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Minnesängern, die im Mondenschein oder im Schnee umhers wandeln, unter den Balkonen ihrer Kastilianischen Gebieterinnen Serenaden bringen und die Luft mit ihren füßen von der Man doline begleiteten Gesängen erfüllen. Diese harmonische Mans doline ist nichts als eine Guitarre ohne Boden, mit zwei quits schenden Darmseiten bespannt; die nächtlichen Minnesänger sind Gallego's, eine Art Auvergnaten, welche mit einem Stücke Holz auf den Darmsaiten der Guitarre umherfraßen und Almosen, wenn nicht gar die Börse, verlangen. Nun fage man noch, daß der Spanier ein geborener Musiker sey.

Die Schwester der unvergleichlichen Grisi gab vor einiger Zeit die Hauptrolle in Anna Boleyn; sie war die Perle des Theaters und gefiel außerordentlich; andere nicht so ausgezeich; nete Sängerinnen wie sie, doch mit recht hübschen Simmen auss gestattet, traten mit Beifall in den Hauptrollen der vorhin anges führten Opern auf. Was die Sänger anbetrifft, so verdient nur ein einziger genannt zu werden, ein Franzose, der seinen Namen italianisirt und durch diese List, so wie durch seine glückliche Italianische Aussprache und sein Talent, es dahin gebracht hat, als Kind Italiens mit Beifall überschüttet zu werden; wahr scheinlich ist er auch jeden Augenblick darauf gefaßt, Zeugnisse vorzulegen, die feine Siege auf den großen Theatern Mailands und Neapels bestätigen, die er doch wohl nie mit einem Fuß betreten hat.

Die Jtalidnische Oper wird wenig besucht; bei einer Vor stellung der Norma und der Stummen von Portici zählte ich nur ungefähr 50 Personen im Theater del Prinzipe. Entsteht diese Gleichgültigkeit gegen die Italiänische Musik daher, weil diese Art nicht in Spanien gefällt, oder weil sie schlecht ausges führt wird? Keinesweges, der Spanier liebt weder Italiänische, noch Französische Musik, er ist eben so gleichgültig gegen Norma wie gegen die weiße Dame, gegen Bellini und Rossini, wie ges gen Auber und Boyeldieu. Der Spanier liebt eine Boleros oder Fandango Melodie, eine patriotische Hymne mit Castagnettens und Tambourin Begleitung, auf einer Leyer in einem Kaffees hause ausgeführt; spielet ihm sonst etwas vor, und er wird gah nen, er wird die schönste Musil, wie er sich ausdrückt, al carajo wünschen. Die Spanische Oper, die man in Madrid nicht kennt, foll in Sevilla, Cadir und Malaga mit großem Beifall aufges führt werden. Die beliebtesten Französischen Opern werden, ins Kastilianische übertragen, ebenfalls nur in diesen drei Städten Spaniens gegeben. (Schluß folgt.)

Italien.

Römische Berichte eines Deutschen.

I.

1. Dezember 1838.

Politische Offenbarungen irgend einer Art, wie sehr auch in den gegenwärtigen Verhältnissen Anlaß zu solchen zu liegen fcheint, dürfen doch von hier aus am wenigsten erwartet werden, schon aus billiger Erwägung eben dieser Verhältnisse. Es ist aber auch einzugestehen, daß wir hier in Bezug auf Fragen, die für uns mehr oder minder sogenannte Lebensfragen find, später vermuthlich, als Ihre Leser, Fürcht oder Hoffnung schöpfen, denn unser Bronn springt nirgend als in der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Wer vollends über hiesige Stimmung und allgemeine Meinung, über wichtige öffentliche Angelegenheiten Aufschluß vers langte, der ginge aufs Fischen im Sande aus und verlore sich in ein Feld, darauf nicht der Kaiser nur, nach dem Sprüchwort, fondern felbst auch die Kirche kein Recht mehr zu haben wüßte. Diese Römischen Mittheilungen, deren sich hiermit eine kleine Folge ankündigt, thun deshalb ein wenig verschämt und wollen fich nicht ins Freie wagen, ohne zuvor wegen einiger Zugeständ nisse Papitulirt zu haben. Es möge ihnen zu Gute gehalten wer den, wenn sie allerlei Trivialitäten des Tages mit einschwärzen. Vielleicht wird wegen dessen Entschuldigung nicht einmal begehrt. Denn es gilt ja nicht eine umfassende Charakteristik, welche sich allerdings von der Physiognomie einer Stadt nicht geben läßt, ohne ihre festen Formen, ihre Natur- und Existenzverhältnisse zu schildern. Es ist vielmehr um Skizzen dessen zu thun, das man ihr Temperament nennen könnte, und dies giebt sich in ihrem Mienen und Geberdenspiel zu erkennen, in den leichten und flüchtigen Erscheinungen auf der Oberfläche ihres Gesammtlebens. Es moge jedoch auch erlaubt seyn, des alten Roms und seiner Trümmers Herrlichkeit wenigstens nicht zu schweigen, wiewohl fich Neues darüber, wenn nicht etwa durch Zufall das Resultat einer neuesten Ausgrabung, schwerlich wird beibringen lassen.

Neues überhaupt, wer wollte es in Rom suchen, wer von dort dergleichen erwarten? Alte, ausgefahrene Geleife find es, in denen der Wagen des bürgerlichen und religiösen Lebens Preist, darin dem Sonnenwagen ähnlich, daß er Lag für Tag durch undenkliche Zeiten die fefte, gemessene und immer, felbft in Umwölkung noch, leuchtende Bahn mißt, auch darin, daß er im Jahreslauf den regelmäßig wiederkehrenden Eyllus von Zeiten und Festen durchläuft, und darin, daß er fürwahr in Lüften geht; denn wer möchte es für eine Fahrt auf dem Boden dieser unserer heutigen Wirklichkeit erkennen? Dabei kann sich, wer will, noch einfallen laffen, daß die Sonne, die in Wahrheit stillsteht, nur au gehen scheine. Es grüßt uns das alte, aus unzähligen Pors traiten längst bekannte Gesicht, wenn wir Rom zum erstenmal

wenn auch Vieles ganz unbestreitbar eben so ist, wie bei uns zu Lande, z. B. daß die Sonne nicht Morgens unter und Abends aufgeht, und daß die Bäume nicht in der Luft wachsen und die Häuser nicht auf dem Dache stehen, so hat man doch, trog Nicolai, einige Annehmlichkeiten voraus, wie etwa, daß man am 1. Dezember unter den Rosengebåschen und blühenden Orangen der Villa Mattei (Godoy) im Frack spazieren gehen und Veilchen suchen oder die Sonne hinter den Thermen Antonin's untergehen sehen und dabei sich auch die Zähne stochern kann vom Mahle, welches im Falcone (piazza d. Eustachio No. 56), troß Nicolai, gut und gar nicht theuer ist. Ja, sen auch Alles hier das Alie und dies Alte längst und unzählige Male geschildert und beschries ben, zum Glücke für den neuen Beschreiber ist hier das Alte immer neu und frisch, eine kräftige Wurzel, aus der ein luftig grüner Aufschlag in unermüdlichem Keimen hervorbricht; das Alte ist hier wirklich noch lebendig, und die alte Roma ist auch in dieser Weise immer noch die Ewige. Die Elemente, Kräfte und Triebe, aus welchen und innerhalb deren dies in sich selbst ges gründete und beschlossene Leben verläuft, sind so harmonisch ges mischt und vertheilt, so richtig gegen einander abgewogen und so fein gegliedert, daß kein Feindliches, kaum irgend ein Hems mendes fich einzukörpern und, wo es irgendwo bestände, sich geltend zu machen vermag.

