Erst in den letzten Jahren ist hierin eine erfreuliche Wendung zum Besseren eingetreten und die holländische Litteratur der jüngsten Zeit hat einen solch mächtigen Aufschwung genommen, daß das Interesse vollständig gerechtfertigt erscheint, welches man neuerdings bei uns sowol als auch im Auslande den Schöpfungen des jungen holländischen Schrifttums entgegenbringt. Es ist an dieser Stelle bereits verschiedentlich auf die Umwälzung hingewiesen worden, welche in den lekten fünf bis acht Jahren mit der holländischen Litteratur vor sich gegangen ist, und auch einige der Hauptvertreter des jungen Hollands sind den Lesern des Magazins nicht unbekannt. Ich werde mich deshalb bei meiner Aufgabe, einen Ueberblick über die wichtigsten Erscheinungen der holländischen Litteratur während des lekten Jahres zu geben, möglichst auf den mir angewiesenen Zeitraum beschränken, ohne im Interesse der Vollständigkeit meiner Uebersicht auf ein gelegentliches Zurückgreifen auf frühere Jahre ganz zu verzichten. Die auch bei andern Litteraturen zu machende Wahrnehmung, daß die beim Auftreten der jungen Richtung so reichlich wuchernde lyrische Produktion in der Folgezeit zu Gunsten des Romans und der Novelle zurücktritt, trifft bei dem holländischen Schrifttum ebenfalls zu. Auf dem Gebiet der Lyrik ist das lekte Jahr wenig fruchtbar gewesen. Unter den neuen Erscheinungen auf diesem Gebiete ist eigentlich nur eine zu nennen, die allerdings um so vollwichtiger ist, der Gedichtband von Helene Swarth „Poezie". Helene Swarth ist ohne Zweifel das bedeutendste lyrische Talent, das Holland gegenwärtig aufzuweisen hat. Der vorliegende Band bestätigt dies aufs neue. Ihr Ideenkreis ist nicht groß, die Gedichte sind fast alle aus einer Stimmung herausgeschrieben, und doch wirkt Helene Swarth niemals ermüdend. Der zartfließende Wollaut ihrer Verse schmeichelt sich angenehm in unser Ohr ein und die Innerlichkeit und Wärme ihrer Empfindung verfehlt nie ihre nachhaltige Wirkung auf unser Gemüt. Ihre Poesie läßt sich nicht in den engen Rahmen einer Schule einzwängen, sie ist nichts weniger als eine Revolutionärin auf dem Gebiete der Kunst, sie ist nicht einmal modern in dem Sinne, den man dem Worte für gewöhnlich beimißt. Und doch ist ihre Lyrik im Vergleich mit den früheren Schöpfungen der holländischen Litteratur so durch und durch neu, daß man sich bei der Lektüre ihrer Gedichte in eine andere Welt versekt glaubt. Man hat in Holland selber den Versuch gemacht, die Dichterin den Symbolisten zuzuzählen. Wie mir scheint sehr mit Unrecht. Helene Swarth ist viel zu natürlich und naiv, ihre Gefühls- und Ausdrucksweise ist vor allem viel zu weiblich, um mit dem selbstgefälligen Empfindungskokettiren des Symbolismus in Verbindung gebracht werden zu können. Die Dichterin würde sich auch sonst wol kaum in ihrer Heimat einer solch ungeteilten, von keiner Seite bestrittenen Anerkennung zu erfreuen haben, wie es tatsächlich der Fall ist. neueren holländischen Romandichtung bezeichnet werden muß, schweigt sich vollständig aus. Bedauerlich ist dieses Schweigen auch von einem andern der neueren Schriftsteller, van Groeningen, der mit seinem Roman „Martha de Bruin" so große Hoffnungen erweckte. Martha de Bruin sollte den Anfang eines größeren Romanzyklus bilden, aber mißliche äußere Umstände, insbesondere die Verständnislosigkeit, mit der Presse und Publikum in Holland sein Werk aufnahm, haben dem Autor die Fortsetzung verleidet. Martha de Bruin ist ein Konfektionösen - Roman. Wir haben in der neueren Litteratur, besonders in der deutschen, ja durchaus keinen Mangel an Romanen, in denen die Konfektionöse als Heldin figurirt. Aber welcher Unterschied zwischen diesen Romanen und Martha de Bruin! Die deutschen Romane dieses Genres, meist mit nachgeahmter pariserischer Eleganz in der Form, entbehren selten einer gewissen Pikanterie bei aller Tragik der Handlung, es ist meist Nachtischware, die sich sehr bequem bei einer Tasse Kaffe oder auch gelegentlich im