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handle. Was konnte Monseigneur wollen? erlauben oder vers bieten? spornen oder mißbilligen? Der junge Mann erschöpfte fich in Vermuthungen. Er wußte auch selbst nicht einmal, was er wünschen oder was er fürchten solle? Bald wäre es ihm lieb gewesen, wenn ein direktes Verbot seiner Angst auf ehrenvolle Weise ein Ende gemacht, und bald sah er mit Schmerz und Verzweiflung ein solches Verbot voraus:,,Man hatte mich nicht rufen lassen", sagte er,,,um mir eine Autorisation zu geben, die ich nicht verlangte; dann wäre es ja genug gewesen, mir nichts in den Weg zu legen." Mit Mühe hielt er einige heiße Thränen zurück. Als er dem Erzbischof vorgestellt ward, athmere er faum. Senen Sie willkommen, mein Herr“, sagte der Prälat, und er winkte ihm, daß er Play nehme. Dann fuhr er fort, ohne ihn anzusehen, indem er bei jedem Theil seines Saßes inne hielt: Ich habe gehört, daß Sie heute bei Frau von Rambouillet eine Predigt aus dem Stegreif halten sollen. Ich gestehe, die Sache schien mir etwas seltsam. Ich habe gerade nicht die Absicht, es zu verhindern. Aber dachten Sie auch wohl darüber nach, was Sie thun wollen? Eine Predigt in einem Salon! Eine Predigt an der Stelle der Sonnette und Madrigale, die es alle Abend im Hotel de Rambouillet regnet! Sie müssen befürchten, den Einen ein Aergerniß zu geben und die Anderen auf Ihre Kosten und, was noch schlimmer ist, auf Kosten der Religion zu belustigen."

Monseigneur...." Ja, ich verstehe, Sie wollen fagen, daß Sie nicht der Urheber dieser Idee find; aber sie ist Ihnen doch nicht unangenehm.“ Der junge Mann erröthete.,,Indef", fuhr der Bischof fort,,,dies ist ein Punkt, den Sie mit Ihrem Gewissen abzumachen haben. Ich wiederhole nur, was ich vors hin gesagt: die Sache ist eine so ungewöhnliche, daß man Ihnen nie verzeihen wird, dergleichen versucht zu haben, sobald Sie nicht mit Ehren bestehen. Man macht bei Frau von Rambouillet viele mittelmäßige Verse, die aber doch gut aufgenommen wer den; bei Ihrer Predigt aber giebt es keine Mitte: entweder es ist ein Triumph oder eine Niederlage. Haben Sie auch dies Alles bedacht?" ,,Vielleicht nicht genug, Monseigneur; jedoch

wenn ich wagen darf, es zu fagen.... ich glaube nicht, daß diese Rücksicht mich abgeschreckt hätte. Ich habe nie die Ehre gehabt, die Kanzel zu besteigen, und vor sechs oder sieben Jahren kann ich daran nicht denken; aber... ich habe mich viel geübt...." Und mit Erfolg, wie man sagi", unterbrach

der Prälat.

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Der junge Mann hatte schon fast seine ganze Sicherheit wiedergefunden; dieses kleine Lob gab sie ihm vollends zurück. Allmålig ward die Unterhaltung immer lebendiger. Der Erzs bischof fragte ihn über eine Menge Gegenstände aus; es kam fogar zu einem kleinen Disput über eine Stelle des heiligen Augustin. Nicht umsonst hatte Herr von Gondi in seinen alten Büchern geblättert: er zitirte Stellen, mehr als nöthig war, um au dem Schluß zu berechtigen, daß er sich noch mit Theologie beschäftige, aber nicht genug, um seinen Gegner zu verwirren: denn so unvorbereitet dieser auch war, wußte er doch mit bes wundernswerther Kunst Saß mit Sag und Schriftsteller mit Schriftsteller zu widerlegen. Bei jeder neuen Antwort mußte man die Schärfe seines Geistes und die Lebendigkeit seiner Phantasie bewundern: er sprach vom menschlichen Herzen wie ein Greis, von der Beredsamkeit wie ein vollendeter Redner, vom Seelenhirtenamt wie ein in den geistlichen Functionen ergrauter Priester. Herr von Gondi hatte bemerkt, ein wahrer Prediger muffe weniger zu gefallen, als zu rühren suchen.,,Seven Sie unbesorgt, Monseigneur", erwiederte er; fenen Sie unbesorgt. Ich will diesen Abend daran denken. Goit gebe mir nur seinen Beistand, und es sollen in dem Salon der Frau von Rambouillet Thränen fließen." Und sein Gesicht nahm bei diesen Worten einen fo würdigen und erhabenen Ausdruck an, daß der gute Erzbischof, der die Augen fest auf ihn gerichtet hatte, feine Worte mehr fand. Der Abbé bemerkte dies und erröthete noch mehr, als das erste Mal:,,Verzeihen Sie mir", sagte er, die Augen niederschlagend;,,ich vergeffe, zu wem ich rede .... finden mich gewiß sehr kühn...." ,,Muth, mein Sohn; Muth!" fagte Herr von Gondi;,,ich liebe dieses Feuer bei einem jungen Menschen. In nomine Demosthenis et Ciceronis ego te absolvo!" Und bei diesen Worten machte er das Zeichen, womit die Priester die Absolutionsformel zu begleiten pflegen. Der junge Mensch beugte ein Knie, küßte ihm die Hand und 30g sich zurück. Sie waren Beide mit einander ganz zufrieden. Der Leser verzeihe uns diese beiden Abschweifungen vom Hotel de Rambouillet. Sie waren nothwendig, um ein Bild von dem Helden unserer Soiree zu geben.

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Sie

Madame de Rambouillet, eine Frau von echter, aber etwas skrupulöser Frömmigkeit, billigte nicht ganz, was in ihrem Hause vorgehen sollte: wenig fehlte, daß sie einen Skandal darin sah. Doch da fie es nicht wagte, sich dem fast einstimmigen Wunsch der Gesellschaft zu widerseßen, fo wollte fie wenigstens den Schein retten. Es wurde bestimmt, daß die Damen sich einfach Fleiden, daß die Violinen, die alle Abend da waren, abbestellt werden, und daß man den ganzen übrigen Abend weder Verse noch Prosa lesen solle. Man ließ aus der benachbarten Kirche hundert Strohstühle bringen, und zwei Arbeiter zimmerten den ganzen Tag an etwas, das einer Kanzel nicht undhnlich war. Rechts erhob sich ein großes Krusifir, und in einem zur Gas Priftei benußten Kabinet erwartete den Redner ein weißer Chorrof.