Und wie in der äußeren Gestalt der Stadt mit den bewohn; ten Straßen die Ruinen, mit den vom Verkehr des Tages er: füllten Vierteln die Einsamkeiten der Weinberge, und mit diesen wiederum die Ruinen, und mit dem Allen überall verstreut uns zählige Kirchen sich verweben und zu einem in der Welt gewiß einzigen Gesammtbilde verschmelzen, so fließt das eigenthümliche Leben der Stadt aus gesunder und üppiger Natürlichkeit, aus Resten antiker Sitte, vom Christenthum gewandelt, aus einer in jedem Sinne abgeschiedenen Gelehrsamkeit, aus halbvergorenen modernen Stoffen und aus dem alles dies durchdringenden Aether der frommen Devotion wunderbar zusammen, indessen gar viel Fremdenwirthschaft stets oben auf, doch immer fremd gehalten und eben nur oben auf schwimm:. Die inneren Gegenfäße, so schroff sie ihrer Natur nach, und diese mit dem Maßstab unserer nordischen Natur gemessen, scheinen mögen, sie kommen in so fanften Uebergangen zu einander, daß auch wir Barbaren nicht einmal uns zum Erstaunen berufen finden, vielmehr ganz ges mächlich mit dem Strome treiben. Es macht sich sehr von selbst, · daß gerade auch diese ersten Berichte gleich unter der Influenz folcher behende in einander rinnenden Doppelsterne stehen. Die Theaters Saison ist nämlich zu Ende gegangen, indem wir uns vermerkt in die Adventszeit eingetreten sind. Die Pifferari, welche noch Jahr für Jahr die alte Freude der Hirten bei der Krippe des Christkindes hier erneuern, haben schon längst von vorläufigen Locktonen und von den originellsten Dudelsacks und Klarinetts Passagen die Straßen erschallen lassen, während die lehte Oper des Jahres und der lehte diesjährige, rielleicht, wie man fürchtet, überhaupt der Schwanengesang der beliebten Grifi die musikalischen Enthusiasten im Theater della Valle schaart. Die Gespräche und die Gezwitscher der Conversazioni und der Trattorien drehen sich noch immer um die Grift und die Capuleti und den Belisar und die Donna vom See und die Montecchi und die Grisi, während die endlosen Thurmgeldute, die Messen der Sistinischen Kapelle, die Vespern, Prozessionen und gehäuften Kirchenfeste das Eintreten der heiligen Zeit auf alle Weise merk lich bezeichnen. Opern und Pifferari, Vespern und Sistinische Kapelle! Sie sehen, daß zunächst von nichts Anderem als Musik zu handeln seyn wird. ksjeljna drų gaben

Margherita Pusterla, Roman von Gefare Cantù.

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Aber der schmeichelnde Traum ist bald vorüber, und die Uns glückliche weint noch heißere Thränen, bis die Hoffnung ihr wieder mit einer Engelstimme ins Ohr flüstert: Sie leben Du wirst sie wiedersehen.“ Aber wann? Wie jeder Leidende zum Aberglauben sehr geneigt ist, so zieht auch Margarete aus den natürlichsten Phanomenen tausend Vorbedeutungen: ein Traum ist ihr eine Weissagung wenn jene Spinne ihr Ges webe vollendet hat, wird die Stunde der Befreiung schlagen jeder neue Monat, jede neue Woche, der Wechsel der Jahres seiten, die trüben und die heiteren Lage gaben ihrer Franken Einbildungskraft Stoff zu Träumereien, zu frohen Erwartungen oder bangen Besorgnissen. Besonders wenn ein Feiertag herans naht, schmeichelt sie sich mit der Hoffnung, dieser werde ihr Er: lofung bringen; sie zählt die Stunden, bis er anbricht. Da ers innert sie das fröhliche Geldute der Glocken und das Getümmel der Kirchengånger an die Zeit, wo fie mit unaussprechlichem Seelenfrieden diesen Festen beiwohnte: ein Priester öffnete die Schäße des Wortes, erklärte die Vorschriften der Liebe, der Sanftmuth und Geduld: ein majestätischer, von den vollen Chös ren angestimmter Hymnus, die feierliche Harmonie der Orgeln goß himmlische Heiterkeit in ihre Seele, wie sie keinen irdischen. Genuß begleitet. Aber diese schönen Tage sind jezt für Märgas reten umwölkt und düfter. Sie stüßt ihr Haupt und ihre Händesn an das Gitterfenster des öden Kerkers und fenkt den thrdnen schweren Blick auf jene festlich gekleideten Menschen, die sich in frohem Gewühle nach der Kirche begeben, als wollte sie errathen,

Jene Anderen kehren, nachdem sie Gott gedient, in ihre Das Haus, die Stätte des traulichen Sus Häuser zurück. fammenlebenso, wie viele freundliche Bilder beschwört dieses Wort herauf! wie viele Qualen für den Einsamen, den Verlaffes nen! Sieh dort jene Mutter mit ihrem Knäblein; vielleicht lehrt fie es, zu Gott beten; vielleicht giebt sie ihm einen weisen Rath, oder einen zärtlichen Verweis. Auch ich hatte vordem ein liebes Kind, das mich Mutter nannte, und es war so schön, so lieblich, so unschuldsvoll! Ach, es wäre herangewachsen, ein süßer Trost unferer alten Tage!.... Entfeßlich, vielleicht foll ich es nimmer wiedersehen! Heilige Jungfrau, befreie mich von dieser Qual; gieb mich meinem Gatten, meinem Sohne wieder!"

Hätte man die Unglückliche doch wenigstens der Einsamkeit ihres Kerkers, ihren Gedanken, ihren Erinnerungen überlassen! Der mächtige Bösewicht kam, um Margaretens Tugend noch ein legtes Mal zu erproben; allein er schadete sich selbst, indem er ihr offenbarte, daß ihr Gemahl mit dem Kleinen entflohen fey; denn dadurch wurde die starke Seele des Weibes ganz uns besiegbar und der Schmerz, der auf ihr lastete, etwas erträglicher.

Die Leser dieses Romans werden bei all' der lebhaften Theilnahme, die Margaretens Schicksal erregt, die arme Rosas lia, Ramengo's verstoßene Gattin, nicht vergessen haben. Un fere Sehnsucht, jeden leisen Verdacht, der auf Rosaliens Uns fchuld ruht, gehoben zu wissen, befriedigt der Verfasser sehr glücklich. In der Hoffnung, den flüchtig gewordenen Pusteria verderben zu können, eilt Ramengo feinen Spuren nach und wird auf der Reise durch einen Orian genöthigt, in eine Müllers hütte einzukehren. Von den biederen Bewohnern dieser Hütte erfährt er, daß Alpinolo erst kürzlich hier gewesen sey, und daß sie ihn schon als Kind mit seiner Mutter, die im halflofesten. Zustande bei ihnen anfam, aufgenommen hatten. Die Mutter war bald nach der Ankunft ihren Leiden erlegen; aber ein Dias mantring und eine kleine Börse mit zwei Briefen darin übers zeugen Ramengo, daß jene Unglückliche seine schuldlose Rosalia gewesen, und zugleich erfährt er, daß Alpinolo sein Sohn ist. Stati nun fich selbst anzuklagen, sich selber zu fluchen, kehrt er, als ein verstockter Bösewicht, seine ganze Erbitterung gegen Pusterla.

