusse weilen die von Herodes getöteten Kinder, an dem Delfluffe die, welche sich Gott weihten. Ferner findet Paulus hier die Propheten und die Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob. In der Mitte der Stadt steht ein Altar, an welchem David mit dem Psalter und der Zither sißt und ein Halleluja singt, welches die ganze Stadt durchschallt. Wenn Christus bei seiner Wiederkunft in die Stadt einzieht, so geht ihm David mit allen Heiligen entgegen."

Aehnliche Vorstellungen kehren uns in fast allen Visionen des Mittelalters wieder, und man könnte über den Mangel an Originalität dieser Visionäre staunen, wenn man nicht den geringsten Umfang ihres geistigen Horizonts, insbesondere ihrer Lektüre, in Erwägung ziehen müßte.

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Spätere Theologen und Philosophen schlagen die gleiche Richtung ein und wissen einzelne Stellen des neuen Testaments in einer Weise auszulegen, die uns zu einer sinnlichen Auffassung der Freuden des Jenseits führen würde. So lämpft Detinger in seinem biblischen Wörterbuche gegen die Theologen, welche die Bilder der Apokalypse ihrer realen Bedeutung entfleiden und lediglich Allegorien in ihnen sehen wollen. „Sie denken, sagt er, in der unsichtbaren Welt sei alles geistlich, da doch Hören, Schmecken, Fühlen, Essen, Riechen, Trinken viel eigent licher allda vorgeht, als in dieser unteren Welt. Diese wisseu nicht, was geistlich ist: geistlich ist auch leiblich, aber unbefleckt, unverweslich, unverweltlich), darüber man sich freuen wird mit unaussprechlicher verherrlichter Freude. Der Himmel oder die unsichtbare Welt hat alles, was die Augen mit den lieblichsten Farben und Schönheiten, alles, was die Ohren mit musikalischen Instrumenten und Liedern, alles, was die Nase mit den durch dringendsten Gerüchen, alles, was den Gaumen mit den süßesten Speisen und Getränken, alles, was das Gefühl mit den Vorwürfen des Hohenliedes vergnügen kann."

Wenn diese Ausschmückung des Himmels mit sinnlichen Attributen dem kritischen Forscher als die natürliche Folge des Umstandes erscheint, daß alle Himmelsfreuden nur konzentrirte Abbilder des irdischen Glückes sind, so stellt sich die Sache im Geiste des gläubigen Theologen umgekehrt dar. „Wir sehen“, „Wir sehen“, sagt Pastor Rinck, dessen Schriftchen „Vom Zustand nach dem Tode" wir einige der angeführten theologischen Stellen entnehmen die irdischen Dinge und Kreaturen sind Abbilder der himmlischen Schöpfungen, die irdische, vergängliche Welt ist ein Schatten der himmlischen unvergänglichen. Die eigent lichen Realitäten, die rechten Bäume, das rechte Wasser, die rechten Tiere sind droben. Würde von den himmlischen Dingen auf Erden sich nichts Entsprechendes finden, könnten sie überhaupt nicht in irdischer Sprache bezeichnet werden.“

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Während im Vorhergehenden wesentlich volkstümliche Vorstellungen von einem besseren Jenseits erörtert wurden, werden wir in Folgenden mehr und mehr die Erwartungen und Hoff nungen höher gebildeter Individuen, die Utopieen solcher Leute zu berücksichtigen haben, welche vorwiegend geistige Freuden vom Jenseits erwarten. Ehe wir aber zu den Vorstellungen, welche Theologen und Gelehrte für ihren eigenen Bedarf und die Bedürfnisse von anderen Leuten ihres Bildungsgrades erfanden, übergehen, müssen wir uns vergegenwärtigen, welchen Einfluß die Auffassung von dem irdischen Leben als einem Jammertal, auf die Vorstellungen von einem besseren Jenseits ausüben mußte. Wenn das Los der Menschen hier auf Erden. auch für die Besten Drangfal, Elend, Demütigung, Verbrechen und im besten Falle ein langer, oftmals erfolgloser Kampf gegen die Anfechtungen des Fleisches und der Welt ist, so wird schon in der Erlösung von all diesen Uebeln, in dem Ansruhen von diesem Kampfe, ein großer Reiz des Loses der Seligen liegen. Dieses Motiv wird sehr häufig von christlichen Moralisten stark betont. „Was wird es sein," bemerkt Pastor Rinck, aus diesem Feindesland, aus diesen Kedarshütten in die himmlische Lebensluft verjeßt zu sein, auf einmal allen Einwirkungen der Finsternis entnommen sein, in das Land entrückt sein, wo ewiger ungestörter Friede herrscht! Das ist das Land, wo es keine Siechen mehr giebt, das Land der Herrlichkeit, wo alle Könige sein werden, wo keine Mühe und Arbeit mehr wo keine Mühe und Arbeit mehr ist, wo keine Fabriken mehr rauchen!" Und R. Baxter („Die ewige Ruhe der Heiligen") bemerkt, „da sinkt der Arme nicht mehr ermattet unter seiner Arbeit, da leidet er nicht mehr von Hunger und Durst; von Blöße oder Obdachlosigkeit, da giebt es keine schneidende Kälte, keine brennende Hize. Da zerreißt kein Freundschaftsband, da trennen sich die Geliebten nicht mehr, da hört man keine Stimme der Klage in unsern Häusern, denn alle, alle Tränen wischt Gott von unsern Augen. Oliebe Seele, ertrag' noch die Gebrechlichkeit deiner irdischen Hütte; es dauert nur noch eine kleine Weile. Das Rauschen der Füße deines Heilandes ist schon an der Tür."