Eisenbahncoupee verdauen läßt. Der holländische Roman verschmäht alles Leichtflüssige und Pikante. Markig und herb in der Form, von denkbarster Einfachheit in der Handlung, entrollt er uns mit einer rücksichtslosen Realistik, ungescheut vor Staatsanwalt und Polizei, das düstre Bild eines Menschenlebens, wie es typisch ist für unsere moderne Zeit, tragisch und bedauernswert, ergreifend und packend. Es ist keine Eisenbahn- und Damenlektüre, es ist keine Erholung für müßige Stunden, es ist ein modernes Litteraturdenkmal im besten Sinne des Wortes. Um so bedauerlicher, daß der Autor selber sein reiches, kräftiges Talent so völlig brach liegen läßt. Nur einer von den alten „Sungen" ist in diesem Jahre mit einem neuen Werk vor die Deffentlichkeit getreten. Frans Netscher, der mit seinen beiden Novellensammlungen „Studien nach dem nackten Modell" und „Menschen um uns" im Anfang der realistischen Bewegung in Holland großes Aufsehen erregt hat, obwol die Novellen bei weitem harmloser sind, als der reklamesüchtige Titel der ersten Sammlung vermuten läßt. Die Novellen Netschers lesen sich wie Romanfragmente und auch sein neuer zweibändiger Roman „Egoisme“ hat trok seines Umfanges etwas Fragmentarisches an sich. Man kann die Lektüre nach dem ersten Teile oder an irgend einer beliebigen Stelle des Romans beendigen, der Eindruck wird derselbe sein. Man ist nicht auf den Schluß neugierig, aber wenn man am Schluß angelangt ist, hat man unwillkürlich das Gefühl, als ob jekt noch ein dritter und vierter Teil folgen müßten. Netscher ist ein getrener Schüler seines Meisters. Geht Zola in seiner Vorliebe für Kleinmalerei oftmals schon bis an die äußerste Grenze, wo die Beschreibung anfängt, kleinlich und langweilig zu werden, so überschreitet Netscher diese Grenze noch um ein Beträchtliches. Man muß bekennen, Netscher verfügt über eine ganz ungewöhnliche Beobachtungsgabe und wenn man den Roman nur auf seine Einzelheiten hin prüft, muß man ihn als eine ganz respektable Leistung bezeichnen. Aber als Ganzes vermag der Roman nicht zu befriedigen, weil er kein Ganzes ist. Ihm fehlt vor allem der große, einheitliche Zug, der das Einzelne verbindet und zusammenhält, die gemeinsame Idee, die bei Zola auch das Nebensächlichste im Zusammenhang erscheinen läßt mit der Entwicklung des Ganzen. Die interessanteste und zukunftsreichste Dichterpersönlichkeit des jungen Hollands ist Louis Couperus. Seinen beiden Romanen „Elne Vere“ und „Noodlot" (Schicksal) hat er im letzten Jahre einen dritten folgen lassen, „Ekstase, ein Buch vom Glück", sowie einen Novellenband „Eene Illuzie". Was zuerst den Roman | feudaler Selbstherrlichkeit an sich, er ist ein Träumer, " K anlangt, so dürfte er wol kaum den gleich großen Leserkreis finden, wie die beiden vorhergehenden Romane. Dazu ist er in Stoff und Ausführung zu apart, zu sehr abweichend von dem, was der großen Masse gefällt, dazu schmeckt er zu sehr nach Schule. Auch Couperus hat dem Schicksal nicht entgehen können, einer ismus-Gruppe zugerechnet zu werden. Man betrachtet ihn in Holland als das Haupt der Sensitivisten. Der Sensitivismus, wie alle die neuen Formen aus dem Naturalismus erwachsen, ist eine Weiterentwicklung des Impressionismus und im Grunde von dem Symbolismus der Jean Moréas, Maurice Barrès, Stephane Mallarmé 2c. nur durch den Namen verschieden. Der Entwicklungsgang, den Couperus von seinem Erstlingsroman „Eline Vere" an bis zu dem vorliegenden „Eckstase" durchgemacht hat, tritt am deutlichsten in dem erwähnten Novellenband hervor. Es ist zwar nur ein Zeitraum von wenigen Jahren, aber die Veränderung ist doch deutlich genug. Die Vorliebe des Dichters für das Geheimnisvolle, Ungewöhnliche im Seelenleben des Menschen, sein fein tastendes Nachspüren abnormer psychischer Vorgänge, seine virtuose Kraft im Seziren der Gedanken und Empfindungen kommt immer mehr zum Ausdruck. Das Innenleben seiner Personen geht ihm über alles; durch äußere Geschehnisse Interesse zu erwecken, verschmäht er