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endigung seiner Studien in Schulpforta bezog er die Berg-Akademie seiner Vaterstadt und fand nach dem Tode seines Vaters (1805) feine erste Anstellung als Referendar bei der preußischen Ober-Berghauptmannschaft in Schlesien. Im Jahre 1808 nahm er einen Raf nach Baigorry in den West-Pyrenäen an, woselbst sich ein Verein zu Wieder aufnahme des Bergbaus gebildet hatte. Das Unternehmen blieb erfolglos, Charpentier verließ Baigorry, wo er das Baskische erlernt hatte, und begab sich nach Toulouse. Hier empfing ihn ein alter Freund seines Vaters, Picot de la Peyrouse, mit vieler Herzlichkeit. Er widmete sich in dieser Zeit ausschließlich der Erforschung der Py. renäen-Kette und bestieg die höchsten Spißen, unter anderen zweimal die der Maladetta. Später studirte er die Eisen-Fabrication auf den Hammerwerken des Departements de l'Arriége. Das Ergebniß seiner Untersuchungen legte er in dem vom französischen Inftitut gekrönten „Essai sur la géologie des Pyrénées" nieder. Im Jahre 1813 ging er nach Paris und trat in Verbindung mit den ausgezeichnetsten Männern seiner Wissenschaft. Während des Sommers machte er mit Brochant de Villiers eine wissenschaftliche Reise nach der Auvergne und dem Vivarais.

Zu Ende deffelben Sommers war es, wo ihn die an ihn ergehende Berufung nach Ber führte. Hier waren nach dem Tode Wild's die Salinen unter Leitung eines kundigen Mannes, dem aber sein vorgerücktes Alter die Beschäftigung mit praktischer Arbeit in den Gruben nicht mehr verstattete, gestellt gewesen. Es bedurfte eines thätigeren, mit dem Detail des Geschäfts vertrauteren Mannes, und als solcher wurde Charpentier der waadtländischen Regierung bezeichnet. Seine erste Sorge galt der gewiffenhaftesten Erforschung der Salzlager des Landes, und er zuerst ermittelte auch die genauere Erkenntniß derselben. Mittelst fachkundiger Nachforschungen und geschickt geleiteter Arbeiten entdeckte er die Schicht oder vielmehr den das Steinsalz enthaltenden Gang, wo die Salzquellen (das Quellsalz) entspringen, deren Ertrag sich bisher stufenweise vermindert hatte und damals nur etwa 13,000 Centner jährlich betrug. Seit jener Zeit hat sich aber der Ertrag der Salinen von Ber allmählich bis zu 45,000 Centnern gehoben, welches Quantum ungefähr dem jährlichen Verbrauche des Kantons entspricht. Große Verbesserungen wurden übrigens bei allen den Salinen-Arbeiten angebracht, und so auch eine bedeutende Reduc tion der Unterhaltungskosten bewirkt.

Alle Zeit, welche sich Charpentier von seinen zahlreichen offiziellen Geschäften abmüßigen konnte, widmete er dem Studium der Naturwissenschaften. Er hatte sich von vorn herein auf Botanik gelegt und wurde darin in kurzer Zeit bei so bewundernswürdigem Scharffinn und Gedächtniß, als er besaß, einer der kundigsten Führer. Mehrere Jahre bereifte und durchforschte er die Walliser- und einen großen Theil der übrigen Schweizer-Alpen, so wie die von Savoyen und Piemont. Auf diesen Wanderungen war ihm die große Ausdehnung der Gletscher in alter Zeit aufgefallen, ein Phänomen, worauf schon Venez im Jahre 1816 in einem ,,Mémoire sur les modifications du Mémoire sur les modifications du climat dans les Alpes" aufmerksam gemacht hatte. Charpentier fand in dieser Thatsache die Erklärung dafür, wie es möglich war, daß die Alpenblöcke (daher blocs erratiques) in so weite Entfernungen fortgeführt werden konnten. In seinem „Essai sur les glaciers", einem klassisch bleibenden Werke, bewies er, daß diese Blöcke nichts Anderes wären, als die leberreste alter Felsentrümmer (moraines) am Fuße der Gletscher, welche ehedem einen großen Theil der Schweiz über deckt hatten. Aber das Studium, welchem Charpentier mit der beharrlichsten Emfigkeit die leßten Jahre seines Lebens zugewandt hat, ist dasjenige der Fluß- und Landmuscheln. Dieser Zweig der Forschung ift ungemein von ihm gefördert und vervollkommnet, vornehmlich auch eine große Anzahl noch ungewisser Arten mit vieler Sicherheit und Genauigkeit bestimmt worden. Er sparte weder Reisen, noch Kosten, um eine der vollständigsten und schönsten Sammlungen in dieser Art zusammenzubringen, die in Europa zu finden; einen unschäßbaren Werth erhält dieselbe dadurch, daß jede Muschel genau bestimmt und benannt ist. Schon im Sommer 1823, wo der Unterzeichnete sie sah und bewunderte, konnte diese Konchylien-Sammlung sehr bedeutend genannt werden. Sie und eine zweite Sammlung hat Charpentier noch bei Lebzeiten dem Kantonal-Museum in Lausanne zum Geschenk überwiesen. Dieses Museum, im Jahre 1817 gegründet, verdankt feinen blühenden Zustand insbesondere den reichen Schenkungen, die ihm durch General Laharpe, die Herren Monod, Eynard, Gebrüder Rivier, Perdonnet (von Vevey), Grand von Hauteville, Dompierre und viele andere geworden sind. Den mächtigen Zuwachs betreffend, den es nunmehr auch durch die Schenkung Charpentier's erfahren hat,

hauptmann in Freiberg, wo unter seiner Leitung das große Amalgamirwerk zu Stande kam; fein älterer Bruder, Loussaint (geb. 1779), starb als Berghauptmann zu Brieg in Schlesien am 4. März 1847. Von Beiden handelt die zehnte Auflage des Conversations-Lerikons, hat aber den Salinen-Direktor übersehen.

entlehnen wir hierüber einer anderen Mittheilung desselben Lausanner Blatts (Le Pays) folgende spezielle Angaben:

Die Muschel-Sammlung zählt 2624 Arten Landmuscheln und 1133 Arten aus füßen Gewäffern, im Ganzen 37,570 Muscheln, sämmtlich lebend eingesammelt und aufs sorgfältigste beschrieben. Jede Spezies ist durchschnittlich durch wenigstens zehn Muscheln nach Verschiedenheit der Fundorte repräsentirt. Seit mehreren Jahren ar beitete Charpentier an einem Kataloge dieser Sammlung; derjenige der Gattung,,Schnörkelschnecke" (Hélicées), einer der zahlreichften, befindet sich schon unter der Presse und wird in den Denkschriften der schweizerischen Naturforscher-Gesellschaft erscheinen. Ein zweites Vermächtniß Charpentier's an das Museum ist das seines Herbariums, das ungefähr 32,000 Arten Phanerogamen aus allen Theilen des Globus enthält. Zu dieser zweifachen Schenkung hat der Teftator auch alle Werke seiner Bibliothek über die Mollusken, diese mehrentheils von großem Werth, gefügt.