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Die Versammlung war früh vollständig. Die Freunde des Hauses hüteten sich, ein so neues Schauspiel zu verfäumen, und

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Feuquières von der rühmlichen Prüfung, die fein Schüßling bes stehen sollte, in Kenntniß gefeßt. Der Prinz von Condé hatte alle seine Freunde mitgebracht, und der Vicomte de Turenne war, obgleich Protestant, einer der Ersten, die sich einstellten, nachdem er gehört, daß keine Messe seyn würde.

Die feine Gesellschaft jener Zeit ging leicht und ohne Skru pel von den Freuden der Welt zu der Erfüllung religiöser Pflich ten über; man verstand es, dem Sprüchwort zum Troß, Gott und der Welt zugleich zu dienen. Ob Gott immer den besseren Theil hatte, ist sehr zweifelhaft; doch man ging immer erst zur Messe, ehe man sich zum Ball ankleidete; man nahm von einem Fest zum anderen den äußeren Schein, eines Klosterlebens an. Viele begnügten sich nicht einmal mit dem Schein, sondern was ren, wenn auch nur für eine oder zwei Stunden, echt und innig fromm. Doch diese Klasse von Menschen hatte in unserer Ver fammlung nicht die Majorität. Man sprach nicht so laut als ges wöhnlich; die Veränderungen am Mobiliar des Salons hatten das Ihre dazu beigetragen, eine gewisse Gravität in der Gesellschaft zu erhalten. Da Frau von Rambouillet die Sache so ernst nahm, so fürchtete man, ihr zu mißfallen. Aber die Gewohnheit trug den Sieg davon; man erinnerte sich an das gewöhnliche Möbel, und diese Vergleichung, statt das Auditorium religiós zu stimmen, erregte nur die heimliche Heiterkeit aller jungen Leute, die anwesend waren. Der Redner selbst sah diese sonderbaren Zurüstungen nicht ohne Befremden und war nicht sehr damit zus frieden. Das war kein Salon mehr, aber noch weniger eine Kirche. Nie ward eine Predigt in so ungünstiger Stimmung

erwartet.

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Herr von Montausier durchlief die Reihen mit einem Hut in der Hand, in welchen etwa zwanzig Bettel geworfen wurden. Das war wieder, Stoff zum Lachen: es sah aus, als wenn ein Kirchendiener Almosen sammie, und der edle Sammler selbst, der dies eben so gut merkte, wie die Anderen, hatte Mühe, seis nen Ernst zu bewahren. Für die Armen!" sagte er leise zu einer Dame, der er den Hut hinhielt.,,Für die Armen an Geist!" fügte ein schlechter Spaßmacher hinzu, und ein halb ersticktes Las chen durchlief dieje ganze Seite des Salons. Uebrigens verries then gewisse Blicke, die man sich während der Kollekte zuwarf, daß man gegen den armen Redner eine Verschwörung gebildet, daß man sich gegenseitig das Wort gegeben, ihn durch dunkele, schwere Themata in Verlegenheit zu bringen. Daher die ges tduschte Hoffnung, die sich auf mehr als einem Gesicht blicken ließ, als eine Dame die schönen, einfachen Worte aus dem Prediger Salomonis:,,Eitelkeit der Eitelkeiten, Alles ist Eitelkeit", aus dem Hut zog.

Der Redner war hinausgegangen; man rief ihn zurück. Er nahm den Zettel; seine Hand zitterte. Aber kaum hatte er einen Blick darauf geworfen, als eine lebendige Röthe seine Wans gen farbie und er die Augen halb zum Himmel erhob. Die Boshaftesten in der Gesellschaft unterließen nicht, dies als ein Zeichen seiner Angst auszulegen; aber die ihm zunächst Stehen: den konnten in seinen Zügen leicht einen Ausdruck der Freude und der Hoffnung lesen. Er schöpfte Athem; eine ungeheure Last war von seiner Brust genommen. Von Furcht war keine Rede mehr: er war seiner sicher. Er hatte im Nu den ganzen Reichthum feines Gegenstandes übersehen, er hatte berechnet, welche Fülle von Lehren, Bildern und Gedanken jeder Art in den furchtbaren und erhabenen Gegensäßen zwischen Ruhm und Nichts, Uebermuth und Fall, den Lüften der Welt und den Schrecken des Grabes lag. Dies Alles schickte er sich jezt an, mit dem ganzen Freimuth des Genies vor einem Publikum von Wollüftlingen und Reichen zu entwickeln. Er selbst hätte zu seinen Gunsten nicht besser wählen können. Auch benuste er nicht die Viertelstunde, die man ihm zur Vorbereitung bewilligt, sondern schritt sofort auf die Kanzel zu und stieg mit sicherem Tritt hinauf. Man sah sich schweigend an, das war schon mehr, als man erwartete: die Lacher hörten auf, zu lachen, die Anderen fühlten ihr Herz klopfen. (Fortseßung folgt.)

Der Pariser Gewürzkrämer (L'Epicier).
(Schluß.)

Ein Spieler hat Alles verloren und will seinem Leben ein Ende machen; er muß sich an den Gewürzkrämer wenden, der ihm Pulver, Kugeln, Arsenik verkauft; der lasterhafte Mensch will sein Glück wiederum versuchen, und der Gewürzkrämer liefert ihm Katten. Es kommt eine Frau, Eure Frau, und Ihr · könnt Ihr ohne Beihülfe des Gewürzkrämers fein Frühstück vor: feßen; macht sie sich einen Fleck in das Kleid, so muß man ihn wieder mit Seife und Pottasche zu Hülfe rufen. Rufft Du in einer schmerzbewegten. Nacht nach Licht, so reicht Dir der Ges würzkrämer das rothe Bundel des wunderbaren, berühmten Fu made, welches weder der Deutsche Feuerstahl noch die Platinas Maschinen verdrängen können. Ohne ihn kann man keinen Ball besuchen, er verkauft die Masken und der schönsten Hälfte des menschlichen Geschlechts das eau, de Cologne. Bist Du Inva lide, fo, findest Du bei ihm den ewigen Taback, welcher aus der Dose in die Nase, aus der Nase ins Taschentuch und aus dem Taschentuch in die Dose übergeht. Die Nase, der Taback und die Defe des Invaliden sind ein Bild der Unendlichkeit, wie die Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Der Gewürztrámer verkauft die Subkanzen, welche den Tod, und die, welche das