Der landflüchtige Pusterla kommt nach Avignon, wohin Papst Clemens V. (im Jahre 1305) seine Residenz verlegt hatte. Er erfährt hier, daß Luchino und der Papst wieder versöhnt sind, und muß an dem Schuße Seiner Heiligkeit verzweifeln. Es ers greift ihn eine unwiderstehliche Sehnsucht, heimzukehren, oder wenigstens wieder in der Nähe des heimatlichen Bodens sich zu wissen; und er sollte wirklich seine Vaterstadt wieder betreten, aber in welcher unglückseligen Lage! verrathen von Ramengo, der sich in Avignon fein unbedingtes Vertrauen erschlichen hatte, um ihn rettungslos zu verderben!

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,,Das Schiff, welches Pusterla von Frankreich zurückbrachte, hatte mancherlei Schicksale zu bestehen: Regengüffe, Windsbräute und furchtbare Stürme schienen die unglücklichen von der ersehns ten und unheildrohenden Küste zurückhalten zu wollen. Der kleine Venturino fragt seinen Bater angstlich:,, Vater, warum haben wir jenes Land verlassen? dort standen wir auf festem Boden, Pusterla antwor und das Schiff hier wankt so erschrecklich!" Wie, cet:Das Land, welches wir verlassen haben, ist nicht unser ,,Wo fahren wir aber jest hin?" Vaterland." das weißt Du nicht mehr? Wir gehen ja nach Italien."" ,,Nach Italien? also nach unserem lieben Vaterlande, nicht wahr? Dort finden wir ja Leute, die eben so sprechen, wie wir? Dort wird Jedermann uns kennen. Und die Mutter, werden wir auch mit ihr gleich zusammen seyn?" Die arme Mutter"", verscht Francesco seufzend und mit dem blonden Lockenhaar des Kleinen spielend,ia, wir werden sie sehen, wenn Gott will. Jest bete für fie

,,Endlich, an einem heiteren Frühmorgen, erschien Italiens Küste im werdenden Sonnenstrahl. Francesco betrachtete sie mit einer Art von Andacht, und seine Einbildungskraft, der schwarzen und traurigen Vorstellungen müde, malte ihm nur die freundlichste Bergangenheit, die schmeichelndste Zukunft. Venturino stellte ihm unterdes in seiner kindischen Neugier unzählige Fragen: Was ist das für ein Berg, der dort ins Meer vorspringt? und jener andere, der so hoch und spiß ist? Und jener Gipfel, der wie bezudert aussieht. Liegt etwa Pisa in jenem Meerbusen? Ei, dort kommt ja ein Schiff auf uns zu; fein Segel ist mit einer großen Schlange bemahlt, wie die Fahnen in Mailand!"

Alle So verhielt sich's wirklich: was aber dem Kleinen Freude machte, das erweckte in Francesco finstere Ahnungen. Passagiere eilten auf's Verdeck, um das herannahende Fahrzeug zu sehen; und bald erkannte man das Wappen von Pisa neben bem der Visconti. Als die Schiffe einander so nahe waren, daß man sich gegenseitig verstehen konnte, erfuhr die Mannschaft des Caspio, Pisa habe sich mit den Visconti's von Mailand verbündet, und aus dem Hafen dieser Stadt gingen täglich Schiffe nach Sardinien ab, wo Luchino den Distrikt Gallura durch Erbschaft erhalten habe."

Francesco Pusteria wurde von Ramengo mit teuflischer Freude den Gerichtsboten des Visconte überantwortet, die ihn nach Mailand führten und in den Kerker Porta Romana eins fperrten, wo Margarete seit vielen Monaten schmachtete.

Unter den Bielen, die sich fenen Opfern in der Zeit ihres Glückes dienstbar gezeigt, unter den Bielen, die alle von ihnen empfangene Wohlthaten vergessen hatten, dachten nur zwei an fle. Der befreundete Mönch Buonvicino betete, und Alpinolo

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schwankie zwischen diesem und jenem Plane, um das Nebel, das
sein unkluges Benehmen angerichtet, wieder gut zu machen.
Den Luchino verrätherisch zu tödten, litt fein Gewissen nicht;
einen verdächtigen Menschen, in den Kerker der Pusterla stecken
dagegen wußte er es dahin zu bringen, daß der Fürst ihn, als
ließ. Dort bestach er mit Gold Macaruffo, den Schließer, und
machte, unterstügt von Buonvicino, einen Versuch, die Einges
kerkerten in Freiheit zu sehen. Margherita umarmte ihren
,,Schon ist der erste Korridor zurückgelegt, und die Fliehens
Francesco und drückte den kleinen Venturino ans Herz.
des Kerkermeisters, der die Pforte hinter sich zuschlägt und dann
den gelangen durch einen engen und finsteren Gang in die Küche
einen tiefen Athemzug thut, als wäre der schwierigste Theil des
einem inneren Hofe: man öffnet sie; nur fünf Schritte gegenüber
Unternehmens schon vollbracht. Eine andere Pforte führt nach
befindet sich die äußerste Thur: ist diese auch durchschritten und
der kleine Graben draußen übersprungen, so ist man in Sichers
heit. Die Flüchtlinge lauschen an der Schwelle... rings umber
vernehmen sie keinen Laut. Auf einer kleinen Seitenmauer liegt
eine Schildwache ihrer Länge nach auf dem Bauche und schläft,
den Kopf mit den Armen ftüßend. Sie schlüpfen leise hinaus
und steigen drei Stufen hinab; Margarete kommt aulest mit
Venturino. Jest bricht der Mond durch den Wolkenflor, und
Einer erkennt des Anderen Züge in seinem hellen Scheine.
und inniger Verehrung auf die arme Margarete, die bleich und
Francesco und Alpinolo werfen einen Blick voll Liebe, Mitleid
abgezehrt vor ihnen steht. 3hr verworrenes Haar fällt auf die
Ehrfurcht gebietend."
halb entblößten Schultern; aber noch immer ist sie schön und

Auch der kleine Venturino streit seine blenden Locken zus
er erkennt sie,
rück, um seine liebevolle Trägerin zu sehen
jeine Aermchen um den Hals. Das durchdringende Geschrei
schreit voll Entzücken: Mutter, Mutter! und schlingt ihr
des Kleinen zerstört die leste Hoffnung der Unglücklichen. Sie
Wir können nicht umhin, folgende Betrachtungen mitzus
werden entdeckt, ergriffen und zum Tode verurtheilt.
einwebt:
theilen, die Herr Cantù bei dieser Gelegenheit seinem Romane

,,Wer nach langer und schmerzhafter Krankheit aus den Worten oder Handlungen der Personen, die zu seiner Umgebung von welcher feine Rückkehr stattfindet, der fühlt in diesem gehören, abnehmen kann, daß er bald die Reise antreten müsse, Augenblick eine glühendere Liebe zum Daseyn. Wie ein Schrifts steller, wenn er zum Ziele seines Werkes gelangt ist, dasselbe Blatt für Blatt und Zeile für Zeile wieder durchliest und durch: denkt, so überdenkt und mustert der Mensch am Ziele seines Das Personen, alle die freundlichen Orte vor die Seele, von denen feyns den vollbrachten Lebenslauf; er ruft sich alle die theuren er in furzem fich losreißen soll. Er kann entsagen, kann feinen Geist in die Hände des ewigen Vaters befehlen; aber die Natur verlangt ihre Rechte, und o wie schmeichelt der ermatteten Les benskraft der schwächste Hoffnungsftrah!! Eine augenblickliche. Stärkung nach eingenommener Arznei; ein paar Minuten ers quickenden Schlafes; ein nachlassender Krampf, ein tröstliches Wort des Arztes, ein schmeichelhafter Glückwunsch besuchender ben an seine Genesung zu wecken. Schon malt er sich wieder Freunde reichen schon hin, um in seinem Busen den festen Glau frohen Sinnes eine irdische Zukunft aus.... Bedauernswürdis Entkräftung, das Keuchen und Röcheln des lesten Kampfes ger! im nächsten Augenblick verschlimmert sich sein Uebel: die machen ihn wieder fühllos gegen alles Irdische, und fein ganzes, übriges Schnen ist dem stillen Grabe zugewandt."