vollständig. In seinem zweiten Roman „Schicksal verband sich noch die Schilderung psychologischer Zustände in harmonischer Weise mit der Handlung, in „Ekstase" tritt die lektere bereits ganz in den Hintergrund. „Ekstase" ist die Geschichte zweier Menschen, die ihr höchstes Glück in einer über alles Körperliche erhabenen Seelenharmonie finden, und die sich trennen, als das physische Liebeselement das ekstatische Ineinanderschmiegen ihrer Seelen zu zerstören droht. Es ist ein ähnlicher Stoff, wie ihn Julius Hart jüngst in seiner Novelle „Sehnsucht" zum Vorwurf gewählt hat, nur daß uns Hart die naturnotwendige Tragik des Ausgangs vor Augen führt, während Couperus sein Wert vorher abbricht. Wir haben hier, ebenso wie in der Novelle „Eine Illusion" nur noch Stimmungsmalerei und weiter nichts als diese. Das beste aus dem Novellenbande ist jedenfalls die Studie „Ein Seelchen“, die Erzählung von dem Knaben vornehmer Leute, der sich in all dem Glanz und gesell schaftlichen Treiben seines Elternhauses tief unglücklich fühlt aus Mangel an Liebe und Anteilnahme, da sich weder die Mutter noch die erwachsenen Geschwister um ihn kümmern, der sein Leben still dahinlebt in der Einsamkeit der Kinderkammer und in dieser Verlassenheit auf allerhand seltsame Gedanken kommt, die ihn schließlich zum Selbstmord führen. Couperns' Vorliebe für das Abnorme verleugnet sich auch hier nicht, aber die Darstellungsweise ist einfach und natürlich, sie ergreift deshalb, während die meisten der anderen Novellen wegen ihrer Fremdartigkeit in Inhalt und Ausführung mehr interessiren und in Erstaunen versehen als packen. Eine höchst erfreuliche Erscheinung bildet Couperns neuester Roman „Majestät“, neben „Noodlot" sicherlich das Bedeutendste und auch nach außen hin Wirkungsvollste, was der Dichter bisher geschrieben. Es ist kein Sensationsroman mit allerlei versteckten Anspielungen und pikanten Deutungen, wie man vielleicht vermuten könnte, es ist eine Dichtung unpersönlichster Art, hoheits voll, majestätisch" nicht nur in der Handlung, sondern vor allem auch in der äußeren Form, vornehm in jedem Kapitel, in jeder Zeile. Der Held des Romans ist Othomar, Kronprinz von Liparien, der Erbe eines mächtigen Reiches. Othomar hat so garnichts von ein Schwärmer, den der Gedanke an seinen künftigen Herrscherberuf tief unglücklich macht, da er sich außer Stande sieht, seinem Volke die große Liebe zu beweisen, die er für dasselbe hegt, da er sich ferner vollkommener Ohnmacht bewust ist all dem Leiden gegenüber, das sein Volk bedrückt, da er so gern helfen, lindern möchte und doch die Unmöglichkeit fühlt, dieses Elend aus der Welt zu schaffen. Es ist hier nicht möglich, näher auf den Inhalt einzugehen. Viel, sehr viel ließe sich noch über den Roman sagen. Ich muß mich damit begnügen, hier auf das Werk aufmerksam zu machen, das in seiner eigenartigen Gestaltungskraft eine Wirkung auf den Leser ausübt, wie nur wenige Litteraturerzeugnisse. Was besonders angenehm an dem Roman berühet, ist, daß er in keiner Weise nach Schule schmeckt, wie die beiden vorhergehenden Arbeiten von Couperus. Es ist das Werk einer großen mächtigen Dichterindividualität, die über jeder engherzigen Einschachtelung steht. Ein litterarisches Ereignis bedeutete für Holland das Erscheinen von Frederik van Eedens „Johannes Viator", der lange und mit großer Spannung erwarteten Fortsetzung von van Eedens symbolisch-realistischer Märchendichtung „Der kleine Johannes". Der kleine Johannes, dessen deutsche Uebersetzung (von Anna Fles, Hendels Bibl. d. Gesamtlitt.) leider bei uns gänzlich unbeachtet geblieben ist, ist eine der liebenswürdigsten Gaben der neuen holländischen Litteratur, und die Spannung, mit der man die Fortsetzung, die Geschichte des groß gewordenen Johannes erwartete, läßt sich wol begreifen. Aber der „Johannes Viator" rief bei den Freunden des Dichters eine allgemeine Enttäuschung hervor. Man liest und schüttelt den Kopf, man liest weiter und ernentes Kopfschütteln. Man wird