seine, Seele an, Satan verlauft; er, ist das Alpha; und Omega un der Kaiser wußte sie ordentlich in Trab zu bringen. Was war ferer socialen Zustände. Ohne ihn lann man feinen Schritt thun, das aber auch für ein Mann! Mit ihm hat Frankreich viel vers fein Verbrechen oder teine gute Handlung begehen, kein Wert Loren.!! If der Weg furz und spricht der Gewürzkrámer nicht, der Kunst oder der Eitelkeit vollenden. Er ist die Cipilisation impas indes felten vorkommt, so erkennt man ihn an feiner Art, Laden, die Gesellschaft in der Düte, die von Kopf zu Fuß besuch au schnauben. Er faßt einen Zipfel feines Laschentuches mit waffnete Nothwendigkeit, eine wirkliche Encyklopädie, ein, in den Lippen, hebt es dann auf eine schwebende Weise in die Höhe, Schubfdcher, Flaschen und Beutel abgetheiltes Leben. Es ist uns greift würdevoll an seine Nase und trompetet dann auf eine groß vorgekommen, daß der Schuß eines Gewürzframers dem eines liche Weise los. machtigen Mannes vorgezogen wurde; der eine tödtet, der ans Einige Leute, welche das Wesen aller dere verleiht das Leben. Man kann von der ganzen Welt perswollen, meinen einen großen Fehler an dem laffen seyn; bewahrt man die Freundschaft des Gewürzkrämers, deckt zu haben. Sie sagen: er seßt sich zur Ruhe, und dann hat fo lebt man wie die Made im Kaje. rer keinen Nugen mehr. Was thut er dann? Was wird aus ihm? Die Vertheidiger dieser ehrenwerthen Klasse von Bürgern führen gewöhnlich an, daß der Sohn des Gewürzkrämers meist Nota: rius oder Advokat, nie Maler oder Schriftsteller wird; dann fann er sagen: Ich habe dem Lande meine Schuld abgetragen."

Man würde sehr Unrecht haben, wenn man sagen wollte, daß der Gewürzkrämer nichts schaffen könne. Quinquet war ein Gewürzkrämer, und durch seine Erfindung ist sein Name in die Sprache übergegangen.

Wenn die Krämerschaft plößlich aufhörte, Pairs und Depu tirte zu liefern, wenn sie die Lämpchen zu unseren Freudenfesten verweigerte, wenn sie die verirrten Fußgänger nicht mehr zurecht wiese, kein Geld wechselte und der Dame, welche auf der Straße von Uebelkeit befallen wird, nicht mehr ein Glas Wein reichte, wenn die Lampe des Gewürzkrämers nicht gegen das Gas protestirte, welches um cilf Uhr erlischt, wenn er nicht mehr auf den ,,Constitutionnel" abonnirte oder Mann des Fortschritts würde, wenn er sich gegen den Monthyonschen Tugendpreis erklärte, nicht mehr Capitain feiner Compagnie werden wollte oder das Kreuz der Ehren Legion verschmähte, wenn er die einzelnen Blätter der Bücher läse, die er zu seinem Geschäfte verbraucht, wenn er die Symphonieen im Konservatorium anhörte, Géricault bewunderte und Ballanche verstände, — so were er ein entartetes Wesen, welches verdiente, die ewig herabgezogene, ewig wieder erhöhte Puppe zu seyn, welche die Wiße des hungernden Künstlers, des undankbaren Schriftstellers, des verzweifelnden Saint Simonisten zum Zielpunkt wählen. Aber man betrachte ihn doch nur aufs merksam! Was ist er denn in der That? Ein kleiner bausbdiger, dickbauchiger Mensch, ein guter Vater, ein guter Gatte, ein gu ter Herr. Halten wir hier einen Augenblick an. Pis

Die Frau des Gewürzkrämers hat ihrem Manne bis in die Hölle des Französischen Spottes folgen müssen. Und warum hat man fic geopfert, fie zum zwiefachen Schlachtopfer gemacht? Es heißt, sie habe an den Hof gehen wollen. Aber welche in einem Comptoir eingesperrte Frau empfindet nicht das Bedürfniß, dasselbe zu verlassen, und welchen besseren Plaß könnte sie wäh len, als die Umgebungen des Throns? In diesen Haushaltungen sieht man durch die Glasthür des Behältnisses hindurch, das gewöhnlich Ladenstube genannt wird, und wo die alten guten Sitten aufrecht erhalten werden, die Gatten essen und trinken.

Ein Gewürzkrämer nimmt nie das leichfertige Wort:,,meine Frau" in den Munds er sagt immer: meine Gemahlin". In dem Worte Frau liegt etwas Rohes, Ungebildetes, Untergeordues tes; es verwandelt eine Gottheit in eine Sache. Die Wilden haben Frauen, civilisirte Menschen Gemahlinnen, d. h. junge Mädchen, welche sich zwischen cilf und zwölf Uhr nach der Mairie begeben haben, geleitet von einer Menge von Freundinnen und ge; schmückt mit einem Myrrthenkranze, welcher dann unter dem Ges häuse der Stußuhr niedergelegt wird. Wenn der Gewürzkrämer seine Frau durch die Stadt geleitet, so hat er in seinem Wesen etwas Stolzes und Prahlendes, was ihn dem Karrikaturenzeid); ner in die Hände liefert. Er schmeckt das Glück, seinen Laden zu verlassen, so ganz, seine Gemahlin macht so selten Toilette, ihre Kleider find so bauschig, daß ein Gewürzkrämer mit seiner Frau auf der Straße mehr Plaß einnimmt als jedes andere Paar. Hat er seine Fischotterkappe abgelegt, so würde er einem anderen Bürger nicht unähnlich sehen, wenn er sich nicht gleich durch die Worte:,,meine theure Freundin", die er häufig gebraucht, indem er feiner Gattin die Veränderungen von Paris zeigt, zu erkennen gabe. Macht er einen Spaziergang über Land, so sest er sich gewiß an den staubigsten Ort im Gehölz von Romainville, Vin cennes oder Auteuil und bricht dann in Begeisterung aus über die Reinheit der Luft. Hier wie überall erkennt man ihn auch in feiner Verkleidung, an seiner Phraseologie und an seinen Wei nungen.

ergründen

Gewursträmer ents

Ich mache dem Gewürzkrämer nur Einen Vorwurf: er fins det sich zu häufig. Er muß selbst gestehen, daß er gemein ist. Einige Moralisten behaupten, alle feine Tugenden schlügen zu Fehlern aus, sobald er Eigenthümer würde. Dann erhält er einen leichten Anstrich von Wildheit, wird befehlshaberisch und verliert seine Annehmlichkeit. Ich will diese Anschuldigungen nicht widerlegen, aber man betrachte die verschiedenen Menschen arten, ihre Seltsamkeiten, und frage sich dann, was es in diesem irdischen Jammerthale Vollkommenes giebt. 196 d Balzac

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England.

Der Landsiz eines Englischen Edelmanns.de Sie werden doch nicht diesen Theil des Landes verlassen", fagte ein Mitreisender, ohne Holkham Hall gejchen zu haben.“ und sehen Sie versichert", fügte ein Anderer hinzu,,,,Sie werden mit Ihrer Aufnahme zufrieden seyn. Es giebt im ganzen Königreich kein so gastfreundliches Haus. Fremde wie Bekannte werden gleich gut empfangen, und der Eigenthümer ist ein artiger salter Herr 83 Jahr alt und noch so munter wie ein Funfziger. Vor dreizehn Jahren war er kinderlos und heirathete eine neunzehnjährige Dame. Jezt hat er fünf Kinder."