Charpentier's umfaffendes und gründliches Wissen hatte ihn mit den ausgezeichnetsten Gelehrten Europa's in Verbindung geseßt, und mit ihnen unterhielt er einen ziemlich eifrigen Briefwechsel. Die von ihnen in die Schweiz kamen, unterließen nicht, ihn auf seinem schönen Ruhesiz Devins,) eine halbe Stunde oberhalb Ber's, aufzusuchen, und sahen sich da stets mit liebenswürdiger Gaftlichkeit aufgenommen. Man kann sagen, daß Charpentier der Ehrenwirth des Kantons Waadt bei allen den vorzüglichen Menschen war, welche ihn zu besuchen kamen. Sein Verluft ist unerfeßlich für seine Familie, seine Freunde und Alle, die ihn gekannt haben, er wird in ihrer Erinnerung fortleben so lange, als fie felbft. E. K―r.

Mannigfaltiges.

Die Gebietsgränzen der Naturwissenschaften ist der Titel eines Vortrages, den Herr Dr. Stiebel sen. in Frankfurt a. M. in der Senkenbergischen Gesellschaft gehalten und der uns in einem Abdrucke") vorliegt. Der Vortrag ist Karl Vogt und Rudolph Wagner zugeeignet, also zweien Extremen, zwischen welchen Herr Dr. Stiebel das juste milieu zu wahren sucht, indem er Beiden Unrecht giebt. Die Naturwissenschaften", sagt der Verfaffer unter Anderem,,,sollen sich nur mit dem Begränzten, nur mit den Erscheinungen und Geseßen der Materie beschäftigen. Troß dem Bewußtsein der nur relativen Geltung jeder Wahrheit, ist für sie Wahrheit, was durch gemeinschaftliche Wahrnehmung sich als solche ergiebt; was im Widerspruche mit dieser und den daraus gefolgerten Geseßen steht, kann sie nicht anerkennen; aber sie darf eben so wenig absolut verneinen, wo es ihr unmöglich ist, den Beweis der Nichteristenz zu führen. So wie wir von der einen Seite von der Philosophie und der Glaubenslehre verlangen, daß sie uns im Reiche der Naturforschung keine gebietenden Hemmniffe entgegenstellen, so dürfen auch wir über die Gränzen unseres Gebietes hinaus nicht herrschen wollen, und da unser Gebiet nur das erkennbare Endliche ist, so muß außerhalb deffelben die vollkommene Freiheit der Vorstellung von unendlichem Immateriellen und von Gott gelaffen werden.“ (Aehnliche Ansichten finden sich auch im „Kosmos“ Alexander v. Humboldt's ausgesprochen.)

Olshausen's Geographie und Statistik der Vereinigten Staaten. Theodor Olshausen fährt fort, in der von ihm begonnenen, gründlichen und umfaffenden Weise die Vereinigten Staaten von Nord-Amerika geographisch und statistisch darzustellen. So eben ist in der Akademischen Buchhandlung in Kiel die vierte Liefe rung seines Werkes, den Staat Jowa umfassend, erschienen. Der Verfasser beschäftigt sich auch hier, wie in den früheren Lieferungen, mit Gebieten, die bis jezt noch am wenigsten von allen Staaten der Union bekannt sind. Er hat sich zunächst den Westen aufgesucht und will auch in den folgenden Lieferungen immer weiter weftlich vorwärts dringen. Seine Forschungen, vom deutschen wissenschaftlichen Standpunkte auf amerikanischem Boden bewirkt, unterscheiden sich dadurch wesentlich zu ihrem Vortheile von anderen in Amerika oder in Europa erschienenen Darstellungen der Vereinigten Staaten. Für jeden Staat hat er eine nach den besten Quellen entworfene, auch die amerikanische schachbrettartige Eintheilung der Counties mit ihren Yankee-Namen berücksichtigende Karte gezeichnet, die für Deutschland sehr viel Neues und manche wichtige Berichtigung der hier vorhandenen Karten enthält. Auswanderer, unter denen es freilich Wenige giebt, die ein wissenschaftliches Intereffe für das Land haben, nach welchem sie ziehen, können sich in diesem Buche die beste Belehrung verschaffen.

*) In dieser reizenden Behausung starb im Februar 1849 die vieljährige Freundin seiner Familie, Jeannette v. Haza, deren Nekrolog wir im „Magazin“ 1850, Nr. 18, gegeben haben.

**) Frankfurt a. M., Literarische Anstalt, 1855.

Böchentlich erscheinen 3 Nummern. Preis jährlich 3 Thlr. 10 Sgr., halbjährlich 1 Thlr. 20 Sgr. und vierteljährlich 25 Sgr., wofür das Blatt im Inlande portofrei und in Berlin frei ins Haus geliefert wird.

No 122.

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Literatur des Auslandes.

Frankreich.

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doch auf dem Panier der französischen Revolution neben dem Worte Gleichheit das Wort Freiheit unauslöschlich geschrieben. Wir alle fennen den Reiz dieses schönen Wortes für jeden hochherzigen Menschen. Und diejenigen edlen Männer, welche jene historische Nothwendigkeit nicht sehen wollen und sich an jeden Schatten von Hoffnung festklammern, das schöne Wort zu einer Wahrheit zu machen, sind daher unserer größten Hochachtung würdig. Dieses verzweifelnde Streben, durchdrungen vom halben Bewußtsein seiner Erfolglosigkeit, charakterisirt die französischen Doctrinairs, namentlich Herrn Laboulaye. Fast alle Werke dieses Gelehrten sind mehr oder weniger Huldigungs-Opfer, die er dieser großen und schönen Illusion seines ganzen Lebens dargebracht hat. Die Regierung Louis Philipp's, der Herrn Laboulaye's Universitätsjahre und erste Schriften angehören, war zur Beförderung jenes edlen Glaubens sehr geeignet. Der Bürgerkönig erreichte bekanntlich die in Frankreich durchaus nöthige Freiheit und Unabhängigkeit der Regierung, indem er die beschränkenden Tendenzen der Verfaffung durch eine beispiellose Corruption neutralisirte. Diese Regierungsform hat Herr Laboulaye gegen den von ihm hochverehrten G. F. Puchta mit Bitterkeit vertheidigt. Die Männer von Herrn Laboulaye's Partei waren in der That geneigt, in der Thätigkeit von Louis Philipp's verschiedenen Ministern, wie gleichartig dieselbe auch war, und wie entschieden durch die politische Lage hervorgerufen, nur eine Reihe von Fehlern zu sehen, ohne welche die ganz erträgliche Constitution leicht hätte eine Wahrheit werden können. Dieser Gesinnung blieb Herr Laboulaye in seiner, übrigens nur literarischen, Thätigkeit unter Louis Philipp stets getreu. Er handelte daher durchaus konsequent, indem er sich nach der Revolution von 1848 mit voller Sympathie einer Regierungsform anschloß, in welcher die Freiheit auch nicht einmal denjenigen Widerstand zu finden schien, den die Person des Königs bot.