Wenn at er der Mensch im Vollgenusse körperlicher und zu verbürgen scheinen, plöslich hören muß, daß Andere ihn zum geistiger Kraft, die ihm langes Leben und ein schönes Alter Lode verdammt haben, wenn er an einem bestimmten Tage, zu einer bestimmten Stunde unwiderruflich aus dem Daseyn schei den foll.... so ist das eine Qual, die von der schwarzesten Eins dem blutigen Schlachtfelde, wo das wogende Gewühl, das vers bildungskraft nicht überboten werden kann. So ist es nicht auf worrene Getummel der Kämpfenden, ein von Zorn und edlem Wetteifer gendhrter Muth alle Sinne und Lebensgeister, in folchem Grade berauschen, daß man die Gefahr verachtet selbst ungewiß, der Widerstand möglich; wo die Unerschrockenheit Totesstreich urplöslich fällt, wenn er ja fallen foll.") Biel wes Ruhm, die Feigheit und Verzagtheit Schande árndtet - wo der der in feinem leck gewordenen Schiffe auf den sturmbewegten niger schrecklich kann auch der Zustand des Seefahrers heißen, Wogen herumtreibt. Eben die Unermeßlichkeit des Meeres und des Himmels hält seine Hoffnung flott; die Geschäftigkeit der Manns der Ges Pumpen in Bewegung fest, hat etwas Stärkendes schaft, welche hier Ballast auswirft, dort ein Leck stopft oder die danke, von vielen Leidensgefährten umgeben zu seyn, ist wohls wir noch die mächtige Hand dessen, der über die tobenden Eles thatig zerstreuend. Und schwindet jede andere Hoffnung, so sehen mente gebietet und jedes Ding zum Besten seiner Geschöpfe lenkt." ,,Aber in der stummen Dede eines Gefängnisses mit dem Bewußtseyn leben, daß jeder Athemzug dem Tode ndher bringt, jeden Fußtritt des heranschreitenden Todesengels vernehmen, ohne ihm wehren oder seine Ankunft vertagen zu können das Bes wußtsenn in sich tragen, daß die Stunde unwiderruflich bestimmt

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*) Sollte dem bekanntlich mit der Deutschen Literatur sehr vertrauten Verfasser hier nicht Egmont's legter Monolog vorgefchwebt haben?

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ist, in welcher ein dir unbekannter Mensch deinen Nacken ents blößen und dich in der Zeit eines Augenblicks in eine entstellte Leiche verwandeln wird.... das ist entseßlich, grauenvoll! In unferem aufgeklärten und menschlicher gewordenen Zeitalter hat die Menschheit darüber nachgedacht, den physischen Schmerz des Verbrechers beim Akte der Hinrichtung zu lindern und abzufürs zen; man hat darüber gestritten und experimentirt, welche Lodess art wohl mit der gelindesten Qual verbunden seyn dürfte das Erdrosseln, das Erichießen oder die Enthauptung, mit jarter Bes forgnis prüfte man die Stärke und Geschmeidigkeit des Strickes, die Nervenftärke der Krieger, welche nach der unbeschüßten Brust ihres Kameraden zielen, die Schärfe des Beiles, das, durch einen menschlichen Nacken fahrend, in einen Kloß eindringen foll. O grausame Ironie! scheinheilige Empfindsamkeit! Wenn der henter nicht Erfahrung und Gewandheit genug befißt, wenn er das Opfer ein paar Augenblicke langer martert, so hört man das versammelte Volt murren; es giebt seine Entrüstung und fein Mitleid auf alle Weise zu erkennen; aber kein Mensch denkt an die viel qualvollere Zeit von einem Tage oder dreien, welche zwischen dem Urtheilsspruche und der Vollstreckung des Urtheils liegt, an jene Zeit, deren einzelne Augenblicke so furchtbar lang fam find, während sie vordbergehen, und doch wieder so furchts bar schnell, wenn man sie zahlt, uachdem sie vorübergegangen."

,,Man wendet ein, dieser Schmerz sey unvermeidlich, und die Gesellschaft habe das Recht, ihre angesteckten Glieder abzus schneiden; aber schon vom Standpunkte der Vernunft beurtheilt, fprechen gewiß eben so viele Gründe gegen die Todesstrafe, als für dieselbe. Wie aber, wenn Menschlichkeit und Religion noch hinzukommen, die Sache des Unglücklichen zu führen? wenn man die hoffnung nahren darf, daß derjenige, dessen Haupt unter dem Mordbeil bluten soll, ein wackerer Bürger und Familienvas ter werden könnte, nachdem er gebessert worden durch die harte Section des Unglücks und die liebevolle der Verzeihung? Und wendet ihr mir ein, daß die Todesstrafe so nothwendig sey, wie der Krieg und manches andere Uebel nun, dann verzeiht mir, wenn ich die Fortschritte einer Gesellschaft, der solche Heilmittel Bedürfniß bleiben, nicht eben bewundern kann. So lange wir noch einen Menschen besolden, damit er einen anderen todts fchlage, so lange die Hinrichtung eines Weitburgers zu den Gegen standen der öffentlichen Schau gehört, scheint mir unsere gepries fene Civilisation noch sehr im Rückstande."..

Von Pater Buonvicino mit geistlichem Troste unterstüßt, hatten Pusterla und sein zarter Sohn dem Gefeß schon Genüge gethan. Als der Schlag des Hammers auf die Glocke Margas reten ihre legte Stunde verkündete, wollte sie aus Buonvicino's Händen noch einmal Absolution empfangen. Niederknieend und die Arme auf der Brust kreuzend, hörte sie mit zerknirschter Res fignation die hehren und trostreichen Worte, welche der ehrwürs dige Geistliche, seine Hände über ihrem gebückten Haupte auss breitend, feierlich aussprach. Seine emporgerichtete Stirn war bleich; aber man las auf ihr die verklärte Heiterkeit dessen, der mit nie wankendem Vertrauen einer höheren Welt jenseit des Grabes lebt. Die Laterne auf dem Bankchen, ihrem Erlöschen nahe, umgoß das Haupt der schönen Betenden von Zeit zu Zeit mit einem Heiligenscheine zitternder Strahlen.

Unterdes eilt das Volk, und mit ihm vornehme Herren und Damen, zu dem blutigen Schauspiel, als wär' es ein Freudens fest. Dicht gedrängt um die Richtstätte und voll peinlicher Uns geduld, verfürst man sich die Zeit mit großem Geplauder, bis die Ankunft der schönen Verurtheilten eine allgemeine hehre Stille erzeugt. Nur ein Augenblick, und der Henker bietet das abges schlagene, noch trampfhaft zuckende Haupt des unglücklichen Weibes zur Schau. Buonvicino, der Margareten die leßten Troftesworte zugeflüstert hatte, blieb, als Alles vorüber war, uns beweglich auf den Knieen liegen. Man rüttelte ihn feine Seele war entflohen. So kehrt der Schußengel des Menschen, wenn dieser zu leben aufgehört, in die seligen Wohnungen zurück, weil seine göttliche Sendung erfüllt ist.