Sämmtliche Ländereien, mit Jubegriff von Garten, Park, Wald, Wiesen und Kornfeldern, haben einen Umfang von zehn Weilen, innerhalb dessen ein künstlicher See liegt, den Viele für den schönsten in England halten. Alleen und Reitwege durch schneiden die Gegend nach jeder passenden Richtung. Hier kommt man unter einen Triumphbogen; vor Dir erhebt sich ein hoher Obelisk; rechts breiten sich fünfhundert Morgen Gerstenacker aus, und auf einmal tritt man in Lady Anne Coke's schönen Blumens garten, der nach Chantrey's Geschmack entworfen ist. Es sind bier 2200 Schafe von der wahren füdlichen Zucht, dreihundert Stück Hornvieh von der Devoner Race, dreißig Milchkühe in der Schweizerei, funfzig Pferde in den Ställen; zweihundert Pächter, die sich freuen, einen so trefflichen Grundherrn zu haben, und an zweitausend Arbeiter, die, wie man sagt, fortwährend von ihm beschäftigt werden. Uygefähr in der Mitte des Ganzen steht das Schloß Holkham ein prächtiger Bau, den Graf und Gráfin Leicester vor ungefähr achtzig Jahren aufführen ließen. Es bes steht aus einem großen Central Gebäude mit vier Flügeln und hat eine (Engl.) Meile im Umfang. Das Haus ist zweimal wöchentlich für das Publikum offen, und das mit Recht, denn es enthält einen Schaß von Tapisserieen, Skulpturen und Malereien, die den Besucher für verwendete Zeit und Mühe reichlich ent schadigen. Holkham ist eines von den vielen Englischen Privats häusern, welche Kunst: Sammlungen enthalten. Es giebt in England kein Louvre; das Land ist reich an Kunstwerken, aber sie sind zerstreut - hier ist ein Claude, dort ein Titian, und wieder hundert Weilen weiter unter modernen und antiken Skulp; turen ein Salvator Rosa und ein Raphael.

Daher ist es kein Wunder, wenn unter allen Sehenswürdig keiten in England die Statuen und Bilder dem Reisenden den geringsten Genuß bieten. Man kann sich glücklich schäßen, wenn man mit einem Besiger werthvoller Kunstwerke bekannt ist und dadurch freien und öfteren Zutritt zu seiner Sammlung erhält. Man fährt auf einem öffentlichen Wagen nach Meaux, Me: Muß man sich aber, wie tausend andere Reisende, mit einem lan, Orleans und sist einem Manne gegenüber, der uns mit einzigen Besuch begnügen, dann hat man von diesem Besuch mißtrauischen Blicken betrachtet. Man erschöpft sich in Vermuthan: wenig Genuß und noch weniger Belehrung. Gemästete Diener gen über diesen anfangs schweigsamen Unbekannten. Ist es ein treiben Einen im Sturm durch die Sale, und wenn man sie Advokat? ein neuer Pair? ein Bureaumann? Eine leidende Frau verläßt, sind die Meisterstücke, die man gesehen, im Gedächtniß fagt, daß fie noch nicht ganz von der Cholera hergestellt ist. eben so zerstreut, wie im Königreich. Blenheim House ist ein Die Unterhaltung kommt in Gang. Der Unbekannte ergreift schlagender Beleg hierfür; noch ärger aber ist es in Hampton das Wort: Mosieu damit ist Alles gesagt und der Gewürzs Court Kann ich das Vergnügen haben, die Raphaelschen Kars nicht tréner und mehr su verkennen, perziehen Ein Gewürztramer spricht tons zu fehen?" sagst Du freundlich zu einer jungen Pförtnerin, Er hat sein triumphirendes môsieu gefunden, welches mitten inne zwischen der Ehrfurcht und der Selbstachtung steht. Môsieu", fagt er,,,während der Cholerazeit haben die drei größten Verste, Dupuytren, Broussais und mosieu Magendie, ihre Kranken vers sifchieden behandelt; es sind beinahe Alle gestorben. Sie haben gar nicht gewußt, was die Cholera ift, aber die Cholera ist eine Krankheit, an welcher man stirbt. Die ich gesehen habe, befans den sich sehr schlecht. In dieser Zeit, mosieu, hat der Handel viel gelitten."

Seine Politik läßt sich in folgende Worte zufammenfassen: Môsieu, die Minister scheinen nicht zu wissen, was sie wollen. Wie viel auch gewechselt wird, es bleibt immer dasselbe. Nur

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blick", antwortet die Dame, die noch mehr Gesellschaft erwartet, um sich ihre Ciceronedienste so hoch wie möglich belohnen zu laffen. Sie nimmt einen Schlüffel mit, und sobald die Thur, die in das eine Zimmer führt, offen ist, wird das Zimmer, das man eben besehen, fest verschlossen. So muß man der unerbitt lichen Führerin dicht auf den Fersen seyn, während sie im Geben rasch herleiert: Das ist von Sir Peter Lely, — das ist von Holbein, das ist ein Rubens, hier ist ein Weenir." Es ist durchaus aller Regel zuwider, zurückzubleiben, um ein eingelnes Stück zu bewundern, und so ist man gezwungen, mit der eilens den Dienerin und der fremden Gesellschaft mitzulaufen. Man wundert sich endlich, daß man in weniger als zehn Minuten über

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auf Pergament, in Gold und Silberdeckeln aufbewahrt, mit bunten Steinen geziert und reich illuminirt. Diese sind über 600 Jahr alt. Und doch wie schön und fein ist das Material, wie deutlich die hand! Auch fiel mir ein Miniaturmesbuch aus dem 15ten Jahrhundert auf, welches von dem geschickten Julio Clovio seyn soll, und dessen Kalligraphie mir die schönsten Leistuns gen der heutigen Preffe zu übertreffen schien. Dann zeigte man eine Kopie des Pentateuch, die 300 Jahr alt und auf Einem großen Hirschhautblatt von 106 Fuß Länge und 25 Zoll Breite geschrieben ist. Es sind noch eine Menge ähnlicher Werke in dieser Bibliothel, die überdies sehr reich ist an Griechischen Kirchenvatern und Lateinischen Klassikern. In diesem Hause find noch zwei Bibliotheken, von denen die eine durchaus klassisch und die andere gemischter Natur ist. Der literarische Theil des Schlosses ist in der That fürstlich eingerichtet und ganz anges messen der übrigen Pracht, die ein ungeheures Einkommen feis nem Eigenthümer gestattet.