beim besten Willen nicht klug aus dem Buche. Der Autor hat soviel in sein Werk hineingeheimnist, daß die Lektüre nichts weniger als ein Genuß ist, besonders auch, da die hocht abende Sprache, die nur für außergewöhnliche Sterbliche berechnet zu sein scheint und bei der man vergeblich nach dem poetischen Reiz der Form des „Kleinen Johannes" sucht, auf die Dauer ermüdet. Ich will das neue Werk van Eedens hier nicht näher zu analysiren versuchen, ich besitze nicht den Ehrgeiz, den mystischen Schleier zu durchdringen, der sich vor ihm ausbreitet. Vielleicht entschließt sich der Autor zur Herausgabe eines Kommentars, falls nicht ein Eingeweihter die Rolle eines Dünker übernehmen will. Auch auf dem Gebiete des Dramas vollzieht sich neuerdings in Holland ein erfreulicher Umschwung. Daß dieser Umschwung erst so verhältnismäßig spät eintritt, kann niemanden Wunder nehmen, der da weiß, wie traurig es mit den Theaterzuständen in Holland bestellt ist. Das holländische Publikum ist kein Theaterpublikum, wie das deutsche oder französische, der Holländer hat eigentlich nie ein rechtes Verständnis für das Theater gezeigt, wenigstens nicht für sein Theater. Wenn man schon einmal ins Theater ging, dann wars sicherlich in die französische Oper. Unter der Ungunst dieser Verhältnisse konnte von einer Entwicklung des holländischen Theaters natürlich nicht die Rede sein und so verkümmerte es mehr und mehr. Hauptschuld an der Theatermisere war das Fehlen eines nationalen Dramas. Eigene Lust- und Trauerspiele sind zwar auch in Holland zu allen Zeiten geschrieben worden, besonders das vaterländische Schauspiel wurde sehr gepflegt, aber von einer Bühnenwirksamkeit war bei keinem dieser Stücke die Rede. Sie waren selbst den Holländern zu langweilig und das will bekanntlich viel heißen. Man hatte sich so allmälig an den Gedanken gewöhnt, daß ein holländischer Autor überhaupt nicht fähig sei, ein bühnengerechtes Stück zu schreiben. Wozu auch den hölzernen eigenen Dramen Beachtung schenken, wenn man es so bequem mit dem Import aus Paris und Berlin hatte. Und daran ließ man es nicht fehlen. Deutsche und französische Stücke wurden in großer Anzahl übersekt oder nach holländischem Geschmack zurechtgestust, viel wurde auch aus London bezogen, wie denn die Holländer überhaupt für die englische Schauerund Gespensterdramatik eine besondere Vorliebe an den Tag legen. Da wurde vor zwei Jahren in Amsterdam ein Stück zur Ausführung gebracht, das einen ganz bedeutenden Erfolg davontrug. Und man war in Holland nicht wenig überrascht, als man vernahm, daß der Autor diesmal kein Deutscher sei, auch kein Franzose oder Engländer, sondern ein bis dahin gänzlich unbekannter holländischer Schriftsteller. „Ehrlos" hieß das Stück und W. G. van Nouhuys der Autor. Es ist ein ganz modernes Stück, obgleich der Ehrbegriff, der den tragischen Ausgang des Stückes herbeiführt, nicht den modernen Anschauungen entspricht und etwas stark nach Mittelalter schmeckt. Immerhin hatte man jekt etwas, das sich wie der Anfang eines nationalen Dramas ausnahm und man sah den weiteren Schöpfungen des Autors mit großen Erwartungen entgegen. In diesen Erwartungen sollte man sich nicht getäuscht fühlen. Nach Jahresfrist wurde ein zweites modernes Schauspiel desselben Autors aufgeführt, „Das Goldfischchen" betitelt, dessen Erfolg den von „Chrlos" bei weitem übertraf. Es ist eine Chetragödie modernster Art. Der Bankier Hermann Koorders ist eine entnervte Natur, ein Mann von großer Charakterschwäche, die ihren Ausdruck in seinem Hang zum Luxus findet. Ein reiches, jedes Bedürfnis befriedigendes Wolleben geht ihm über alles. In einer dürftigen Umgebung zu leben, dünkt ihm unmöglich, Entbehrung und Armut sind in seinen Augen schlimmer als der Tod. Um einer geschäftlichen Verlegenheit zu entgehen, hat er vor nunmehr vier Jahren ein reiches Mädchen geheiratet. Es war eine Vernunftheirat, bei der das Herz nicht im geringsten mitgesprochen hatte. Sein Herz gehörte einem andern Mädchen, Greta, das