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Es blieb noch ein legtes Opfer, Alpinolo, der seine Hände, nachdem man sie von den schweren Fesseln befreit, an die Lippen drückte und mit der Miene eines Menschen, der sich von seinem theuersten Gute trennt, einen am Finger steckenden Ring küßte. Ramengo, der in der Verkappung eines barmherzigen Bruders mit teußischer Luft die Hinrichtung Margareten's angesehen, ers Pennt an dem Ringe seinen Sohn Alpinolo. Sogleich eilt er in heftiger Bewegung auf das Blutgerüste und widerseßt sich leb haft der Hinrichtung, indem er prahlerisch ausruft, er besige ein Begnadigungs Breve für diesen Verurtheilten. Aber Alpinolo fühlte keinen Beruf mehr zum Leben; er raffte, sobald er seinen Vater erkannt hatte, feine lesten Kräfte zusammen und legte sein Haupt mit wüthender Ungeduld unter das Beil.

Cesare Cantù ist keiner von denjenigen Schriftstellern, die sich damit begnügen, über den ersten besten Gegenstand, der ihnen tauglich scheint, ein Buch in die Welt zu schicken: er fühlt, daß die Literatur dem Gefeße der fortschreitenden Entwickelung Ge nüge leisten, daß derjenige, der sie anbaut, eine Norm, und die Kunst einen Glauben haben müsse. Darum stehen seine, mannig fachen Leistungen in einem verwandtschaftlichen Verhältnisse au einander, fie finden einen harmonischen Anklang in feiner Intellis genz. In der Historischen Encyklopädie" konzentrirt der Vers

faffer die bis dahin zerstreuten Elemente feiner literarischen Tha tigkeit; fie ist, wenn wir uns so ausdrücken dürfen, das Vorges fühl der Schicksale der Literatur, welche jest, nachdem der Sinn für epische Poefte untergegangen, in das Gewand des historischen Roman's und des historischen Drama's sich kleidet. Allein diese beiden Gattungen der Literatur find wegen ihrer Ueberladung mit einer Menge unnüßer, theils rein historischer, theils entstellter oder nur aus der Phantasie hervorgegangener Nebenumstände nur uns vollkommen geeignet, ihrem erhabenen Zwecke zu entsprechen, und scheinen in der wahren Geschichte wieder untergehen zu müssen. Ohne gemeinsamen Beruf", - so sagt herr Cantù in seis ner Vorrede -,,ohne gemeinsamen Zweck und ohne Einheit der Prinzipien ist keine Literatur möglich. Finden wir diese Eins heit in seiner Erzählung wieder? Welches ist das vorwaltende Prinzip in derselben welches Ziel hat er sich gesteckt? Sollte er nichts Anderes beabsichtigt haben, als, denen zu Hülfe zu kommen, die ernste historische Studien scheuen, damit sie durch Bekanntschaft mit einigen der vornehmsten und vielen minder erheblichen Thatsachen die wahre Physiognomie eines sehr kurzen Zeitraums kennen lernen? Oder hatte er gar nur den Zweck ges habt, feinen Lesern Thränen über das Schicksal eines einzelnen Individuums zu entlocken? Sollen wir nicht vielmehr aus der individuellen Sphäre zur sozialen Idee uns erheben - von der einzelnen Thatsache zur allgemeinen Formel, zu dem moras lischen Gedanken, den der Schriftsteller ausdrücken wollte, hinges leitet werden? Bediente sich unser Verfasser der Individualität als Mittel, oder als Zweck? Sollen wir, von der Erzählung ausgehend, das arme Opfer nur unter dem Namen Margarete uns denken? Wir glauben dies nicht. Das Thema scheint dem Schriftsteller von der Humanität selbst und zur höchsten Bereds lung der Humanität eingeflößt. Unschuld und Tugend, durch rohe Gewalt auf die fürchterlichsten Proben gestellt dies ist der Grundton des Ganzen, das fruchtbare Thema, von welchem Herr Cantù eine so reichhaltige und heilsam wirkende Anwens dung gegeben. (Rivista Europea.)

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Mannigfaltiges.

Italianische und Deutsche Gespräche und Unters redungen). Unter diesem Titel liegt uns ein Buch vor, das zu den wenigen Erscheinungen auf diesem Gebiete gehört, die bei weitem mehr halten, als sie versprechen. Wer kennt nicht eines von den vielen Sprach Lehrbüchern, die als,,Trichter", oder als ,,Kunst, in wenigen Stunden Franzöfifch, Italidnisch und alle andere Sprachen zu erlernen", eine treffliche Speculation für die Buchhändler, eine um so schlechtere aber für die Kaufer zu feyn pflegen? Doch nicht bloß von solchen Maufefallen, deren ausgehängtes Stückchen Speck nur die unerfahrenen noch ans zieht, sondern auch von anderen Büchern, die unter ganz ahns lichen Formen, wie das vorliegende, fich ankündigen, unterscheidet fich das leßtere zu seinem Vortheil, wie dies wohl auch schon der Name des Verfaffers verbürgt, der nicht bloß zu den geachtetsten Kennern der Italianischen Sprache und Literatur in Deutschland gehört, sondern auch seine Studien stets mit Rücksicht auf den alls gemeinen Standpunkt der Sprachwissenschaft betreibt. Herr Prof. Balentini hat in feinen,,Dialoghi e Colloquj", denen eine durchs gehends populaire und zugleich gewählte Deutsche Ueberseßung ges genübergestellt ist, einen wahren Hausschaß von wissenswürdigen Dingen geliefert. Mit Gott und der Schöpfung beginnend, gehen die Unterredungen zu dem Menschen und feiner Thätigkeit über, wonächst dann eine wonáchst dann gegeben wird. Nur der umfaßt die Gespräche, deren Inhalt auch in anderen gewöhns lichen Lehrbüchern dieser Art sich findet; die übrigen Abschnitte dagegen, namentlich der über den Menschen im geselligen Les ben fo wie die Unterredungen über Poesie und Musik, über Wissenschaften, Künste und Gewerbe, find wohl nirgends in dhns lichen Werken schon behandelt und dabei auf fo belehrende und fast erschöpfende Weise redigirt worden. Allerdings wird man an ein solches Buch nicht den Anspruch machen, eine Encyklopädie aller Künste und Wissenschaften zu seyn; aber für denjenigen, der sich in der Italianischen Sprachweise unterrichten will, ift es gewiß teine uninteressante Zugabe, bei dieser Gelegenheit über Vieles belehrt zu werden, was er sich sonst in hundert anderen Werken erst zusammensuchen müßte.

eine Beschreibt:,,Der Mensch in Gesellschaft"

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*) Vom Professor, Dr. Valentini. Berlin, Amelang, 1839.

Wöchentlich erscheinen drei Nummern. PränumerationsPreis 22 gr. (Thlr.) vierteljährlich, 3 Thlr. für das ganze Jahr, ohne Er. höhung, in allen Theilen der Preußischen Monarchie.

No 12.

Magazin

für die

Beiblatt der Allg. Pr. Staats-
Zeitung in Berlin in der
Expedition (Friedrichs-Straße
Nr. 72); in der Provinz so
wie im Auslande bei den
Wohlöbl. Pest- Aemtern.

Literatur des Auslande s.

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D.

England.

Die Englische Literatur im Jahre 1838.

(Nach dem Atlas.)