Dieser Eigenthümer ist, wie schon gesagt, 83 Jahr alt. Er empfängt jeden Fremden mit der größten Freundlichkeit und Zus vorkommenheit, als hätte er wer weiß was von seiner Freunds schaft zu erwarten. Aus jedem Wort scheint Gastfreundschaft zu reden. Er entspricht vollkommen unserer Vorstellung von dem alten Englischen Gentleman. Der Charakter des Grundherrn spiegelt sich in seinen Umgebungen ab; Artigkeit und Gastfreunds schaft sind der Grundzug seiner zahlreichen Leute, die alle mit wahrem Enthusiasmus von ihm sprechen. Unter den Bewohnern der kleinen Stadt Wells, die drei oder vier Meilen weiter liegt, ist nur Eine Stimme über die Güte und Leutseligkeit des ehr würdigen Mannes. Jeder spricht von der Halle" wie von einem gemeinschaftlichen Mittelpunkt des Vergnügens. Keiner geht in der Nähe vorüber, ohne dem Portier die Hand zu schüt teln und einen Blick in die stets offenen Schäße der Speises kammer zu thun. Wohlwollen und Gutmüthigkeit ist Alt und Jung gemein, und wenn der Eigenthümer durch die ausgedehns ten Ländereien seines Guts seine Abendfahrt macht, fieht man mit Vergnügen, wie die lachenden Kinder seiner Pachter dem Wagen voranlaufen und wetteifernd sich bemühen, die verschie denen Thore, durch die er fährt, zu öffnen.

Ich habe nie zufriedenere Gesichter oder feistere Gestalten gesehen, als heute: besonders scheint es den Dienern des Schlosses sehr gut zu gehen man fühlt sich ordentlich gestärkt, wenn man fie nur ansieht; aber von allen jovialen Gesichtern kommt feines dem des alten Kellners gleich. Es ist ein wahres Musters bild von Behaglichkeit. Wall fann es eigentlich nicht roth nennen es ist mehr ein glänzendes Kupfer, das zusammt dem runden Bauch unten ein unter Kannen, Krügen und Flaschen verbrachtes Leben ankündigt. Es ist wirklich unwiderstehlich; man fühlt sich wie erwärmt in seiner Gegenwart und kann sich nicht enthalten, jenes Ale zu bewundern, das so erstaunliche Res fultate hervorbringt.

Als die Thürme von Holkham Hall mir zum leßten Male aus dem Gesicht schwanden, fiel mir ein, daß der würdige Bes fiber desselben auch bald verschwinden werde. Und welch ein Abend ist dies für den Tag feines Lebens! eines Lebens, das er lange dem Dienst seines Vaterlandes und dem schönen Stre ben gewidmet, in das Leben der ihm untergebenen Saamen zu streuen, deren Früchte ihre Zufriedenheit und unbegränzte Liebe zu ihm sind. (Bentley Miscell)

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Das Landschaftszimmer, wie es genannt wird, gewährte mir vielen Genuß. Es enthält unter anderen eine Landschaft von Salvator Rosa, eine andere von Domenichino, drei von Gasparr Poussin und sieben von Claude Lorraine. Von diesem Lesteren find in Holkham dreizehn Stück, was für eine Privat Sammlung außerordentlich viel ist, und die meisten darunter sind sehr werths voll. Nachdem wir diese Landschaften gehörig bewundert und durch das Fenster die noch schönere Naturlandschaft draußen bes trachtet, gingen wir in die Bibliothek der Handschriften.

Hier ist ein Bild in Lebensgröße von dem berühmten Roscoe. Dem Eifer und Geschmack dieses Gelehrten verdanken die acht hundert Bande Handschriften, welche diese Bibliothek enthält, eine Menge trefflicher literarischer Noten und Angaben über ihr Alter und ihren Werth. Diese Sammlung ist höchst interessant, und nie hätte ich eine solche im Best eines Mannes vermuthet, der, funfsig Jahre lang Parlaments, Mitglied, fich nie sehr mit Literatur beschäftigt hat. Besonders merkwürdig und bewunderns Iwerth ist die Schönheit der Handschriften in einigen dieser Manus stripte. Es sind hier Lateinische Kopieen der vier Evangelisten

vierteljährlich, 3 Thlr. für das ganze Jahr, ohne Er höhung, in allen Theilen der Preußischen Monarchie.

No 67.

für die

Expedition (Friedrichs-Straße Nr. 72); in der Provinz so wie im Auslande bei den Wobüöbl. Post - Aemtern.

Literatur des Auslandes.

Berlin, Mittwoch den 5. Juni

1839.

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Rußland.

Die jüdische Sekte der Karaïten in Süd- Rußland.
Von J. G. Kohl.

Das Semitische Wort „,kara" bedeutet so viel als,,in der Schrift lesen". Davon ist das Wort „karaï” (Karaït), so viel als fchriftgetreu" gebildet, von welchem Singular wiederum der Plural „karaïm" (Karaïten) lautet.*) Und so nennen sich die Juden, welche die im Thalmud enthaltenen Zusäße zu den fas nonischen Büchern und Schriften der mosaischen Religion vers werfen und alle ihre religiösen und moralischen Lehrsäße und Vorschriften allein und ausschließlich aus dem Geseze Moses schöpfen.

„Wir sind“, sagte mir der gelehrte Rebbi Uffuff in der Sys nagoge von Dicuffut: Kalé **), wo er mir und einigen anderen Reisenden die Aeußerlichkeiten ihres Gottesdienstes zeigte,,,wir find dasselbe, was die Protestanten, die auch den oder des Fanonischen Römischen Rechts nicht anerkennen, in der Christenheit, daffelbe, was die Schiïten, die gegen die Sunna protestiren, unter den Muhammedanern, und unsere Geschichte bietet dieselbe Ers scheinung, die sich am Ende in der Geschichte jeder Religion offenbart. Die ersten schönen und reinen Lehren des Religions: Stifters umgeben und verderben Eigennut, Herrschsucht und Deutelei mit einer Menge von Auslegungen und Zusäßen. Die Meisten folgen dem weiterschreitenden und revolutionirenden Strome der Zeit. Nur wenige Feste, Treue und Redliche wagen es, im Namen des Religionsstifters das Banner zu erheben und gegen die Aenderung zu protestiren. Beide Parteien, die Pro testirenden und die Kanonischen, gerathen mit einander in Kampf, und die gemeiniglich schwächere Partei der Ersteren hat dabei viele Verfolgungen von der anderen zu dulden, auf deren Seite fich in der Regel die Mächtigen und Gewalthaber befinden. So einfach und natürlich unsere Geschichte auf diese Weise im Ganzen ist, so dunkel und unbestimmt ist sie doch in Bezug auf die einzelnen Daten und Jahreszahlen unserer Trennung und eigenthümlichen Entwickelung."