Laboulaye's politische Geschichte der Vereinigten Staaten.*) Der Verfaffer des in der Anmerkung vollständig genannten Werks hat sich um die Anerkennung der deutschen Literatur und deutschen For schung in Frankreich so bleibende Verdienste erworben, daß dieses Buch, eines seiner charakteristischesten Erzeugniffe, die volle Aufmerksamkeit des deutschen Lesers verdient. Wenn auch als wissenschaftliche Leistung keinesweges unbedeutend, drängt es sich doch von dieser Seite der Betrachtung weniger auf, denn als das politische Glaubens-Bekenntniß des Verfassers und auch wohl seiner Freunde, d. h. einer Partei, deren fittlicher Werth und politische Bedeutung vielleicht außerhalb Frankreichs nicht genügend gewürdigt wird. Jedermann weiß, was in Deutschland die Partei der Doctrinairs ist, die, troß ihrer mannigfachen Spaltungen und Nüancen, doch das Gemeinsame hat, daß alle ihre Bekenner den Staat a priori wissenschaftlich konftruiren und ihn dann dem wirklichen Staat anpassen wollen. Gleichviel, welches nun der praktische Werth dieser Richtung sein mag, so fließt sie doch mit Noth wendigkeit aus der Form unseres öffentlichen Lebens, das in den Universitäten zugleich seine Quelle und seinen Brennpunkt hat. Denn Nichts ist natürlicher, als daß die Männer der Wissenschaft auch auf das Gebiet des politischen Denkens die ihnen sonst gewöhnlichen Methoden übertragen und in Büchern ihre Quellen, in logisch zusammenhängenden Systemen ihre höchften Ideale finden. Anders in Frankreich, das in den lezten sechs Jahrzehnten zu so viel eigener Erfahrung die traurige Gelegenheit gehabt hat, daß es politische Lehren nicht in den Büchern zu suchen braucht. Aber bekanntlich war das gewaltige Streben, aus dem die erfte französische Revolution hervorging, von einer ähnlichen doctrinairen Tendenz durchdrungen, als jeßt das unsrige; und wie heute Mit den nächsten Folgen der Februar-Revolution beginnt die Gebei uns fanden damals die auftretenden Kräfte kein besseres Mittel zu schichte des Buches, das wir besprechen. In der Einleitung, die im Kampf und Sieg, als das gläubige Erheben eines idealen Paniers. eigentlichsten Sinne des Verfaffers Glaubens-Bekenntniß ist, und auf Wie weit nun auch Rousseau und Montesquieu von jeder Absicht zu die wir noch zurückkommen werden, ist der Eindruck ausgeprägt, den fälschen entfernt waren, so waren doch ihre Systeme auf entschiedenen die Verhandlungen der Constituante auf Herrn Laboulaye machten. historischen Irrthümern begründet. Und troß des vollkommenen Sieges Diese Versammlung, beherrscht einerseits von dem unabweisbaren Geder Kräfte, welche die Revolution begonnen, blieben die Theorieen, die fühl, daß Frankreich einer gewaltigen einheitlichen Regierung bedarf; ihr zur Fahne gedient, eine Lüge. Oder mit anderen Worten: der andererseits von der Furcht vor der eben erft beseitigten Monarchie, Kampf um ein durch und durch demokratisches Frankreich gegen die wurde mit Rothwendigkeit dazu geführt, die in Frankreich unvermeidgroßentheils schon befiegte aristokratisch-absolutistische Gesellschaft, von_liche absolute Gewalt in die Hände der Assemblée législative zu leeiner bereits sehr wichtigen Mittelklasse unter dem Panier der politi- gen und die Macht des Präsidenten möglichst zu binden. Auch in schen Freiheit unternommen, endete mit dem vollendeten Sieg der De- diesem traurigen Ergebniß der ehrenhafteften Absichten wollte Herr mokratie, ohne daß die politische Freiheit erreicht worden. Die Gründe Laboulaye nicht die nothwendige Folge des unglücklichen Verfuchs sehen, dieser Erscheinung liegen nahe genug. Seit seinem ersten welthistori Frankreich auf einer anderen als seiner natürlichen und historischen Basis schen Auftreten bis zum heutigen Tage ist jeder Schritt der Geschichte zu konstituiren. Keinesweges blind für die Folgen dieser Verfassung, dieses Landes, den es seiner welthistorischen Stellung entgegenthat, wollte er dennoch in derselben nicht den Ausdruck der damaligen pozugleich ein Schritt zu einem anderen doppelten Ziele gewesen: So- litischen Lage erblicken, sondern er hielt sie für das Resultat trauriger ziale Gleichheit und Absolutismus. Die französische Revolution, Irrthümer über die nothwendige Grundlage einer freien Regierung. die einer dieser Tendenzen scheinbar entgegentrat, hat sowohl in allen ihren einzelnen Erscheinungen, als in ihrem endlichen Resultat beide zugleich zur Geltung gebracht; und so tief waren diese Tendenzen eingewurzelt, daß man nur durch die höchfte Potenz des Absolutismus die Freiheit zu erzielen hoffte! Die beispiellose Centralisation dieses großen Landes, das Werk fast aller seiner bedeutenden Politiker seit Jahrhunderten, ist nun einmal die bistorische Basis seiner Existenz. Die Sprache, die Literatur, die Académies, die Université, die Kunft, der Kriegsruhm Frankreichs und das einzige Paris find nur verschie dene Seiten derselben Erscheinung, und es ist daher ein poetischer Traum, die Einheit dieser Maschine schwächen zu wollen, ohne die Größe des Landes zu zerstören. Beim mannigfachsten Wechsel der Conftitutionen, der Neigungen der Regierenden und der Regierungsmittel hat nach 1789, wie vorher, der Absolutismus in Frankreich geherrscht. Aber troß diefer offenbaren historischen Nothwendigkeit, welcher Männer, wie O. Barrot und Cavaignac, nur ungern sich fügten, ist

*) Laboulaye, Histoire politique des Etats Unis depuis les premiers essais de colonisation jusqu'à l'adoption de la constitution fédérale. 1620-1789. Paris, A. Durand, 1855.