Die Zahl der im Jahre 1888 in England erschienenen Bücher war mindestens eben so groß als in irgend einem früheren Jahre. Der Eifer der Schriftsteller hat nicht nachgelassen, wenn sich auch die Leselust des Publikums neben so vielen anderen Gegenständen, die feine Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen, etwas abkühlte. Die Empörung in Kanada, die innere politische Aufregung, welche das neue Armen Gefeß verursachte, die Irländischen Angelegens heiten und die lebhafte Bewegung unter den arbeitenden Klaffen, die schnellen Fortschritte der Eisenbahn-Speculationen, der Actiens Compagnieen, der mechanischen Erfindungen in allen Zweigen der Gewerbe und Künste, endlich die Ausdehnung der Dampfs schifffahrt über die Gewässer des Atlantischen Oceans sammt den mannigfachen Plänen zu ähnlichen Unternehmungen in der Süds fee und auf den Indischen Meeren, welche im vorigen Jahre auf das Tapet gebracht worden und jest schnell zur Reife gedeihen, dies Alles mußte natürlich von der Literatur abziehen und die Muße zur gelehrten und unterhaltenden Lektüre vermindern. Doch ungeachtet dieser anscheinenden Hindernisse floß der Strom der neuen literarischen Erscheinungen fo voll und rauschend wie je mals, wenn er nicht gar seine frühere Höhe noch überstieg.

Die periodische Literatur hat ohne Frage zugenommen. Mehrere neue Magazine wurden im Lauf des Jahres begründet und herausgegeben. Wie fle alle bestehen können, ist schwer zu begreifen, zumal da die Mehrzahl von sehr zweideutigem Werthe ist. Nicht minder muß es auffallen, daß bei so zahlreichen Ges burten doch so wenig Todesfälle stattgefunden haben. Das Suns denregister war start genug, aber nur sehr wenige der Schuldigen haben für ihre Vergehen mit dem Tode gebüßt.

Das unerhörte Glück, welches die Romane des Herrn Dickens (Boz) machten, war für andere Schriftsteller eine Aufs munterung, fich in demselben Geleise derber Slizzirung und humoristischer Darstellung zu versuchen. So haben wir drei bis vier Dickens statt eines Einzigen erhalten, und fie arbeiten frisch darauf los, fo gut es geht. Findet sich doch immer eine Menge von Bearbeitern, um die Stücken Erz herauszufördern, wenn irgendwo eine neue Metalls der entdeckt ist, und das gierige Publikum nimmt sie alle in Kauf. Freilich können die Nachzügler feine so glückliche Ausbeute mehr machen, wie die ersten Finder. Manchem Abenteurer geht es auch wie Ali Baba: er wird in der Höhle begraben, die er zu betreten wagte, denn es fehlt ihm der Talisman, der Genius, um ihn fammt den Schäßen wieder herauszugeleiten.

Im Ganzen aber ist das Feld des Romans nicht so emfig bebaut worden, wie es vor fünf oder sechs Jahren zu geschehen pflegte, als Mistreß Gore im Zenith ihrer Productionskraft stand und Morier, Bulwer, d'Israeli, Banim und andere beliebte Schriftsteller rasch ein Wert nach dem anderen lieferten. Die Begierde nach Erzählungen aus der feinen Welt und nach histos rischen Romanen scheint fast erstorben zu seyn, und selbst Sir Lytton Bulwer, der geistreichste und talentvollste Novellist anses rer Zeit, hat lange Zwischenrdume awischen seinen Romans Dich tungen verfließen lassen und feinen Genius einem anderen Dienste gewidmet, der periodischen Literatur und der Bühne. Der Buch handler Bentley, der als Verleger vermöge seiner Erfahrung in die fer besonderen Klaffe von Werken ein guter Gewährsmann für die Beurtheilung des Werthes if, in welchem sie stehen, hat kürzlich den Preis neuer Romane um 20 pCt. herabgefeßt, woraus man ersehen kann, daß dieser Artikel, um einen Handelsausdruck zu gebrauchen, in feinem Cours sehr gesunken ist. Indeß der frühere Ladens preis der Romane war auch so übertrieben, daß man sich eher wuns dern muß, wie er sich so lange erhalten konnte. Das theuerste Buch, das je aus der Presse hervorging, war ohne Vergleich ein neuer Roman. In jedem anderen sache der Literatur konnte man eben so viel Druck und Papier zu der Hälfte des Geldes haben, und während die wichtigsten Werte der Forschung, der praktischen Belehrung und der fleißigen Sammlung täglich zu dem wohls feilsten Preise erschienen, bei dem, wenn der Verkauf sehr stark mar, bochstens die Deckung der Kosten und ein ganz geringer Uebers bus für den Autor gewonnen werden konnte, war der Kos

man so theuer, daß selbst ein unbedeutender Absah reichen Ges
winn bringen mußte. Man vergleiche nur einmal die Kosten
und den Ladenpreis eines Bandes der ,,Penny Cyclopɗdia" oder
von,,Lardner's Cyclopedia" mit denen eines Mode Romans.
Den einen bekömmt man, eng gedruckt und voll nüßlicher Be
Spasien, großen Typen und gewaltigen Rändern, kostet etwa
lehrung, für wenige Schillinge; der andere, mit seinen weiten
fünfmal so viel.

An Gedichten war das Jahr so fruchtbar wie irgend eines;
fie find so allgemein wie die Luft und werden auch in jeder Bes
ziehung mit derselben Gleichgültigkeit genoffen. Die Zahl der
Gedichte, die im Laufe eines Jahres gedruckt werden, ist der
klarste Beweis von dem unkaufmännischem Geißte der Dichter,
denn es wäre ein enthusiastischer Irrthum, wenn man wähnte,
daß eines unter hunderten seine Kosten gedeckt hätte. Aber auf
Er ist ein Licht wie andere Lichter, die sich selbst verzehren, wdh;
dergleichen achtet kein Dichter. Für Ziffern hat er feinen Sinn.
rend sie die Welt erleuchten. Unter der Masse von Verskunfts
lern, die uns im vorigen Jahre mit ihren Schöpfungen beglückt
haben, befinden sich nur zwei, die auf literarischen Ruhm wohl
Anspruch machen könnten: Martin Farquhar Tupper und Mond
ton Milnes. Doch auch diese glanzenden Talente sind nicht ohne
Malel davongekommen: der Erstere ist von,,Blackwood's Mas
Christabel zu vollenden, und der Lestere wird der,,Eclectic
gazine" gegeißelt worden, weil er sich unterfangen, Coleridge's
Review" für die besondere Aufmerksamkeit, die sie ihm geschenkt
fer flüchtigen Uebersicht die treffliche Ueberseßung des ,,Mabinos
hat, nicht sehr zu danken haben. Nicht zu übergehen ist bei dies
gion" von Charlotte Guest), als ein wohlgelungener Bersuch,
die alte Wälische Poesie der Vergessenheit zu entreißen. Eben
so wenig fónnen wir die Dichter vorüberlaffen, ohne ein Wort
zum Andenken 2. E. L.'s**) zu sagen. Ihr Tod hat in den lites
rarischen Kreisen allgemeines Bedauern erregt, und die Umstände,
unter denen er erfolgte, fann man nicht ohne Schmerz betrach
ten. Daß sie als Dichterin überschäst worden, und daß der
falsche Geschmack und die lächerlichen Schmeicheleien ihrer Kris
fie besaß viele Eigenschaften, die sie über die gewöhnliche Linie
tifer ihr Talent irregeleitet haben, läßt sich nicht leugnen, aber
reiche Phantasie und lebhafte Empfindung. Der größere Theil
ihrer Zeitgenossen erhoben: außerordentliche Leichtigkeit, eine
ihrer Gedichte ist nur leider durch krántliche Lebensansichten ges
fende als unwahre Leidenschaftlichkeit. Doch hatte sie eben erst
trübt, noch mehr aber durch eine thorichte, eben so ausschweis
die Jahre erreicht, wo etwas Besseres von ihr zu hoffen war,
und wo man erwarten konnte, daß ihr Geist, der bei gehöriger
Leitung und Ausbildung das Edelste zu leisten vermochte, einen
dauernden Ruhm erringen werde. Wenige Schriftfeller ihrer
Zeit sind mit solchem Beifall aufgenommen worden und haben
so schöne Hoffnungen erregt.