In Europa ist Weniges und nichts Vollständiges über die Geschichte der Karaïten zur Publizität gekommen, und auch bei ihnen selber existirt noch keine Geschichte der Sekte. Die Quellen, aus denen man eine solche schöpfen könnte, find, wie ihre Vdter einst selber, im Oriente zerstreut. Viele interessante alte Bücher befinden sich bei den Karaïtischen Familien in Odessa, in der Krim und in Konstantinopel. Die Haupt-Sammlung aber ist in Jerusalem, wo in den Händen der dortigen Karaïten 17 große und kostbare Folianten historischer Schriften und Urkunden in Arabischer Sprache vorhanden sind.

Manche seßen den Beginn der Lossagung der Karaïten von den übrigen Juden in das erste Jahrhundert vor Christi_Geburt, wo schon auch die thalmudischen Auslegungen und Schriften beginnen. ***) Doch ist dabei wohl auf keinen Fall an den Be: ginn einer Ausbildung ihres iesigen Zustandes und Namens zu Benten, so wahrscheinlich und natürlich es auch übrigens ift, daß alsbald mit dem Auftreten thalmudischer Zufäße sich auch Widersprüche und Protestationen geltend machten. Die Geschichte ihrer jeßigen Sitten und ihrer heutigen Verhältnisse beginnt ohne Zweifel erst mit Muhammed. An Muhammed schlossen sich die Jüdischen Protestanten sogleich entschieden an, und dieser Anschluß, fo mie das nachfolgende beständige Zusammenhalten der Karaïten mit den Muhammedanern, welches sich überall verfolgen läßt, drückte ihnen ihr ganzes jeßiges Gepräge auf, und gab ihnen nicht nur ihre Sprache, Gesichts- und Geistesbildung, sondern auch ihre Kleidung, Speise und Lebensweise.

Die diteste Schrift, welche die Karaïten besißen, ist ein Priz vilegium, welches ihnen Muhammed selbst für die freie Ausübung ihres Glaubens verliehen haben soll. Wenn man alsdann die Jahreszahlen und die Druck oder vielmehr Schreib, Orte der fpdieren Karaïtischen Bücher verfolgt, so geht daraus deutlich

*) Die heilige Schrift der Muhammedaner, der „Koran“, hat von der: felben Semitischen Wurzel ihren Namen.

**) Hauptsiß der Karaïten in der Krim.

***) Schon in der Mischnah, dem Grundterte des Thalmud, findet sich der Name Karaïm" als Bezeichnung einer streng an der Schrift haltenden Partei.

hervor, daß die Verbreitung der Karaïten immer mit der der Muhammedanischen Völker gleichen Schritt hielt. Mit diesen Pamen fie nach Afrika und Kleinasien; sie begleiteten fie bis nach Spanien, waren mit ihnen zu Antiochia, Edessa, Nicda, feßten mit ihnen nach Europa über und hatten anfangs ihre Haupt Kolonieen in Adrianopel und dann in Konstantinopel, verzweig ten sich aber auch unter Türkischer Hoheit in mehreren anderen Städten von Europa.

Eben so kamen nun auch die Karaïten mit der Turko-Tatas rischen Herrschaft unter Batu Chan nach der Krim. Das Aufs fallendste bei dieser Verbreitungs Geschichte der Karaten ist, daß alle diese Kolonicen in Asien und Afrika, die doch den Daten zufolge, nach denen man auf ihren Zustand schließen kann, im 13ten und 14ten Jahrhundert recht blühend gewesen seyn müssen, in den meisten Siddten dieser Erdtheile mit der Zeit wieder fast spurlos verschwunden sind. In den Kleinasiatischen und Syrischen Städten giebt es fast gar keine Karaïten mehr; eben so wenig in den Städten der Afrikanischen Nordküste, mit Ausnahme Kahira's und der südlichen Provinzen Marokko's, in welchen leßteren besonders viele Karaïtische_Gemeinden vorhanden seyu müssen, da fast alle, selbst spdtere Krimsche Manuskripte auf fie als auf einen Hauptfiß der Karaiten hinweisen. Dieses Ver schwinden der Karaitischen Kolonieen aus so vielen Asiatischen und Afrikanischen Städten erklärt man sich auf folgende Weise. Die Muhammedaner brachten eine Partie ihrer fleißigen und ehrlichen Karaïtischen Freunde mit und siedelten sie in den von ihnen eroberten Städten an. In diesen fand sich nun aber ge wöhnlich schon eine sehr starke Kolonie thalmudischer Juden seit alten Zeiten ansässig vor, die sich nun in ihrer Existenz durc neu ankommende, abtrůnnige und ihnen verhaßte Brüder bedroht sahen, und daher sogleich mit diesen einen Intriguen und gele gentlich auch wohl einen Waffenkampf auf Leben und Tod be gannen. In diesem Kampfe nun fiegten fast überall die schlauen, gelehrten und unermüdlichen Thalmudisten über die einfacheren und, als mit den Türken verschwistert, minder gewandten Karaiten, die mit der Zeit fast überall weichen mußten und deren Kolonicen daher durchweg verkümmerten, ja meistens völlig verschwanden. *)

Nur im südlichen Theil des Europäischen Rußlands erging es ihnen besser, und sie erhielten sich hier, vermuthlich weil keine Thalmudisten am Hofe des Chan's sie bekämpften. Batů Chair.. foll nur 40 Karaïtische Familien mitgebracht und hier auf einem Felsen in der Nähe des Standlagers (der Residenz) seines Krimschen Statthalters angesiedelt haben. Die Niederlassung, welche sie daselbst gründeten, nannten sie daher auch,,Kurkimli", d. h.,,die 40 Wirthschaften", welcher Name sich aber späterhin verlor, indem die Ansiedlung sich vergrößerte und zu einem Siddichen anwuchs, besonders als sich in jenem Tatarischen Gouverneurs Standlager eines eigenen unabhängigen Chan's Hauptstadt entwickelte. Die Tataren nannten diese Stadt „Dicuffut:Kalé", d. h. „Judenstadt", und dieser Name ist aud) zu den Russen und in unfere geographische Bücher übergegangen; da hingegen die Karaïten, die nur die Thalmudisten Dschuffut nennen, statt dessen bloß,,Kalé" (Stadt) fagen. Von diesem Dichuffat Kalé aus, welches fie als ihre Metropole verehren, haben sich nun die Karaïten in allerneuester Zeit unter dem duid famen Schuß des Russischen Scepters wiederum auf eine höchst merkwürdige Weise fröhlich über viele Süd-Russische Städte ver breitet.