Eben diese Selbsttäuschung über die Ursachen der damaligen Ereignisse ließ ihn noch an die Möglichkeit einer Umkehr glauben. Er selbst wandte sich, wie er uns fagt, dem Studium der amerikanischen Geschichte zu, in welcher er ein treues Abbild der Leiden Frankreichs und ihrer endlichen glorreichen Ueberwindung zu erkennen meinte; eine Illufion, die nur aus Herrn Laboulaye's unendlicher Liebe zu seinem politischen Ideal zu erklären ist, und die uns bei seiner echt historischen Anschauungsweise doppelt in Erstaunen seßt. › Voll von diesen Gefühlen schrieb unser Verfasser im Juli 1848 feine,,Considérations sur la constitution", in denen er auf die Geschichte Amerika's als Frankreichs Lehrerin hinwies, eingeleitet durch einen Brief an Cavaignac, den er aufforderte, ein neuer Washington zu werden und Frankreich für immer zu einer glorreichen freien Republik zu machen. Eine Aufgabe, der weder Cavaignac's noch irgend eines anderen Menschen Kräfte gewachsen waren. Vielleicht um diese Anmuthungen zu rechtfertigen, übertreibt Herr Laboulaye in den Bemerkungen, die in der Einleitung zu unserem Werke auf jenen wörtlich abgedruckten Brief folgen, die Leiftungen Washington's in einer kaum zu rechtfertigenden Weise und wagt es, ihn über Julius Cäsar zu stellen. Hier hat ihn die poli

tische Leidenschaft zu einer namenlosen Ungerechtigkeit verleitet. Wer Roms Geschichte so gut kennt, als Herr Laboulaye, der dürfte doch nicht vergessen, daß die Unfähigkeit dieses Staates zu einer freien Regierung das Werk der Welt-Ereignisse und nicht eines Menschen war; während der große Julier aus eigener Kraft diejenigen Formen schuf, unter denen die Existenz Roms als weltbeherrschende Stadt allein noch möglich war. Auf der anderen Seite hat Herr Laboulaye selbft in seinem Buche dargelegt, daß nicht Washington, sondern daß die ganze amerikanische Geschichte die Elemente geschaffen hat, die in der Revolution zur Geltung kamen und deren endliche Ausgleichung der General zwar sorgsam und uneigennüßig überwacht, aber keinesweges durch eigene geniale Thätigkeit herbeigeführt hat. Daß die Geschichte der Weltbewegungen unserer Tage den Söhnen dieser Zeit mehr zu sagt, als die der römischen Stürme, das ist ein Werk unserer Erziehung; und Cäsar ist daran so unschuldig als Washington. Wie dem auch sein möge, so überstieg gewiß die Anforderung Cavaignac's Kräfte. Er hätte ihr gewiß gern entsprochen. Und als Herr Laboulaye wenige Monate später zum Lehrer am Collége de France ernannt worden, hatte sich der politische Horizont mehr getrübt, als erheitert. Da glaubte er denn einer heiligen Pflicht zu gehorchen, indem er seinen politischen Ueberzeugungen den energischeften Ausdruck gab, deffen sie fähig waren, und indem er, als Lehrer der législation comparée, Frank reichs Gesetzgebung mit derjenigen verglich, die ihr als Lehrerin die nen müßte. Mit einem Worte, Herr Laboulaye beschloß, über die amerikanische Verfassung zu lesen.

Diese Vorlesungen liegen, wie es scheint, in ihrer ursprünglichen Form vor. Nur in den Noten ist eine seit 1849 erschienene Schrift ein paarmal benußt. Was Herrn Laboulaye's Quellen betrifft, so gruppiren sie sich gewissermaßen um zwei ausgezeichnete amerikanische Schriftsteller: Bancroft und Story; wo diese gewissenhaften und zuverlässigen Führer den Absichten des Verfassers nicht ganz entsprechen, sind andere stets sorgsam gewählte Arbeiten zu Rathe gezogen worden. Eigent liche Forschung enthält jedoch die histoire politique nicht. Diese Disposition ist im Ganzen höchft lobenswerth, denn die Materialien, deren Herr Laboulaye bedurfte, liegen in seinen Quellen unverfälscht und vollständig vor, und die bereits sehr zahlreichen, für Europäer fast unzugänglichen amerikanischen Detail-Untersuchungen verlieren sich meist in eine ermüdende Kleinigkeitskrämerei, die sich um Genealogieen, Topographie und das Geklatsch von Miniatur-Staaten und Städten dreht. Doch wird der Mangel dieser Quellen fichtbar, wo Herr Laboulaye sich auf eigene Untersuchungen einläßt, namentlich über internationales Eigenthums- und Besißrecht und die Anerkennung des Eigenthums der Indianer. Freilich sind die Quellen für richtige Erörterung dieser Fragen zum Theil erst seit dem Jahre 1849 zugänglich und zum Theil nur in Holland in den Bibliotheken und Archiven zu finden. Auch sind die Erörterungen selbst ohne irgend einen wesentlichen Einfluß auf die histoire politique. Historische Treue gehört im Gegentheil zu den zahlreichen glänzenden Eigenschaften des Werks. Eine fast unübertreffliche Abrundung der Form, die schönsten Verhältnisse der einzelnen Theile zu einander, Durchsichtigkeit des Styls, Klarheit der Darstellung bei der größten Schärfe in der wissenschaftlichen Abstraction find die übrigen Vorzüge dieses Buches, das den klassischen Mustern sehr nahe tritt, deren Studium es auf jeder Seite verräth. Es verdient im eigentlichsten Sinne des Worts ein Kunstwerk genannt zu werden. Neben diesen seltenen Vorzügen hat das Buch noch ein ganz einziges literar-historisches und psychologisches Intereffe durch den Konflikt zweier ehrenwerthen Eigenschaften des Verfaffers, historische und politische Treue. Man hätte leicht vorausseßen können, daß seine Meinungen ihn veranlaffen würden, wider Willen die Geschichte zu fälschen und etwa in der amerikanischen Verfassung ein Produkt wissenschaft licher Reflexion zu sehen, das die wissenschaftliche Reflerion leicht nachahmen könnte, oder man hätte glauben mögen, daß die Naturwüchsigkeit der amerikanischen Zustände und das einzige Zusammenwirken unerhörter Umstände, das sie hervorbrachte, ihn würde an der Möglich keit verzweifeln laffen, sie nachzubilden. Weder das Eine, noch das Andere hat stattgefunden, ganz getrennt stehen beide Richtungen neben einander, fast ohne Uebergang und Aussöhnung. Betrachten wir zu erft, was der historischen Untersuchung angehört. Es beginnt dieselbe mit der dritten Vorlesung und füllt faft ohne Unterbrechung den Rest bes vorliegenden ersten Bandes. Nach einer kurzen Einleitung über die Niederlassungen der Europäer in Amerika und über das Eigenthumsrecht an entdecktem Land behandelt Herr Laboulaye sehr ausführlich die Geschichte Virginiens und weißt nach, wie durch die Natur des Landes, durch die Art der Auswanderung, durch den Einfluß der Navigations-Akte, durch die Entfernung von der Metropole, durch die Einführung von Negersklaven und durch eine Menge anderer zusammenwirkenden Umstände fich jene freie Verfassung bildete und bilden mußte, die in Virginien von Anfang an bestand und mit geringen Modificationen sich allezeit erhielt; wie ferner dieselben Umstände jene Bevölkerung von gentlemen hervorbrachte, deren kräftige, freie, unab