Im übrigen giebt es kaum eine der starken, mehr geistigen als sinnlichen Leidenschaften, welcher man im Himmel nicht

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irgend eine Befriedigung verheißen hätte. Selbst die Rache wird, nach der Auffassung des finstern Tertullian, dort oben ihre Süßigkeit nicht eingebüßt haben. Ihr liebt Schauspiele!“ eifert er gegen seine heidnischen Gegner, erwartet das größte aller Schauspiele, das letzte und ewige Gericht des Weltalls. Wie werde ich mich wundern, wie lachen, wie mich freuen, wie jubeln, wenn ich so viele stolze Monarchen und eingebildete Götter in dem untersten Abgrund der Finsternis werde sich winden sehen; so viele Richter, welche den Namen des Herrn verfolgten, in grimmigerem Feuer schmelzen, als sie je gegen die Christen angezündet haben; so viele weise Philosophen in reten Flammen mit ihren betrogenen Jüngern erröten; so viele berühmte Dichter nicht vor dem Tribunale des Minos, sondern Christi erzittern, so viele Tragöden noch klagevoller in dem Ausdrucke ihrer eigenen Leiden.

Wenn so unverholene Ausbrüche einer gehässigen Leidenschaftlichkeit auch selbst in der theologischen Litteratur nicht sich doch nicht verhelen können, daß in der Ausmalung der gerade zu den gewöhnlichen Erscheinungen zählen, so wird man Hölle und ihrer Bein die Rachgier vorzugsweise den Binsel geführt hat. Visionäre, Maler und Tichter haben nicht selten ihre persönlichen Feinde in die Flammen der Hölle gebannt, und selbst alle diejenigen, welche, ohne von persönlichen Antipathieen beeinflußt zu sein, nur im allgemeinen die Vorstellung von einem Orte ewiger Verdammnis aufrecht erhalten, müssen menschliche Maß hinausgehende Gleichgiltigkeit gegen fremdes bei den vollendeten Seligen des Himmels eine über das Leid voraussehen, wenn sie nicht zugeben wollen, daß die gefamte Glückseligkeit des Himmels durch den bloßen Gedanken an die aussichtslose Pein ihrer weniger vollkommenen Brüder allerdings den Vollendeten des Himmels eine so unglücklich in der Hölle getrübt werden muß. Einige Theologen scheinen niederträchtige Gesinnung zuzutrauen, daß sie sich an den Qualen der Verdammten weiden könnten.

Eins der stärksten Motive der himmlischen Glückseligkeit ist die Befriedigung des Ehrgeizes. Schon die Jünger Christi gaben sich eitlen Hoffnungen auf Macht und Herrschaft im Gottesreiche hin. Auch die oft wiederholte Lehre, daß diejenigen, die hier die leßten sind, dort die ersten sein werden, finnung, als zur Aufstachelung eines über alle irdischen Ziele fonnte weniger zur Kräftigung einer wahrhaft demütigen Gehinausgehenden Ehrgeizes beitragen; eine Demut, für welche man dereinst durch hundertfältige Ehren entschädigt zu werden hofft, ist nach einfach menschlichem Sprachgebrauch keine Demut mehr, sondern wohlberechnetes Strebertum.

Das Motiv des himmlichen Ehrgeizes wird von Pastor Rinck start hervorgehoben. Er bemerkt im Anschluß an eine Stelle des Lukasevangeliums: „Es ist von Städten die Rede, über die der Herr seine treuen Knechte seßt, den einen über fünf Städte, einen anderen über zehn: was für herrliche Städte werden das sein! Und die eine große Stadt, die in Offb. 21 beschrieben wird, das himmlische Jerusalem mit den goldenen Gassen und perlenen Toren, was wird das für eine Stadt sein!"