ihm alles geopfert hatte und das er vielleicht auch geheiratet haben würde, wenn er sich nicht vor dem Schreckgespenst der Armut gefürchtet hätte. Seit dieser Zeit verachtet Greta Hermann und ihre Verachtung geht in Haß über, als sie sieht, wie sich Hermann im Laufe der Jahre immer mehr von ihr abwendet und seine Frau lieben lernt. Nur die Sorge um ihr Kind, zu dem Hermann eine innige Zuneigung zeigt, da seine Che selber kinderlos geblieben ist, hält sie davon ab, ihren wahren Gefühlen Hermann gegenüber Ausdruck zu geben. So liegen die Verhältnisse bei Beginn des Stückes. Billet Gretas teilt ihm mit, daß ihr Kind im Sterben liege. Diese Nachricht erschüttert ihn tief. Er eilt hinweg, um seinen Liebling noch einmal zu sehen. Marie bleibt zurück, das sonderbare Benehmen Hermanns sowie einige unvorsichtige Aeußerungen von ihm haben ihren Verdacht erweckt. Sie fängt an, den Zusammenhang zu ahnen. Sie will Gewißheit haben und eilt Hermann nach. Die Komposition dieses ersten Aktes ist meisterlich. Am Schlusse stehen wir mitten in der Handlung, die unser Interesse auf das Lebhafteste erregt. Der zweite Akt führt uns in die Wohnung Gretas. Das Kind ist soeben gestorben, Hermann ist verzweifelt in einen Stuhl gesunken. Da geht die Tür auf, Marie erscheint auf der Schwelle. Von der anderen Seite tritt Greta in das Zimmer. Die nun folgende Szene, in der sich die beiden Frauen Auge in Auge gegenüberstehen, ist die effektvollste des ganzen Stückes. Greta, durch den Tod ihres Kindes jeder kühleren Ueberlegung unfähig, macht endlich ihrem Herzen, das vier Jahre lang schweigend den Haß und die Verachtung gegen Hermann still getragen hat, Luft, und entdeckt Maria alles: daß er sie nur geheiratet hätte, weil sie ein „Goldfischchen" wäre. Der dritte Akt, der eine Aussöhnung zwischen den beiden Ehegatten zustande zu bringen sucht, fällt etwas ab. Hermann will seine finanziellen Schwierigkeiten mit Hilfe seiner Frau, deren Kapital unberührt geblieben ist, regeln. Marie aber, die jetzt seinen wahren Charakter erkannt hat, glaubt ihn nur retten zu können, indem sie ihn den harten Kampf mit dem Leben wieder aufnehmen läßt. Er soll in ihren Augen die Achtung wiedergewinnen, die er verloren hat, dann wird sie ihn auch wieder lieben. Es ist nicht zu leugnen, daß der Schluß den beiden ersten Akten gegenüber matt ist. Aber er ist echt holländisch. Der Autor will auf jeden Fall eine befriedigende Lösung und verschmäht es, das Stück mit einem Theatereffekt endigen zu lassen, der hier sehr leicht herbeizuführen gewesen wäre und den ein deutscher Autor sich auch sicherlich nicht hätte entgehen lassen. Noch ein anderes dramatisches Talent ist im lekten Jahre in Holland aufgetaucht, das, speziell vom rein litterarischen Standpunkt aus, in vieler Hinsicht noch größere Beachtung verdient, als van Nouhuys. Es ist eine Frau, Mevrouw Snyder van Wissenkerke = Junius, deren Schauspiel „Lotos" eine hochinteressante, für die Zukunft viel versprechende Leistung ist. Der beschränkte Raum verbietet es mir, hier näher auf das Stück einzugehen. Vielleicht finde ich später noch einmal Gelegenheit, auf die Verfasserin, die auch in der Novelle Vorzügliches leistet, ausführlicher zurückzukommen. Sriedrich Bebbel und die Samilie Rousseau. (Ungedruckte Briefe.) Herausgegeben von Fritz Lemmermayer. (Schluß.) ΧΙ. Der erste Akt spielt in der Wohnung von Hermann. In einer Einleitungsszene mit seinem Bruder Franz und dann später in einer Szene mit seiner Frau Marie wird die nervöse Natur Hermanns vortrefflich gezeichnet. Er ist heute unruhiger als sonst. Sein auffallendes Benehmen erregt besonders bei Marie Befremden. Auf ihre Fragen giebt er ausweichende Antworten, die in ihr ein Mistrauen aufsteigen lassen, das in der Folge immer mehr zunimmt. Der wahre Grund von Hermanns Erregtheit ist der schlimme Ausgang von Börsen spekulationen, in die er sich eingelassen hat. Ein Telegramm aus London bestätigt seine Befürchtungen, er ist ruinirt. Dieser Hiobspost