hängige Gesinnung der Revolution zum Anker diente. Noch ausführlicher handelt der Verfaffer von Neu-England. Er zeigt uns, daß die Verfassungen der Staaten, die gemeinsam diesen Namen tragen, in allen wesentlichen Theilen so alt sind, als diese Staaten selbst; und indem er uns auf alle feinsten Nüancen in ihren Verschiedenheiten aufmerksam macht, zeigt er, daß alle dennoch nur eine Einheit bilden; er zeigt ferner, wie diejenigen Tendenzen, die heutzutage das amerikanische Leben charakterisiren und die der amerikanischen Constitution ihre Eigenthümlichkeit aufgeprägt haben, von dem ersten Tage an in Neu-England geherrscht. Kurz, wir sehen hier, wie in Virginien, Volk und Verfaffung anderthalb Jahrhunderte vor der großen Revolution faft ganz so als zur Zeit derselben. Die übrigen Staaten: Maryland, NewYork, Pennsylvanien, die beiden Carolina, Georgien, umfaffen etwa ein Drittel des vorliegenden Bandes; auch bei ihnen weist der Verfaffer nach, daß lange, ehe man an die Révolution dachte, während der Dauer der unbestrittenen Suprematie Alt-Englands, diejenigen Zustände sich entwickelt hatten, die noch heute mit geringen Modificationen dort existiren. In zwei Kapiteln, die den Schluß des Bandes bilden: „,Organisation politique" und ,,organisation civile" refumirt der Verfaffer den Inhalt desselben und weißt nach, daß troß aller scheinbaren Verschiedenheiten der einzelnen Staaten, deren Geschichte er entwickelt hat, alle wesentlichen Grundzüge ihres öffentlichen Lebens in allen dieselben sind und in allen mit denen von Anfang an identisch waren, die zur Zeit der Revolution in Amerika herrschten. Wie dürftig auch dieses Skelett feines glänzenden Buches ist, so genügt es doch, um zu zeigen, daß der Verfasser alle Eigenthümlichkeiten des Landes erkannt hat, deffen Geschichte er schreibt, und wie weit er davon entfernt ist, die Geseßgebung desselben für ein Werk wissenschaftlicher Combination zu halten. Den politischen Meinungen des Verfaffers gehören die zwei ersten Vorlesungen, einzelne eingestreute Bemerkungen der übrigen und das einzige im Jahre 1855 geschriebene Stück des Buches, die Einleitung, an. Die ersten Vorlesungen drücken aufs lebhaftefte jenes Gefühl des Verfaffers aus, das seine „Considération sur la Constitution" und den Brief an Cavaignac diktirt hat. Er vergleicht Amerika mit Frankreich, und da jenes hat, was er in diesem so schmerzlich vermißt, politische Freiheit, so bemüht er sich, es zu einer idealen Gestalt zu erheben. Und um an die Möglichkeit eines Frankreichs glauben zu können, das in der Hauptsache diesem Amerika gleiche, hütet er sich wohl, die historische Entwickelung beider Länder neben einander zu stellen, er hält sich an die äußeren Erscheinungen der beiden Revolutionen, die allerdings einige Aehnlichkeit haben. Er läßt sich durch die politische Leidenschaft verleiten, in den Männern, welche die amerikanische Revolution hervorbrachte, in den Ideen, die den Staat nach kurzem Schwanken befestigten, etwas Anderes zu sehen, als das nothwendige Produkt folcher Staaten, wie Virginien, Neu-England und New-York; und er scheint zu glauben, daß Frankreich statt seiner Sièyes, Mirabeau, Danton, Robespierre, Bonaparte, den echten Söhnen der französischen Revolution, die Frankreichs historische Tendenzen zur Geltung brachten, leicht hätte einen Washington, Hamilton, Jay, Madison erzeugen können, und daß dann Frankreich ein anderes Amerika geworden wäre. Das natürliche Wirken allmächtiger historischer Gewalten nennt er wissenschaftlichen Irrthum in Frankreich, politische Weisheit in Amerika, weil das Resultat hier seinen Wünschen entspricht, dort zuwider ist. Er sucht dann den amerikanischen Zuständen einige Einrichtungen zu entlehnen, die man sofort in Frankreich anwenden könnte, und scheint sich ganz zu verbergen, wie deutlich bereits die Erfahrung gelehrt hat, daß die historische Strömung in seinem Vaterlande solche leichte Dämme in einem Augenblick zu überfluthen im Stande ist. Höchst eigenthümlich sind außerhalb dieser beiden Vorlesungen einige Bemerkungen, die gleichsam dazu da sind, solche Einwürfe, wie die unsrigen, zu entwaffnen, indem sie ihnen den stärksten Ausdruck geben: „II (Locke) n'a pas compris que les lois ne sont point une abstraction philosophique, un idéal, mais bien l'expression des rapports existants". So charakterisirt Herr Laboulaye den Versuch Locke's, dem aufkeimenden Carolina eine der englischen nachgebildete Verfassung zu geben; die, obgleich für Engländer bestimmt, durch deren veränderte, von der Metropole ganz verschiedene Lage fich als eine Utopie erwies. Herr Laboulaye, indem er diesen Sah in sein Werk aufgenommen, scheint sagen zu wollen, daß Verschiedenheiten so durchgreifender Art, wie die zwischen England und Amerika, zwischen Amerika und Frankreich nicht existiren, und daß der beste Theil der amerikanischen Constitution daher in Frankreich zur Geltung kommen könnte. Dieser Jrrthum, aus dem Herzen, nicht aus dem Kopfe des Verfaffers entspringend, ehrt ihn mehr, als ihn die Anerkennung der wahren Sachlage ehren würde, und in seinem unzerstörbaren Glauben an die Möglichkeit politischer Freiheit in Frankreich möchten wir Herrn Laboulaye mit einem liebenden Sohne vergleichen, der an den Tod der Mutter nicht glaubt, deren Begräbniß er mit Augen gesehen hat.

Die Einleitung zur ,,Histoire politique" enthält die Geschichte des Buches, wie wir sie bereits wiedergegeben, und einige andere eben

dahin gehörige Bemerkungen von geringerem Intereffe, eine energische Erklärung des Verfassers, daß er an der Freiheit Frankreichs nie verzweifeln werde, und einen etwas bitteren Angriff gegen die, welche baran verzweifeln, endlich aber eine kaum verdeckte Mahnung an den gegenwärtigen Kaiser, zum Heile Frankreichs die langersehnte Freiheit einzuführen: eine Ermahnung, die in ihrem hochherzigen Verkennen der Person, der politischen Nothwendigkeit, der Unmöglichkeit ihrer Erfüllung, in ihrer erhabenen Naivetät mit Nichts beffer zu vergleichen ift, als mit den Worten unseres Schiller: Sire, geben Sie Gedanken freiheit!