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Für liebende Seelen muß stets die Hoffnung, teure Abgeschiedene dereinst wiederzusehen, ein starker Reiz der himmlischen Glückseligkeit gewesen sein. Philosophen und Männer der Wissenschaft andererseits sehnten sich gewiß oft, wie Plato von Sokrates erzählt, nach dem Umgang mit Helden und Weisen der Vorzeit. Der Kirchenschriftsteller Cyprian faßt beide Vorstellungen zusammen, indem er in seiner Schrift über das Sterben sagt: Eine große Zahl der Geliebten, der Eltern, Brüder, Söhne empfängt uns dort, eine zahlreiche und dichte Schar, welche ihrer Unsterblichkeit bereits gewiß und über unser Heil noch bekümmert ist, verlangt nach uns. Zum Anblick und zur Umarmung dieser zu gelangen, welch große gemeinschaftliche Freude ist dies sowohl für jene, als für uns! Welch eine Lust des himmlischen Reiches dort ist es, ohne Furcht vor dem Tode und in Ewigkeit zu leben! Welch großes und ewiges Glück! Hier frohlockt die glorreiche Echar der Apostel, dort die Schar der Propheten, dort das unzählbare Volk der Märtyrer, das wegen des Sieges in Kampf und Leiden gekrönt ist" u. s. w. Aehnlich äußert sich Pastor Rinck: „Das wird eine große Wonne sein, alle die Menschen, die hienieden als Lichter der Welt geglänzt haben, die wir aus der Geschichte kennen, alle die Herrlichen Gottes, deren die Welt nicht wert

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Die abgelaufene Berliner Theaterwoche gehörte vollständig der alten Schule an, mit welcher sich ein ehr geiziger Litterat eigentlich nur noch als Historiker be schäftigen sollte. Man wird von jüngeren Kollegen nach Wuchs und Kräften über die Achsel augesehen, wenn man heute noch von der alten Schule als einem lebenden Wesen spricht. Mitleid ist ganz nach Schopenhauers System die Quelle alles Guten in der litterarischen Welt geworden. Und es giebt jüngere Schriftsteller, die das so weit treiben, daß sie absolut nichts anderes leisten können, als Mitleid haben mit Gustav Freytag und Paul Heyse. Es ist doch wenigstens etwas.

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Was die alte Schule uns im Laufe der letzten acht Tage brachte, konnte aber den Unbefangenen wieder ein mal lehren, daß der Wert und die Wirkung einer poetischen Arbeit doch von der Schule vollkommen unabhängig ist, der sie angehört. Lehrhaft ist in dieser Beziehung schon das Sardousche Stück Die alten Junggesellen", welches wir diesmal den alten Künsten des Herrn Friedrich Haase verdanken. Ueber den belichten Schauspieler fein Wort. Er hat während seiner langjährigen Virtuosenlaufbahn viel Angenehmes über sich selbst gelesen und liebt in der Kritik die Abwechslung gewiß ebenso wenig wie in seinem Repertoire. Er gefällt jetzt schon wieder einer neuen Generation, dem neuen Geschlecht dürfte er weniger zusagen.

Aber das Stück ist interessant, weil es eines der besten von Sardou ist, und weil man daran ziemlich deutlich die Grenze zeigen kann zwischen dem, was die sogenannte alte Schule gut und was sie schlecht machte. Vor allem eins. Der Naturalismus zwingt die Zuhörer häufig dazu, geistreich zu sein. So unangenehm diese Aufgabe vielen Herrschaften auch sein mag, sie müssen sich die Charaktere und oft auch die Handlung mühsam und wißig aus einzelnen feinen Strichen der Dichtung zusammenkombiniren. Eine der Hauptwirkungen Ibsens beruht auf dieser Nötigung des Publikums. Und es sind meistens die eigensinnigen Leute, welche sich durch keine Tortur zur Hergabe von etwas Geist zwingen lassen wollen, welche dem Norweger geradezu feindlich gegenüberstehen. Im Ernst, die neue Schule kann ihrem Wesen nach gar nicht so geistreich sein, wie es etwa Sardon in seinen besten Werfen war. Ein Jongleur, ein Rechenmeister, alles zugegeben. Er geht nicht von den Menschen aus, die er uns vorführt, sondern von einer spannenden Handlung. Diese Handlung schiebt er vorwärts, als ob es eine Coulisse wäre. Troßdem bleiben wir gefesselt und werden wir aufs Höchste belustigt, so lange diese Sardousche Handlung in ihren Hauptscenen wahr ist. Es stört uns gar nicht, wenn diese Hauptscenen durch verbrauchte Theaterzufälle