folgt sofort eine zweite. Ein | aber die Kluft zwischen mir und einer Feder ist so groß, als sollte Verehrteste Freundin! Ich erröthe, indem ich das Datum Ihres lieben Briefs betrachte und mir dabei eingestehe, daß ich ihn wirklich erst jest beantworten soll, daß ich ihn nicht längst beantwortet habe. Sie werden denken; das ist ein Mensch, der aus dem Erröthen gar nicht heraus kommt ! und dies ist leider wahr genug. Ich weiß nicht, woher es rührt, ich sie jedes Mal, wo ich sie brauchen will, dem schnellsten Adler erst ausrupfen. Das ist schlimm bei einem Menschen, wie ich, denn man denkt sich einen Schriftsteller noch leichter ohne Finger, als ohne Feder, indem er die lekere ja zur Noth, wie schon Exempel vorkommen, mit den Füßen oder mit dem Munde führen könnte. Es ist nun aber einmal so. Niemand spricht mehr und schreibt weniger, wie ich. Dies Mal habe ich zur Entschuldigung meiner Zögerung freilich außer diesem allgemeinen noch sehr triftige besondere Gründe vorzubringen. Ich habe mich am 26sten May mit meiner Braut verheiratet. Sie ist Protestantin, wie ich, aber deßungeachtet hatten wir mit Herbeischaffung von Papieren so viel zu schaffen, daß wir kaum an etwas Anderes denken konnten. Hätte man bei mir nicht aus Rücksicht auf meinen Namen, der sich wenigstens so weit von den Namen der Herren Hinz und Kunz unterscheidet, daß ich nicht füglich zwei Frauen nach einander nehmen könnte, ohne dafür öffentlich gezüchtigt zu werden, ein wenig durch die Finger gesehen, so würde ich noch nicht am Ziel seyn. Wie lernte ich die freien französischen Formen, die die menschlichen Verhältniße längst vom kirchlichen Firlefanz losgemacht haben, auf's Neue schätzen! Dort geht man zum Maire, wenn man nicht zum Pfaffen will, und mit einer einfachen Erklärung ist alles abgethan. nicht auf die Bretter gebracht werden, es ist durch ein positives Gesek verboten. Ich erlaube mir, eine Lithografie von mir beizuschließen. Das ist kein Beweis von Eitelkeit, sondern des Mangels an Eitelkeit. Sie ist so plump gerathen, daß nur die Rücksicht auf den Künstler, der schon gegakelt hatte, ehe sein Ei noch gelegt war, mich bewegen konnte, die Ausgabe zu gestatten. Es hat mich eine junge Dame in Del gemalt und das Bild ist ausgezeichnet gelungen. Vielleicht wird es lithografirt, und für diesen Fall behalte ich mir mein Recht vor, ein Exemplar zu senden. Nach dem beifolgenden Bilde können Sie sich etwas deutlicher, wie bisher vorstellen, wie ich nicht aussehe. Sie erregen mir die Hoffnung Ihrer persönlichen Bekanntschaft. Nichts Angenehmeres könnte mir begegnen, und wie sollte sie sich nicht realisiren laßen? Wien, wenn Sie noch nicht hier waren, würde Ihnen genug bieten, um eine Reise zu lohnen und man reis't jekt so leicht und schnell. Meine Frau, die sich Ihnen und Ihrer verehrten Familie auf's Beste empfehlen läßt, wünscht es eben so sehnlich, wie ich selbst, Sie hier begrüßen zu können. Ihre Freundin, Fräulein Lewald, werde ich, trok meiner Abneigung gegen DamenSchriftstellerei, mit Vergnügen kennen lernen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Meine Arbeiten ruhen jekt ganz; ich bin im Sommer immer ein Brunen ohne Eimer, obgleich nicht ohne Waßer. Seyn Sie überzeugt, daß das auf so schmerzlich-heilige Weise angeknüpfte stille Freundschafts-Verhältniß mit Ihnen mir ewig so theuer bleiben wird, als es bisher war, und werden Sie nur nicht müde, mir dann und wann zu schreiben. Mit den herzlichsten Grüßen Ihr wahrer Freund Friedrich Hebbel. Wien, den 6. Juny 1876. Nun ist alles vorüber. Ich bin im Besiz des edelsten Herzens von der Welt uud habe alles, was man auf Erden haben kann. Was dem Ruhm anlangt, von dem Sie glauben, daß er mir auch zu Theil werden könnte, so gestehe ich Ihnen aufrichtig, daß er mir nicht bloß gleichgültig, sondern auch entschieden verächtlich geworden ist. Dem höheren Menschen wird ein großer Begriff von der Menschheit angeboren, damit er alle seine Kräfte ausbiethe, etwas für sie zu thun. Ist