Jules Simon's philosophisch- ethischer Standpunkt.

(Schluß.)

Ferner ist der Philosoph der positiven Religion Ehrerbietung schuldig, vorausgeseßt, daß dieselbe in Nichts den ewigen Gesezen der Moral widerspricht. Es ist das Zeichen eines kleinen Geistes, eine Religion zu verspotten, ohne daß man sie kennt, oder zu glauben, daß man fie fennt, wenn man ihre Ceremonien oberflächlich kennt, oder fie nach dem Lebenswandel ihrer Priester zu beurtheilen.

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Dem Fanatismus und dem Aberglauben in den positiven Religionen muß der Philosoph die Festigkeit des Charakters entgegenstellen. Wie wird der Philosoph, welcher keiner positiven Religion zu gethan ist, die Pflicht der Gottesverehrung erfüllen? Er thut denen, die einen anderen Glauben bekennen, keinen Zwang an, er verspottet ihren Glauben nicht, wenn derselbe aufrichtig ist; er klärt ohne Leidenschaft, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, diejenigen auf, welche das Unglück haben, nicht an die natürliche Religion zu glauben; er seßt dem erklärten Atheismus seinen Protest gegenüber; er mißbraucht niemals den Namen Gottes; er spricht denselben nicht aus, ohne seine Ehrfurcht zu bezeigen; er ruft bei feierlichen Gelegenheiten Gottes Hülfe an; er thut Gutes, in der besonderen Absicht, ihn zu ehren.

Einen eigentlichen Kultus zu begründen, ist die Philosophie nicht geeignet. Alle darauf ausgehenden Versuche müssen scheitern. Auch die Staatsmänner sind zu tadeln, welche sich bemühen, die Menge bei einem Glauben zu erhalten, den sie nicht haben. Der Zweck recht fertigt nicht das Mittel; die Lüge ist nie erlaubt. Ueberdies wird durch einen solchen Betrug der Zweck auch nicht erreicht; denn es ist unmöglich, daß eine falsche Religion mehr Gutes als Böses hervor. bringe. Man säet die Lüge, und man ärndtet die Heuchelei. Man rühmt sich, eine Religion zu fördern, und was man fördert, ist ein Aberglaube. Die rechte Stellung einer auf den Prinzipien der Freiheit beruhenden Staatsregierung ist die: alle Glaubensansichten zuzulaffen, welche der Moral und der fittlichen Ordnung nicht widerspre chen; ihnen den etwa nöthigen Schuß für ihren Kultus zu Theil werden zu lassen; sich nicht in die die Lehre betreffenden Fragen zu mischen und für alle religiösen Ueberzeugungen die gleiche Freiheit, sich auszusprechen und sich zu verbreiten, aufrecht zu erhalten.

Da die natürliche Religion eines eigentlichen Kultus entbehrt, so sollten die Bekenner derselben die wenigen Gelegenheiten, die sich ihnen doch noch immer darbieten, Gott ihre Ehrfurcht, ihre Liebe, ihre Dankbarkeit zu bezeigen, um so gewissenhafter benußen. Wie mit der Eidesleistung, so nimmt man es auch mit der Pflicht, die Menschen, welche das Unglück haben, an die natürliche Religion nicht zu glauben, aufzuklären, immer noch zu leicht. Unsere Väter hatten im Jahre 89 begriffen, daß die Staatsreligion abschaffen nichts Anderes hieß, als: den Staat der natürlichen Religion weihen; aber seitdem haben wir zwischen der Intoleranz und dem Atheismus nur hin und her schwanken können. Das Recht und die Pflicht des Hausherrn, inmitten seiner Familie würdig von Gott zu sprechen, ist in Kreisen, wo eine positive Religion nicht mehr herrscht, unbekannt. Die Pflicht, mitunter in sich selbst einzukehren und im Gebet gleichsam vertraulicher mit Gott zu verkehren, wird nicht anerkannt. Die Philosophen ftreiten darüber, ob es erlaubt sei, Gott um etwas zu bitten. Die das Gebet nicht zulaffen wollen, verkennen Beides: das Wesen Gottes und das Wesen des Gebets. Freilich beruht es auf einer falschen Vorstellung von Gott, wenn man meint, durch seine dringenden Bitten und Thränen den göttlichen Willen umändern zu können. Aber kann man nicht mit Malebranche sagen, daß der Wille Gottes ewig befchloffen hat, uns ein Gut zu gewähren, wenn wir ihn darum bitten? Zu Gott beten, heißt: über seine Vervollkommnung und über sein Elend nachdenken, sich dem Willen Gottes unterwerfen, sich mit ihm vereinigen und den Entschluß faffen, zu leben, wie es einem Geschöpf, welches er nach seinem Bilde geschaffen, zukömmt.

III. Die menschliche Glückseligkeit.

Die katholische Religion lehrt das menschliche Leben zu verachten und zu verlassen; der Schmerz erscheint ihr sogar wünschenswerth, wenn er mit reuevollem Geift erlitten wird; das Martyrthum ist das,

worüber die Freude im Himmel am größten ist; das Fleisch gilt als das Prinzip des Bösen und soll getödtet werden. Die Mönchsregeln, welche das Vorbild chriftlicher Vollkommenheit darstellen, beruhen alle auf den drei Gelübden des Gehorsams, der Keuschheit und der Armuth, d. h. sie entziehen alle dem Menschen die Freiheit, die Liebe, das ir dische Glück.

Die Philosophie bringt nicht eine solche absolute Verachtung des Fleisches und der Welt mit sich. Daß das Leben ein Kampf sei, und daß der Mensch erst nach dem Tode dazu gelangt, seine Bestimmung zu erfüllen, diese Ueberzeugung drängt auch die Philosophie uns auf; aber aus der Nothwendigkeit, das Fleisch dem Geiste, den irdischen Beruf dem zukünftigen unterzuordnen, folgert fie nicht, daß es in dieser Welt Nichts giebt, was geliebt zu werden verdient, die philosophische Wissenschaft erkennt alle Triebe, welche Gott felbft uns ins Herz gelegt, als berechtigt an, insofern wir sie der Herrschaft der Vernunft unterwerfen; und wie sehr sie uns auch dazu bringt, den Blick vorzugsweise auf das ewige Glück gerichtet zu halten, so verbietet sie uns doch nicht, auch auf dieser Erde schon so viel wie möglich glücklich zu werden; wie sehr sie sich bemüht, göttlich zu sein, kann sie doch nicht umhin, auch schon menschlich zu sein.