Bu den literarischen Erscheinungen des verflossenen Jahres Die interessanteste darunter möchte eine Sammlung ausgewähl gehören auch eine Menge neuer Ausgaben diterer Werte. ter Stücke aus den Schriften des berühmten Jeremy Collier feyn, jenes wilden, verwegenen Satirikers aus der Zeit Karl's II. Schriften von neuem aufgeweckt worden, und die vergessenen Auch von Milton und Locke sind einige ihrer unbekanntesten Gedichte Ben Johnson's, feine Masken, Unterhaltungen und ans dere Stücke, haben in eine neue Ausgabe seiner Werke wieder Aufnahme gefunden. Von allen diesen Abdrücken verdient jedoch Wiederaufleben des Geschmacks unter dem Englischen Publikum, keine so allgemeine Aufmerksamkeit und zeugt so sehr von dem wie die neuen Ausstattungen, in denen Shakespeare erschienen

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S. Nr. 146 des Magazins vom vorigen Jahre.

**) Unter dieser Chiffre schrieb die ehemalige Mis Landon, nachherige Mistres Maclean, die vor kurzem zu Cape-Coast-Castle an der Afrikanischen Küste, wohin sie ihren Gatten begleitet hatte, nach einer Ehe von wenigen Monaten an einer Bergiftung ihr Leben endete. Noch schwebt ein geheimnisvolles Dunkel über ihrem Tode. Man spricht von getauschten Hoffnungen, Eifersucht, för perlichen Leiden, von vorfaßlich genommenem, von beigebrachtem Gift. Die Aerzte haben nachgewiesen, daß sie ihr keine bei unvorsichtigem Gebrauch le bensgefahrliche Arznei verordnet. An trüben Ahnungen und Borboten des Todes hat es nicht gefehlt, wenn auch andererseits wieder Zeugnise scheinbarer Gemüthsruhe und Unbefangenheit vorliegen. Zu den ersteren gehört besons ders eine Elegie von hoher Schönheit, der Polarstern", welche die unglück liche Dichterin kurz vor ihrem Ende an ihre Freunde in England richtete, und die von den öffentlichen Blättern jest mitgetheilt wird.

ift. Es sind in diesem Augenblick nicht weniger als drei bis vier verschiedene Ausgaben von Shakespeare's Dramen unter der Presse; obenan steht der,,Shakespeare mit Kupfern" (pictorial Shakespeare), nicht nur wegen seiner Schönheit und Kostbars feit, sondern auch wegen der talentvollen Kritik, durch die sich die darin vorgenommenen Verbesserungen auszeichnen. Der Herausgeber hat entdeckt, oder vielmehr, er hat die Leser darauf aufmerksam gemacht, daß Shakespeare seinen Namen Shakespere schrieb, ohne a, und er hält sich an diese Orthographie, die nun auch anderweitig schon angenommen worden. Indeß dürfte doch wohl, troß dem Britischen Museum, die vollere Schreibart von den Meisten beibehalten werden. Zu der erneuerten Popularität des Shakespeare kann England sich nur Glück wünschen. Vor einiger Zeit erschien ein Buch zur Erklärung der geheimnisvollen Bezüge in den Sonnetten, und seitdem hat sich die Forschung auch auf manche andere Punkte in dem Leben, Charakter und Genius dieses Dichters gewendet, die bisher entweder unbeachs tet vorübergegangen oder nicht hinreichend ergründet worden. *) Unter diesen Versuchen ist einer der scharfsinnigsten eine Reihe von Auffäßen, die kürzlich in einer Zeitschrift eröffnet wurde, und worin die,,unentwickelten Charaktere" aus Shakespeare's Stücken hervorgehoben und betrachtet werden, die Personen, welche nicht auf der Bühne erscheinen, nicht mit agiren, sondern von denen nur im Verlauf des Stücks nebenbei gesprochen wird, und die also gleichsam in den Falten von Shakespeare's Dichters mantel verborgen liegen. Dieses Unternehmen ist vielleicht die schwierigste und anziehendste von allen Shakespeare Kritiken.

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Das Fach der Reisen aber übertrifft alle andere Klassen der Literatur an Fülle und Ergiebigkeit. Sehr natürlich, denn mit dem Dampf und den Eisenbahnen strecken wir unsere Arme über die Welt aus und finden überall neue Gegenstände zu unters suchen und zu beschreiben. Der Orient wird uns bald bekannt fenn wie Boulogne; Afghanistan ist jezt an die Reihe gekoms men, nach allen Winkeln hin durchstöbert zu werden. Persien und Aegypten sind uns nicht fremder als der Rhein und die Schweiz; und die Freistaaten am Stillen Ocean, die auch nach ftens von Dampfboten berührt und von Straßen durchschnitten werden sollen, dürften nicht dahinter zurückbleiben. Wohin irgend die Winde eine Feder wehen können, da führen fie auch Reisende hin, und wohin Reisende kommen, bringen sie Papier und Dinte mit, und wo es Papier und Dinte giebt, werden Bücher geschmiedet, daß die Repositorien knarren und die Biblios theken anschwillen. Mit dem neuen Jahre hat die Schriftstelles rei nicht nachgelassen; im Gegentheil, mit jeder neuen Sonne tauchen neue Bücher empor, wenn nicht eben so glänzend, so doch eben so unausbleiblich. Nur die Geschichtsschreiber, wenn es deren in England überhaupt noch giebt, sind trage und res gungslos, während Dichter, Rovellisten, Reisende, Sammler und Bücherfabrikanten aller Art mit einer Emsigkeit schaffen, wie die Bienen in ihrem Korbe. Möchten sie uns nur auch eben so rei nen und füßen Honig bringen.

Resultate der Schädellehre.

Zu dem Besten und Geistvollsten, was in neuerer Zeit ges gen die Anhänger der Schädellehre geschrieben worden, gehören awei eben in England erschienene kritische Würdigungen dieser Doktrin, die eine von dem Engländer Dr. Roget, die andere von dem Amerikaner Dr. Sewall, die von der Art sind, daß man Jedem, der nach ihrer Durchlesung noch ferner auf die Theorieen jener phantastischen Wissenschaft schwört, in seinen eigenen Jars gon eingehend, das sogenannte Kaufalitäts Organ ganz absprechen und dafür ein anderes in desto höherem Grade zuschreiben muß, das aber zu unserem Erstaunen unter den geistigen Fachwerken der Phrenologen nicht figurirt, nämlich das Organ der Leichts glaubigkeit. Dr. Roget dußert sich unter Anderem so: "Wir wollen nicht die Waffen des Spottes gegen ein System zu Hülfe nehmen, das demselben so viel Blößen giebt, daß Swift darin, neuen Stoff für seine Geschichte der Philosophen von Lagada ges funden hatte. Die einfache Beschreibung des fandigen Bodens, der den Bau des Systems trägt, der schwachen Materialien, aus denen es besteht, und der unhaltbaren Weise, in der dieselben zus fammengefeßt find, wird den Lefer in Stand seßen, von selbst auf die Brauchbarkeit und Solidität des Ganzen zu schließen. Zuvorderst ist kein direkter Beweis dafür gegeben, daß irgend ein besonderer Theil des Gehirns bei den Operationen des Geistes unentbehrlich ist. Vielmehr giebt es keinen Theil im Enkephas lon, den man nicht geschwächt, zerstört oder ganz abwesend ges funden, ohne daß zugleich in dem Empfindungss, dem Denkvers mögen und dem Charakter eine merkbare Veränderung stattges funden hätte. Hall hat uns eine reiche Sammlung von Beobs achtungen gegeben, die sich hierauf beziehen und deren Ergebniß uns genügend scheint, den Fundamentalsaß der Phrenologen ums zustoßen. Spursheim fucht vergebens dies Resultat zu umgehen, indem er gegen die Beobachter jener Falle die allgemeine, grund