Die jeßigen numerischen Verhältnisse ihrer Kolonieen find folgende: Die ganze Stärke des Völkchens mag sich etwa auf 4000 Seelen belaufen, von denen sich in den obengenannten in neuerer Zeit durch Auswanderung etwas geschwächten Metropole wohl kaum noch 1300 befinden. Nach Dschuffut:Kalé hat Eupa: toria oder Kosloff in der Krim die größte Kolonie, über 800 Seelen, unter denen zugleich die wohlhabendsten Männer des Stammes fich befinden; namentlich der jeßige Krösus der Kas raïten,,,Schima Bobowitsch", dessen Namen weit und breit unter ihnen verehrt ist und der daher fast als das Haupt und

*) Mehrere Schriften, die sich in den Handen des gelehrten Dr. St., Direktors der jüdischen Schule in Odessa, befinden, laffen keine andere Deus tung ju. So. B. ein Buch auf dessen Titel zu lesen ist: Geschrieben in Jahre der Schaffung der Welt so und so, in der armen von den Thalmudisten gedrückten Gemeinde der Karaïten zu Warna.

der patriarchalische Vertreter des Stammes angesehen wird. Schima Bobowitsch ließ die Türkischen Pferde antaufen, auf denen der Kaiser Nikolaus die Krimschen Gebirge bereiste, und ließ für ihn loftbare Teppiche und Pferdegeschirre aus Konftans tinopel und Smyrna tommen. Nach Eupatoria hat Odessa die stärkste Karaïtische Kolonie mit 31 Familien und nahe an 200 Seelen. Sie haben ihre Buden, mit guten orientalischen Waas ren versehen, fast alle am Boulevard, der Reihe nach, eine bei der anderen. Zehn Familien wohnen in Theodofia, 25 Köpfe in Schitomir. Auch in Wilna und anderen Orten Lithauens sollen einige fenn, so wie ebenfalls in Nikolajem, Taganrog, Cherson. Außer Rußland befinden sich im südlichen Galizien zwei kleine Gemeinden, die sich des Schußes der Defterreichischen Regierung erfreuen; in Konstantinopel 30 Familien; in Kahira über 200 Köpfe; in Jerusalem nur 4 Familien; in der Stadt hit in Sy rien aber wiederum 250 Seelen. Im Jahre 1837 waren zwei Karaïten nach London und zwei nach Petersburg gereist.

So viel von der Geschichte und Statistik dieses kleinen Völkchens, dessen Charakter und Sitten doch so eigenthümlich und ehrenwerth sind, daß die Karaïten überall, wo sie erscheinen, fich eines Namens erfreuen, dessen Ruf mit ihrer geringen Anzahl in gar keinem Verhältnisse steht. Ihr ganzes Aeußere fo wohl als auch ihr inneres Seyn und Wesen ist eine Mischung aus Tatarischem und Jüdischem. Und es ist aus dieser Mischung, gegen die gewöhnliche Regel, etwas ganz Angenehmes und Er. freuliches hervorgegangen. Mit Türkischer Ruhe und Gefeßtheit, die ihren Brüdern, den Thalmudisten, mehr als irgend einem Volke abgeht, verbinden sie den_jüdischen_Hardelsgeist, und während sie daher durchweg nur Kaufleute sind und sich überall in die Welt hinauswagen, versteigen sie sich doch mit ihren Pläs nen nie in schwindelnde Höhen, und es fehlt ihnen völlig jene maßlose Speculationswuth eines großen Theiles der thalmudischen Juden. Vielmehr drückt sich in dem ganzen Benehmen und Vers halten der Karaïten ein fittiges Makhalten aus, das ihre Redes und Handlungsweise immer in den Schranken des Anstandes er: hält. Sie treiben ihren kleinen Handel mit orientalischen Ma nufaktur: Waaren, Spezereien und Taback ohne Geräusch, wie vor Alters ihre Våter. Sowohl auf der einen Seite der Schacher: und Trödels, als auf der anderen der große Wechsels, Papiergeld: und Edelstein: Handel der Thalmudisten ist den Karaïten unbe: Pannt. Sie gelangen daher, fill ihr Krämergeschäft treibend, auf der einen Seite nicht zu der Stufe von großem Reichthum, Eins Aluß und Gelehrsamkeit, den hier und da Jene erreichen, auf der anderen Seite aber sind sie auch weit davon entfernt, zu solcher Armuth und solchem Elend herabzufinken, wie wir dies naments lich bei den thalmudischen Juden in Polen wahrnehmen. Wegen ihrer geringen dußeren Bedeutsamkeit werden sie meistens auch von den mit ihnen zusammenlebenden Thalmudisten verachtet, von denen selbst der Unbedeutendste ihnen Mangel an Genialität und Geistestiese vorwirft, indem er dabei auf die gelehrten Gesey ausleger und die scharfsinnigen Philosophen seines Stammes hinweist. Dagegen antworten aber die Altgläubigen wieder: ,,Es fehlt uns gar nicht an sinnigem Verstande, und in allen unferen kleinen Kolonicen findet Ihr nicht einen einzigen Bettler und nicht Eine schmugig verhüllte Seele." Hierzu trägt allers dings auch der gegenseitige Kredit bei, den bereitwillig ein Kas raït dem anderen gewährt. Es betrachten sich die Karaïten als Eine Familie, wo Einer immer unbedingt dem Anderen hilft. In den ungeheuren Extremen, die sich in der thalmudischen Gemeinde offenbaren, von steinreich und bettelarm, von fraßuns wissend und übergelehrt", sagte mir ein Karaït,,,seigt sich die Unmaßigkeit und Leidenschaftlichkeit ihres Geistes; wogegen darin, daß wir Alle unser anständiges Auskommen haben, Alle lesen und schreiben können, sich nur die Harmonie und Maßigkeit, die Thalmudisten fagen Mittelmäßigkeit, unseres Geistes zu offenbaren scheint."

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Die Deutschen und Ruffen in Odessa nennen auch die Kas raïten, indem fie dem Hebräischen Pluralis noch ihre eigene Plus ral Endigung anhangen,,,Karaïmen". Bei den ungebildeten ist dann fogar dieses Lippen-m in das Lippenb übergegangen, und es unterhielt mich daher einmal eine lange Zeit ein dortiger Kaufmann von den Karaiben Odeffa's, von denen er mir allerlei Wunderdinge erschlte. Als ich ihn fragte, ob fie auch Menschen fleisch dßen, fachte er mich darüber eben so herzlich aus, wie ich ihn über seine Karaïben.

(Schluß folgt.)

Franfrei ch.

Zwei Soireen im 17ten Jahrhundert.

(Fortseßung.)