Man muß zugeben, daß wir im menschlichen Leben, wenn wir darunter nur den Zeitraum von der Geburt bis zum Tode verstehen, wenig Grund haben, uns glücklich zu preisen. Müßte man zwischen den beiden Behauptungen: daß es nichts Gutes in der Welt gebe, und: daß darin Alles aufs Beste sei, wählen, so dürfte die erste einem Jeden, der die Unsterblichkeit vergißt oder den Glauben daran nicht hat, als die richtigere erscheinen. Manche edle Geister trösten sich im Hinblick auf das Elend des Menschenlebens mit dem Gedanken des Fortschritts, aber dieser Gedanke ist doch nur wahr in Bezug auf die Menschheit und deren Geschichte im Großen und im Ganzen. Manche Philosophen behaupten, um die Vorsehung zu ehren, daß man am Ende doch immer siegreich hervorgeht, wenn man tugendhaft ist, und dieselben Philosophen behaupten ein anderes Mal, um die Nothwendigkeit eines künftigen Lebens darzuthun, daß die Tugend in dieser Welt nicht immer belohnt wird. Von diesen sich widersprechenden Behauptungen ist offenbar nur die zweite richtig. Es hilft wenig zum Glück, daß man, wie die meisten Menschen thun, sich alle mögliche Mühe giebt, gegen das Elend im Menschenleben und gegen den Tod das Auge zu verschließen und gedankenlos hinzuleben, wie man zu leben gewöhnt worden ist oder sich selbst gewöhnt hat. Der Mensch ist frei. Er kann, was er zu thun beabsichtigt, aufschieben, beschleunigen, ändern, er kann etwas Anderes thun, als er versprochen hat; er fühlt in sich die Macht, das, was er thut, auch unterlassen, und das, was er unterläßt, auch thun zu können. Er glaubt natürlich, daß dieselbe Freiheit in den anderen Menschen existirt. Daher bewundert, verachtet, ermahnt, bestraft er fie. Die Willensfreiheit, die uns Menschen innewohnt, macht uns verantwortlich in Bezug auf die Art, wie wir unser Leben führen. Die freie Kraft aber, welche wir sind, wird unaufhörlich von den Leidenschaften erregt. Wir tragen alle den Keim aller Leidenschaften in uns; aber es ist bald die eine, bald die andere, welche vorherrscht. Ein Mensch, der seine Leidenschaften nicht zu beherrschen und zu regeln vermag, gehört nicht sich selbst und ist ein unglückliches, elendes Wesen. Durch die Vernunft kann er Herr seiner Leidenschaften werden. Die Vernunft, auf die Handlungen des freien Menschenwillens angewendet, ist die Gerechtigkeit. Was fie fordert, das ist die Pflicht. Wo sie spricht, da hat die Leidenschaft, auch die glühendfte, zu schweigen, sich zu fügen. Das Gesetz der Gerechtigkeit ist das Geseß Gottes selbst, von Vielen verkannt, Niemanden unbekannt, immer gegenwärtig in uns, um uns zu leiten vor der Handlung, um uns zu belohnen, wenn wir die Leidenschaft zum Opfer gebracht, um uns zu strafen, wenn wir nicht ihm, sondern der Leidenschaft gehorsam gewesen.

Wer nicht mit der Gerechtigkeit hält, hat auf kein wahres Glück zu rechnen. Was er unternimmt, kann ihm gelingen; aber zwei zum Glück nothwendige Dinge werden ihm fehlen: die Selbstachtung und das Gefühl der Sicherheit in Bezug auf die Zukunft. Das größte Unglück ist, der Gerechtigkeit nicht gehorsam zu sein; aber ihr ungern Gehorsam zu leisten, ist auch noch ein Unglück.

Erst wenn der Mensch, nicht zufrieden damit, seine Pflicht zu kennen, es dahin gebracht, sie auch zu lieben; erst wenn er dahin gekommen, nur das Schöne zu bewundern und nur das Gute zu lieben; erst wenn die Tugend ihm so theuer geworden ist, daß er sicher ist, ihr mit innerer Befriedigung Opfer bringen zu können: erst das Leben eines solchen Menschen, ohne Gewissensbiffe in Bezug auf die Vergangenheit, ohne Befürchtungen in Bezug auf die Zukunft, ohne Kämpfe in der Gegenwart, ist ein glückseliges Leben. Er wird noch leiden fönnen, weil es Leiden giebt, denen der Mensch sich nicht entziehen kann, aber er wird nie mehr die Vorsehung anzuklagen haben.

Wir gehen nicht so weit, wie die Stoiker, zu behaupten, daß der Schmerz nur ein Wort sei; wir mögen auch nicht mit den Chriften

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fagen, daß man Gott segnen müsse für die Schmerzen, die er uns schickt, weil wir glauben, daß der Mensch, wie zum Guten, so auch zum Glück bestimmt sei. Wir sind überzeugt, daß man mit der Erkenntniß und mit der Liebe zur Pflicht, mit einem veredelten Herzen, mit gemäßigten Wünschen, mit einem festen Vertrauen auf Gottes Güte, mit echter Menschenliebe mehr Grund hat, die Vorsehung zu segnen, als sich über sie zu beklagen.

Solche Schicksale und Katastrophen, denen gegenüber die aus dem Bewußtsein der Tugend geschöpften Tröftungen ihre Kraft verlieren, mögen uns zum Beweise dienen, daß es eine Unsterblichkeit giebt. Die Unsterblichkeit ist das leßte Wort der Wissenschaft und des Lebens. Sie ändert Alles in uns und außer uns: sie macht das Opfer leicht, indem sie unsere ganze Seele mit ihrer ftrahlenden Hoffnung erfüllt; fie nimmt dem Unglück seine Härte, sie verwandelt, mildert, vernichtet es. Der Troft und die Hoffnung, diese beiden Stüßen des Menschen sind nichts ohne die Unsterblichkeit, auf der sie beruhen.

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Die vorstehenden Mittheilungen werden unsere Leser in den Stand gesezt haben, den philosophisch ethischen Standpunkt Jules Simon's klar und deutlich zu erkennen. Wer mit der modernen dentschen Philofophie einigermaßen bekannt ist, wird nicht verkennen fönnen, daß die philosophisch - ethischen Prinzipien, die dem Simonschen Buche: „die Pflicht" zu Grunde liegen, ganz und gar mit denen zusammenfallen, welche Kant, der Begründer der modernen deutschen Philosophie, in seiner Kritik der praktischen Vernunft als die Prinzipien einer wahr haft freien und einer auf sich selbst ruhenden menschlichen Sittlichkeit verkündet hat.

Brafilien.

Brasilien und seine Industrie im Jahre 1855.

Aus dem Jahrberichte des brasilischen Ministers des Innern an die gefeßgebende Versammlung dürfte ein Auszug auch unsere Leser ansprechen: Die brasilische Industrie ist in ihrem Anfange. Unter den von der Regierung unterstüßten Fabriken der Hauptstadt haben nur die Glas-Manufaktur von Sao-Roque und eine Treffen-Fabrik Fortgang. Jene beschäftigt neunundzwanzig freie, meistens in Europa angeworbene Arbeiter und dreißig Sklaven. Ihre feineren Produkte halten freilich keinen Vergleich mit den fremdländischen Glaswaaren aus. In der Umgegend von Rio ist eine Weberei errichtet, die nächstens in Gang kommen soll.