es gethan, so ekelt ihn der Lohn, den sie reicht, denn sie bezahlt das Höchste und das Niedrigste auf gleiche Weise (Ad: die ehemalige von meiner Braut). und wer würde nicht schaudern vor einem Lorbeerkranz, wenn er weiß, um welche Stirnen er sich schon herumgezogen hat. In unserer Zeit nun zumal wird der Ruhm nicht mehr durch gewaltige Geisteskräfte, durch hervorragende Leistungen, sondern auf industriellem Wege erworben. Welche Subjecte sind nicht berühmt! Glücklicherweise belohnt sich im Aesthetischen, wie im Sittlichen, die That unmittelbar durch sich selbst, durch Steigerung der inneren Potenz, durch schärferes Erkennen der ewigen Verhältniße. Wehe dem, dem dieß nicht genügt! Ich darf hoffentlich so sprechen, ohne mit dem Fuchs, der die Trauben für sauer erklärte, Aehnlichkeit zu erhalten, denn bei den Erfolgen, die ich bis jekt fand, sind mir noch größere ziemlich gewiß, ich rede also nicht von Dingen, die mir unerreichbar | denn auch Ihre Antwort auf meinen lekten Brief ließ sich ein volles sind. Neulich besuchte mich ein italiänischer Abbate, der Judith und Maria Magdalena in's Italiänische übersezt hat; es machte mir Freude, meine deutschen Gedanken in dieser wohlklingenden Sprache zu vernehmen. Kennen Sie die Maria Magdalena? Es wäre mir sehr interessant, Ihre Gedanken über diese problematische Production, die nicht ohne moralische Folgen bleiben wird, wenn ich nach dem Ausruhr, den sie gleich beim Erscheinen erregte, schließen darf, zu hören. Neulich erschien bei Campe ein kleines Büchlein: „Ueber den Einfluß der Weltzustände auf die Richtungen der Kunst und über die Werke Friedrich Hebbels, von Felix Bamberg," das manche richtige Ansicht neben mancher verkehrten über mich und meine Ideen enthält. Vielleicht kommt es Ihnen zu Gesicht. Es würde ganz gewiß für mich ein großer Genuß seyn, wenn ich meine Frau in meinen Dramen sehen könnte. Aber daran ist in Wien nicht zu denken, obglelch das Publicum es wünscht. Zwischen dem Theater, wie es ist, und dem Dichter, der die Kunst zur Trägerin reformatorischer Ideen macht, und nur der ist Dichter, der dieß thut, fließt ein Ocean; zwischen mir und dem Hofburgtheater zu Wien fließt ein doppelter. Alle glauben, es ließen sich Brücken hinüber schlagen, nur ich selbst nicht, wenigstens jetzt nicht. Auf einen der größten Genüße muß ich also Verzicht leisten. Sonst ist meine Frau für die Judith geboren, in ganz Deutschland findet sich für diesen Charakter keine zweite Darstellerin, wie sie. Das hat sie ja auch seit Existenz des Stücks gefühlt und sich seit Jahren Mühe gegeben, es mit Veränderungen, auf die Bühne zu bringen, aber umsonst. Bibel-Personen, Heilige und ähnliches Volk darf hier XII. Wien, den 26. Novbr. 1849. Verehrte Freundin! Es hat mich aufrichtigst gefreut, ein Lebenszeichen von Ihnen zu erblicken. Zwar bin ich selbst Schuld daran, wenn es so lange ausblieb, denn ich hätte Ihnen längst schreiben sollen. Doch, was gerieth im vorigen Jahr nicht in's Stocken! Und eigentlich hatten Sie doch zuerst die großen Pausen in uns're Corespondenz eingeführt, Jahr lang erwarten. Zu Ihrer Verheiratung wünsche ich Ihnen von Herzen Glück. Gewiß gibt es wenig Menschen, die von der Natur bestimmt sind außer der Che zu leben und von diesen Wenigen dürfte Keiner zu beneiden seyn. Die Trennung von Ihrer Mutter hat Sie natürlich schmerzen müßen, aber diesem Schmerz kann eine Tochter nur selten entgehen, wenn sie ihre Bestimmung erfüllen will. Ihren Herrn Gemahl kennen zu lernen, würde mir in jedem Fall sehr lieb seyn; dann lernte ich doch auch Sie endlich persönlich kennen. Und wer weiß, ob ich Sie mit meiner Frau nicht einmal in Ihrer ländlichen Einsamkeit überrasche! Nur müßten Sie mir zuvor etwas Näheres über Weg und Steg mittheilen, denn ich weiß in geographischer Beziehung auf der Erde nicht beßer Bescheid, wie Stiller auf dem Grunde des Meeres. Was mich betrifft, so geht es mir in meinem Hause gut und in der Welt nicht schlecht. Statt des Söhnchens, dessen