Doch war der Redner to flug, fich nicht gleich im Anfang von feinem Schwung fortreißen zu laffen: Feuer im Anfang ist Sitobfeuer, fagte Beaumarchais ein Jahrhundert später. Die Buhörer schienen noch gar nicht die Erhabenheit des Tertes gehörig gewürdigt zu haben, es ware tollfihn gewesen, mit der Thür ins Haus zu fallen und ihnen eine solche Idee ex abrupto in ihrer ganzen Nacktheit darzustellen. Er fing daher sehr einfach und ruhig in folgender Weife an: Die Religion hat den med, uns das Bild unferet Wichtigkeit recht lebendig varjuhalten, ins au tehren, daß Richts in diesem Leben unsere Gorgen und Ber

Augelegenheiten dem großen Gedanken der Ewigkeit unterzuords nen find." In diesem Anfang war nichts Glänzendes, nichts, was nach Effekt zu haschen schien, und doch war etwas Ergreis fendes darin. Die Stimme des Predigers war ruhig und majes statisch, seine Geberden felten, aber voller Würde. Man fah ihm an, daß das Ganze ihm mehr war als eine bløße Redeprobe: er sprach aus dem Innersten seines Herzens, und was vom Herzen kommt, verfehlt nie den Eindruck. Daher wandelte sich auch die Neugier der Zuhörer bald in Aufmerksamkeit, und die Aufmerks samkeit in Interesse: Der Salon and feine Thorheiten waren schnell vergeffen. Unwillkürlich glaubte man sich in eine Kirche verseßt, und das Ave Maria wärd nicht weniger anddchtig gesprochen, als in Notre Dame: bekanntlich schließt das Ave Maria den Anfang jeder katholischen Predigt. Der Redner ges hörte vielleicht zu denen, deren Seele am wenigsten an diesem Gebet Theil nahm, nicht aus dem Grunde, weil er nicht beten wollte, oder weil er nicht fühlte, wie sehr er Gott für einen so glücklichen Anfang zu danken habe; vielmehr waren seine Gedans ken ganz anderswo, er konnte sich nicht enthalten, auf fein Audis torium einen scharfen, freudigen Blick zu werfen, einen Blick, den ich nicht besser beschreiben kann, als wenn ich ihn mit dem des größten Feldherrn der neueren Zeit vergleiche, als derselbe mitten in einer Schlacht eines seiner gigantischen Manöver ge lingen sah und ausrief:,,Sie gehören mir!"

Ja, sein Auditorium gehörte ihm wirklich; er beherrschte es mit jenem Scepter des Worts, welches das reinste und schönste Vorrecht des Genies ist; aber nicht bloß das Wort machte ihn so mächtig, auch an dem Gegenstand hatte er einen furchtbaren Bun desgenossen und das war der Tod. Dem Redner, der vom Lode spricht, kommt die ganze Schwäche derjenigen, die ihn anhören, entgegen: das ist ein Stück, wo Jeder mitspielt, wo Keiner uns gerührt bleibt. Sprecht von Geiz oder Sinnlichkeit; donnert ges gen Verleumdung, gegen Zorn, gegen Stols, gegen was ihr wollt: da werde ich entweder gar nicht zuhören, oder ich werde mir die Hände reiben und sagen: Das ist eine Lection für meinen Freund oder für meinen Nachbar N.!" So wie aber vom Tode die Rede ist, da wird die Sache eine andere; da heißt es: mea res agitur; da sehe ich nicht mehr auf den Splits ter im Auge meines Bruders, denn hier in meinem eigenen steckt ein ungeheurer Balken, den ich nimmermehr herausreißen kann, ein Balken, der mich einft unfehlbar in die Grube hinabstoßen wird; da fenke ich den Kopf, ich höre, ich sittere.

Die Schilderung der Hoffnungen des Menschen und seiner Größe bei Gott sparte der Redner für das Ende; erst wollte er in dem Menschengeschlecht nur eine Heerde elender Wesen zeigen, die, in die unermeßlichkeit des Weltalls verloren, vom Tode, ihs rem höllischen Hirten, unablässig in das Grab hinabgezogen wer den. Dieses Gemälde ist seit jener Zeit tausend und aber tausend Mal gezeichnet worden; die Prediger, Dichter, Philosophen haben, fich um die Wette feiner bemächtigt, und es ware heutzutage wohl schwer, ihm eine so verjüngte Gestalt zu geben, daß es nicht aussche, als habe man Gemeinplage gesammelt. Damals aber war die Kanzelberebsamkeit in ihrer Kindheit; der, den man mit Recht oder Unrecht für den Restaurator derselben halt, Bours daloue, war ein Schüler von zwölf Jahren. Die Wahrheiten der Religion waren bisher auf der christlichen Kanzel von der Pedanterie oder dem schlechten Geschmack verhunzt worden; sie erwarteten eine ihrer würdige Sprache, und diefe Sprache, die so viele Kathedralen noch vermißten, hörte man zum ersten Wal im Salon de Rambouillet.

Aber es genügte unserem Redner nicht, so viele rebellische Geister zur Aufmerksamkeit zu zwingen, so viel Zuhörer, wie der Dichter sehr schön fagt, an feinem Munde hangen zu sehen; er wollte die Seelen nicht bloß ergreifen, sondern zermalmen. Dem angenehmen Eindruck, den die feierliche, ruhige Sprache des Ans fangs gemacht hatte, folgten bald in den Seelen der Zuhörer Schlag auf Schlag Unruhe,

Rebner in das Innere dicies gros

crecen, je tiefer fie der

Drama's blicken ließ. "Was ist das Leben Anderes“, rief er, als ein steiler, holpriger Steg, deffen Ausgang ein Abgrund ist? Was ist der Mensch Anderes, als ein unglücklicher Wanderer, der auf diefen furchtbaren Bege einhergeht! So wie er ihn betritt, hört er, was er am Ende finden wird; er möchte gern zurück.... unmöglich; er möchte gern weniger schnell geben.. unmöglich. Rag er an das Ziel der Reise denten oder nicht, mag er schlafen oder wachen, mag er weinen oder Blumen sammeln, eine unüberwindliche Kraft treibt ihn vorwärts dem Abgrund zu. Er kommt an den Rand: er will fich fest daran anflammern, umsonst; er gleitet, er fällt, er stürzt, und alles muß ihm nachgleiten, fallen, stürzen!" Und nicht zufrieden, alle Stadien biefer traurigen Weise ents wickelt zu haben, öffnete er den Abgrund selbst und folgie dem menschlichen Elend bis in feine tiefsten Tiefen. Alle diese Gros ken der Erde, alle dieje Anbeter der Macht und des Ruhms, muß, ten mit ihm hinab in die finfleren Höhlen, wo ihr Plaß bestimmt roar, und den Marmor von den Grabern wegnehmend, fuchte er in den Sargen, was der Tod nach Verkauf einiger Lage dafelbft uradidit, jenes Etwas, das in feiner Sprache einen Namen hat, so wahr ist es, daß beim Menschen Alles kirbe, Alles bis auf die gráßlichen Worte, womit man seine unglücklichen Reste bezeichnete !! Da mußte man alle diese Weltdamen fehen, wie fie mit fierem Auge, mit feuchender Brüßt dasaben, als wäre der Dobesengel ihnen exhibicuen; man mulle fabet) tale fie dug Re lich allen Bewegungen diefes jungen inbetannien folgten, deffen

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