Gewik darf sich Deutschland einen nicht geringen Antheil an dieser Rückkehr der Englander zu ihrem lange Zeit vernachläftigten Shakespeare bei: menen. Man mochte am Ende doch darüber erröthen, die Bewunderung und geistige Durchdringung des größten unter den eigenen Nationaldichtern nur einem verwandten Volkskamme zu überlassen, der noch immer fortfährt, diese unversiegbare Quelle der Poetie für sich auszubeuten, theils, wie Regis, Kaufmann und Andere, in neuer Uebertragung und Erklärung, theils, wie

lose Beschuldigung der Ungenauigkeit erhebt oder indem er zu dem Prinzip der Doppels Eriftens jedes Gehirns Organs die Zus flucht nimmt, einem Prinzip, das bei einem so unsicheren Gegens stand, wie die Physiologie des Gehirns, von sehr zweifelhafter Anwendung ist.,,Jeder fühlt, daß er vermittelst seines Gehirns denkt": damit foll uns bewiesen werden, daß das Gehirn das Organ des Denkens ist; aber wir zweifeln sehr, ob irgend Einer von Natur dies Gefühl hat. Die besten Gründe, die man für den Sah anführt, daß die verschiedenen Fähigkeiten des Geistes durch verschiedene Theile des Gehirns repræsentirt werden, find der Analogie entlehnt. Nun ist die Analogie nur ein unzuvers lässiger Wegweiser zur Erkenntniß unbekannter Kräfte und Oper rationen der Natur, am wenigsten aber ist sie allein geeignet zur Begründung eines umfassenden Systems. Aus den Thatsachen, die wir mit Sicherheit in dem einen Gebiet der Natur kennen, läßt sich vermittelst Analogie höchstens vermuthen, wie es in dem anderen Gebiet möglicher Weise aussehen mag; aber ans nehmen, daß eine solche Analogie gleichen Werth habe mit dem positiven Beweis, der sich nur aus direkter Beobachtung ergiebt, ist eine grobe Verlegung der Logik, obgleich solche Annahmen es find, worauf die Herren Hall und Spurzheim ihre Fundamens talsäge zu gründen wagten."

Die Phrenologie hat das Eigenthümliche, daß der, welcher zum ersten Mal an sie herantritt, sich nicht über ihre Schwierigs feiten, sondern über die Leichtigkeit wundert, womit sie jede Er. fcheinung erklärt. Wie geschmeidig ihre Doktrinen sind, beweist besonders der Einfluß, den wir der Gewohnheit oder Erziehung auf die natürlichen Anlagen zuschreiben dürfen. Die verschiedene Größe der Organe läßt nicht die erworbenen, sondern die natürs lichen Fähigkeiten und Neigungen erkennen, während der Mensch das, was er im Leben wirklich ist, erst wird durch die sittliche und intellektuelle Ausbildung, die den letteren geworden. Wann fónnen wir aber die Geschichte der geistigen Entwickelung eines Individuums so ins Einzelne verfolgen, daß wir zu bestimmen vermogen, in wie weit Leben und Erziehung auf die Kraft und Aeußerung jedes Organs eingewirkt hat, oder nach welchen phys fischen Kriterien können wir die lebendig wirkende von der blok möglichen und verborgenen Fähigkeit eines Organs unterscheiden? Sobald wir diese Unterschiede nicht mit Genauigkeit angeben können, ist es klar, daß der Boden aller kranioskopischen Beobs achtung unter unseren Füßen schwindet. Man tönnie zwar an führen, daß in jeder Lebensperiode und selbst dann, nachdem die Knochen des Schädels sich konsolidirt haben, die Organe an Ums fang zus oder abnehmen, je nach der Uebung oder Vernachläjfis gung der damit verbundenen Fähigkeiten, und in der That, wenn dies der Fall wäre, würde unsere Erfahrung auf viel festerer Grundlage ruhen, als wenn die Form der Organe nur das urs sprüngliche von der Natur ihnen mitgegebene Gepräge beibes hielte. Aber die Annahme, daß die Gehirnorgane durch die Úebung ihrer natürlichen Fähigkeit neue Stärke erwerben, wurde von Dr. Spurzheim ausdrücklich als unhaltbar verworfen, wie auch alle Phrenologen dagegen find.

Es ist nicht schwer, die Fortschritte zu erklären, welche die Phrenologie unter der zahlreichen Klasse von Personen gemacht hat, die darin eine Quelle angenehmer Beschäftigung finden; denn erstens übt sie ihren Wiß in der Auffindung treffender Aehnlichkeiten, und zweitens schmeichelt sie ihrer Eigenliebe durch die Einbildung, daß sie tief in die Geheimnisse der Pinchologie eindringen. In den leßten zwanzig oder dreißig Jahren haben verschiedene populäre Schriftsteller und zahllose Vorleser die Dols trinen der neuen Philosophie vor staunenden und bewundernden Versammlungen entwickelt, der vielen Schriften zu geschweigen, wo sie ihre Beredsamkeit über denselben Gegenstand glänzen ließen, und der Fälle, wo sie Gelegenheit hatten, ihr Geschick in der Charakteristik verschiedener Schädel zu üben. Bei dem Allen ist es ein Wunder, nicht daß die Phrenologie den Beifall gefuns den hat, von dem so viel Rühmens gemacht wird, sondern viels mehr, daß sie nicht rasch eine allgemeine Anerkennung gewonnen; denn wäre sie eine reelle Wissenschaft, wie die Chemie und ans dere Zweige der Naturwissenschaften, so hätte es ihr nicht feh len tönnen, daß man fie allgemein für wahr anerkannt. Unsere Zeit zeichnet sich gerade nicht durch Mangel an Leichtgläubigkeit aus, noch ist sie eine solche, wo eine Doktrin wegen ihrer Neus heit oder Extravaganz verfolgt wird, und daher können wir nur lächeln, wenn wir hören, wie sich die Anhänger des Gallschen Systems über Verfolgung beklagen und unsere Zeit in dieser Hinsicht mit dem Jahrhundert vergleichen, wo Galileo durch feine großartigen Speculationen in die Hände der Inquisition gerieth, oder gar, wenn sie es versuchen, die Dogmen der Phres nologie den Entdeckungen über den Blutlauf und die Analyse des Lichts an die Seite zu seßen, wodurch die Namen Harvey's und Newton's unsterblich geworden."

Von diesen gewichtigen und eindringlichen Bemerkungen wenden wir uns jest zu den nicht weniger scharfen anatomischeu Forschungen des Dr. Sewall. Dieser giebt uns die phrenolos gische Karte des Schädels mit seinen vierunddreißig Organen, nämlich neun Neigungen, siebzehn Anschauungsorganen und acht Verstandesäußerungen, wobei das Sprachorgan im Auge, statt im Munde, Schlagfertigkeit hinter dem Ohr, statt in der Faust, zu finden ist, u. f. w. Sodann giebt er die Geschichte der Phres nologie und die phrenologischen Definitionen jener vierunds dreißig Organe, deren es früher zwei und dreißig gab und zu denen man noch neue vorgeschlagen hat als Erweiterung dieser

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