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herbeigeführt werden, und wir haben auch nichts dagegen, wenn da oben binnen einer Viertelstunde ein Menschenschicksal sich entscheidet, das in der langweiligen Wirklichfeit viele Jahre zu seiner Umgestaltung gebraucht hätte. Es scheint, daß die Gesetze des Theaters mächtiger_sind als die des Realismus. Und die Fiktion, daß es Leute giebt, die ganz von Natur geistreich sind und so geistreich plandern, wie eine Quelle Wasser giebt, diese Fiktion nehmen wir dankbar hin. Da kommt aber plößlich eine Stelle, wo Sardou wie ein Dichter wirken will, wo er des neckischen Spieles müde, tragische Wirkungen sucht und mit den alten Kräften eines Koulissenschiebers tragische Konflikte vor dem Souffleurkasten auftürmt. Dann fällt das ganze Kartenhaus zusammen. Wenn der alte Junggeselle durch seine Laster zu einem Duell mit einem Musterjüngling getrieben wird, wenn dieser phrasenreiche Jüngling sich knapp vor dem Kugelwechsel als der geliebte Sohn des alten Junggesellen herausstellt, wenn der Vater mit dem Sohne das Zündhütchen auf die Pistole nicht auffeßen, sondern sich unter Schluchzen und Schreien in die Arme sinken, dann brauche ich allerdings alle Selbstbeherrschung, um nicht in ein herzliches Gelächter auszubrechen. Und doch konnte die größere Hälfte des Stücks auch den Gegner Sardous fesseln." So viel ist gewiß, einen Achtungserfolg kann Sardou bei uns nicht haben; Achtung hat ihm der Mißbrauch seiner Gaben nicht erworben.

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Auch im Berliner Theater hat die alte Schule ihre Karten abgegeben, drei auf einmal. Auf der einen stand der Name eines Franzosen und darunter p. p. c., auf der andern las man Oskar Justinus, die Karte war soust leer; auf der dritten las man den Namen eines Dichters, und der wird wol wiederkommen. Ja, die dramatische Dichtung Verschollen“ von André Theuriet und der sogenannte Schwank Die Liebesprobe“ von Oskar Justinus gehören der ältesten Schule an, der Schule, welche Adam durchmachen mußte, als er aus dem Paradiese vertrieben wurde. Im Schweiße deines Angesichtes sollst du Dramen schreiben, wenn du kein Dichter bist; und zur Strafe für den Sündenfall follen alle Evastöchter solches Flitterzeug hüvsch finden. Ueber den Einakter von Justinus wollen wir uns nicht aufregen. Nach dem Zettel beruht er auf einer „Idee“ der Gräfin Martha Freddy). Diese „Idee" wäre in zwanzig Zeilen ganz nett für die Fliegenden Blätter" zu erzählen gewesen. Oskar Justimus hat einen „Schwank" daraus gemacht. Wenn ich nur die leberschrift Schwank lese. so glaube ich den Verfasser sagen zu hören: „Um Gottes Willen, meine Herrschaften, erwarten Sie nur ja nichts! Der Vorhang wird zwar aufgehen und wieder niedergehen, aber achten Sie nicht auf das was dazwischen liegt. Wenn ich den Einfall zu einem Drama habe, so mache ich eine tragische Trilogie daraus; aus der Idee zu einem Lustspiel wird ein ernstes Drama; aus einem Einafter wird ein fünfaktiges Lustspiel; wenn mir aber ganz und gar nichts eingefallen ist, dann giebt es wie heute einen Schwank. Also bitte, meine Herrschaften, nur nicht anspruchsvoll sein.“

Es ist kaum zu glauben, aber der Schwank von Justinus läßt doch noch Erinnerungen zurück, man bedauert 3. B., daß Fräulein Büße, die Fischersfrau, gar so reizend spielt, und man bedauert überhaupt, daß Fräulein Buze uns die ganze Anekdote nicht allein erzählt oder vorliest, kurz, daß es ein Theaterstück geworden ist. Wenn aber die dramatische Dichtung von Theuriet vor uns abgelei rt worden ist, so giebt es für ein modernes Gefühl nur eine Empfindung: etwas wie Seekrankheit. Entsett fragt man sich, ob dieses alte romantische Gespenst immer noch spuke. Der totgeglaubte Jugendgeliebte, Abendrot, Heimkehr, Leidenschaft, Entsagung, Wiedersehen im Jenseits. Und in sogenannten Versen ist das auch noch geschrieben.

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