Geburt ich Ihnen vor drei Jahren anzeigte, erfreut mich ein Töchterchen, das seinen Geburtstag Weihnachten zum zweiten Mal feiert. Meine Frau und ich selbst sind gesund, obgleich Erstere sich sehr anstrengen muß und die Schauspielkunst wahrlich, wenn sie nicht bloß der Gage wegen betrieben wird, am Kern des Lebens zehrt. Es ist Schade, daß Sie sie nicht sehen können; ich spreche nicht als ihr Mann, sondern als kalter Kritiker, wenn ich sage, daß manche ihrer Leistungen eine Reise von hundert Meilen verdient. In Deutschland existirt sie nur einmal, darin sind sie alle einig, und in Frankreich wahrlich auch nicht zwei Mal. Ihre Maria Stuart, ihre Judith, ihre Klara in der Maria Magdalena 2c. wird man nicht wieder erblicken! Meine eigene Thätigkeit ist gleichfalls groß. Bei Gerold in Wien erscheint zu Neujahr von mir eine neue Tragödie Herodes und Marianne, die nach meinem eigenen Gefühl und dem Urtheil der zwei oder drei Kunstrichter, deren Deutschland sich rühmen kann, hoch über allen meinen bisherigen Sachen steht. Ich habe drei Jahre daran gearbeitet und die lekten Scenen geschrieben, während Wien bombardirt wurde. Sie wurde bereits im Frühling auf dem Burgtheater aufgeführt. Vor acht Tagen ging von mir ein Märchen-Lustspiel „Der Rubin" in Scene, das im Sommer, wo ich in Schönbrun wohnte, entstand. Beide Werke brauchen Zeit, um bei der Maße durchzudringen, denn freilich ist mehr hineingelegt, all man im Schlaf wieder heraus nehmen kann. Herodes imponirte, aber er flößte keine Liebe ein. Der Rubin befremdete, doch bei jeder neuen Vorstellung wächset die Theilnahme. Iudith und Maria Magdalena waren früher gedruckt, darum wurden sie schneller verstanden. Judith ist in dreiviertel Jahren 22 Mal wiederholt worden; Maria Magdalena 14 Mal und noch immer hält sich das Hans bis zum Brechen. Weber in Leipzig druckt von mir einen komischen Roman - Schnock, den Ihr Fruder schon kannte. Mir eine sehr liebe Production, das Bild der Welt in einem Stecknadelknopf. Ich mache Sie aufmerksam darauf, er erscheint mit Holzschnitten. Zu alledem habe ich vor vierzehn Tagen die Redaction des Feuilletons der Österreich'schen Reichszeitung übernommen. Es existirt nämlich in Wien nicht ein einziges kritisches Forum, das Achtung verdiente und ein solches will ich gründen. Freilich stört mich das im Hervorbringen und wenn man, wie ich, noch Dukende von großen Dramen im Kopfe hat, sollte man die Zeit für den höchsten Schak halten. Doch, dem Kritik - Unwesen muß ein Ende gemacht werden und was man nicht selbst thut, das geschieht nicht. Darum ging ich endlich auf den schon oft an mich gerichteten Antrag ein. Daß es den hiesigen Sudlern nicht angenehm ist, können Sie denken. Sie suchen mir das Leben schwer zu machen, wie sie nur können. Doch ohne Mückenstiche geht's in der Welt nicht ab. Darf ich Sie bitten, mich Ihrem Herrn Gemahl bestens zu empfehlen und Ihre Familie freundlichst von mir zu grüßen? Auch meine Frau trägt mir einen herzlichen Gruß an Sie und die Ihrigen auf, und bin ich, wie immer Ihr wahrhaft ergebener Friedrich Hebbel. N. S. Adreßiren Sie bloß: Dr. Hebbel in Wien, so trifft mich jeder Brief. Damit ist die Correspondenz Hebbels mit der Familie Rousseau geschlossen. Diese Briefe, im Zusammenhange mit den im 2. Band des Hebbelschen Briefwechsels gedruckten, geben ein schönes Ganzes, das beiden Teilen zur Ehre gereicht. Die Freundschaft zwischen den beiden jungen Männern war ein Verhältnis seltenet Art. Sie hatten sich, wie Hebbel bekennt, nicht zu einem Spaziergang die Hand gegeben, sie waren mit ihrem Herzblut an einander geleimt. Sie drückten nicht vor dem Ernst der Welt die Augen zu, um ungestört mit ihren Blumen zu tändeln; sie feierten ein Bacchanal der Schmerzen. Etwas davon klingt nach in diesen Blättern. Tivoli. von Ludwig Fulda. Wo der Tempel der Sybille - Stiegen wir auf lichten Pfaden, Wo der Bergpfad, übersponnen Plöklich klärte frohes Staunen Kaum gefunden, schon gemieden, Uebermächtig scholl das Toben; |