In gedeihlichem Zustande ist außerhalb der Hauptstadt eine Anstalt zu Ponte-da-Arca, mit Werkstätten für Eisen- und Bronceguß, zur Verfertigung der Dampfmaschinenkeffel; sie besigt auch Schiffswerfte. Im Laufe des Jahres 1854 wurden hier vier Dampfböte gebaut; zwei Dampfschiffe und ein Segelschiff find gegenwärtig auf dem Werft. Das Personal besteht aus 441 verschiedentlich beschäftigten Arbeitern, davon sind 117 Brasilianer, 104 Ausländer und 130 Sklaven. Die Errichtung einer Zucker-Raffinerie, einer Destillation und einer Anstalt zur Bereitung einer thierischen Kohle find im Werke. Eine Gerberei in Mahury liefert jährlich 5,000 Stück Leder.

Die Provinz Bahia besißt einige Kattun-Fabriken, wovon die eine in Valença nach einem großen Maßstabe eingerichtet ist. Ihre Production übersteigt den Verbrauch der Provinz, und sie führt den Ueberschuß nach anderen Gegenden des Reiches aus. Ferner hat diese Provinz drei Eisengießereien in den Städten Bahia, Santo Anaro und Valença. In lezterer ist auch eine Sägemaschine.

In der Provinz Minas-Geraes beschäftigen mehrere Eisengieße. reien noch an 2,000 Menschen und produziren jährlich 2,200,000 Kilo gramm Eisen (über 46,000 Centner). Auch eine Baumwollen-Spinnerei scheint in gutem Stande zu sein.

Die Gießerei in Pernambuco ist im Fortschreiten begriffen. Die voriges Jahr in der Provinz Amazona gegründete Strohhut-Fabrik ist schon in Thätigkeit, ihre Production ist aber bis jeßt, aus Mangel an Arbeitern, sehr beschränkt.

Eine Merino-Heerde, die der Präsident der Provinz Saō-Pedro (Rio-grande-do-Sul) voriges Jahr aus Deutschland kommen ließ, hat fich seitdem verdoppelt. Im Allgemeinen that die Regierung das Mögliche, die Merinos in diejenigen Provinzen einzuführen, die für die Verbefferung der Schafzucht günstige Verhältnisse bieten.

Eine Seidenprobe aus der Kolonie Sao-Leopoldo in der Provinz Saō-Pedro, der Beurtheilung Sachverständiger in Preußen unterwor. fen, wurde der Qualität nach der lombardischen, persischen und chine fischen Seide gleich und der Werth auf 58-60 Francs das Kilogramm geschäßt.

Seidenkofons wurden aus der Parahiba nach Rio Janeiro gesandt. Nach dem Urtheil der kaiserlich brasilianischen Seidenbau-Ge

sellschaft haben diese Kokons, was den Farbenglanz des Schmetterlings betrifft, Aehnlichkeit mit denen, die in Frankreich den Namen paon de nuit (Nachtpfauen-Auge) erhalten haben. Die Gefellschaft erklärte sich indeß dahin, daß die Seide nach ihrer Lage in diesen Kokons nur gekrämpelt, nicht abgehaspelt werden kann und daher zu feinen Zeugen untauglich ist.

Der Präsident der Provinz Saō- Pedro hat Proben eines dem Wachs ähnlichen Stoffes eingeschickt, der in einigen Gegenden dieses Reiches in Ueberfluß gesammelt wird. Die Gesellschaft zur Ermunterung der National-Industrie hat nach Untersuchung des Stoffes erklärt, daß er zugleich etwas von der Substanz, welche die Chinesen aus einem Insekte ziehen wollen, und etwas von dem Stearine der Carnuba (des brasilischen Palmbaums), deren Stamm eine Art Wachs ausscheidet, in sich enthalte. Wie es scheint, könnte dieses Material für die Industrie von Nugen sein.

Endlich fand man in der Provinz Rio Janeiro einen sehr schönen und leicht zu gewinnenden Marmor.

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Mannigfaltiges.

Französische Gesezgebung über das literarische und künstlerische Eigenthum. Unter dem Titel „Internationales Gesezbuch über das industrielle, artistische und literarische Eigenthum") haben die Herren J. Pataille und A. Huguet so eben eine Zusammenstellung aller in dieser Hinsicht bestehenden geseßlichen Anordnungen des In- und Auslandes herausgegeben. In Frankreich genießen bekanntlich auch die Musterzeichnungen der Fabrikanten den Schuß der Geseze gegen mechanische Nachbildung; deshalb also die Bezeichnung,,propriété industrielle". Die Industrie ist darum wahr= scheinlich im Titel des Buches vorangestellt, weil dasselbe wohl unter Kaufleuten und Fabrikanteu einen größeren Absaß, als unter Schriftstellern und Künstlern, zu erwarten hat. Das Handbuch zerfällt in zwei Abtheilungen, von welchen die erste die französische Gesezgebung, unter Mittheilung der betreffenden Gefeße, Verordnungen, Dekrete und gerichtlichen Verfügungen, umfaßt; die andere Abtheilung beschäftigt sich mit der diesfallsigen Gefeßgebung des Auslandes und bringt den Text aller internationalen Verträge Frankreichs mit anderen Staaten in Betreff von Erfindungs-Patenten, literarischen, dramatischen und musikalischen Erzeugnissen, Muster-Zeichnungen, Modellen, Fabrikzeichen, Stempeln c.

Deutsche Musik in Frankreich. Französische Feuilletons pofaunen mit vollen Backen das Erscheinen einer neuen, klassischen Pianoforte-Schule“ im Verlage der unter der Firma „Le Ménestrel” (der Minstrel) etablirten Musikhandlung des Herrn Heugel in Paris an. Genau betrachtet, ist jedoch diese ,,École Classique - Marmontel” nichts Anderes, als ein großartiger Nachdruck deutscher Compositionen für das Pianoforte, namentlich von Mozart, Haydn, Beethoven, Händel, Bach, Hummel, Weber, Mendelssohn, Steibelt, Cramer, Ries 2c. Der,,Ménestrel" hat dazu von dem geschäßten Pariser Klavierlehrer Marmontel Erläuterungen über den Fingersaß, die Accentuationen und Bewegungen, so wie über den Styl der einzelnen Stücke schreiben laffen, und dies soll die Ausgabe zu einem Originale ftempeln, das den Schuß der Geseße genießt. Sollte, wie zu erwarten steht, bald auch zwischen Frankreich und dem Deutschen Bund ein internationaler Vertrag gegen den Nachdruck zu Stande kommen, so werden sich die Herren Breitkopf und Härtel, so wie die anderen deutschen Verleger von Mozart, Haydn, Beethoven 1c. vergebens in Frankreich nach einem Schuß für ihre Verlagsartikel umsehen, die sämmtlich vom „Ménestrel" ausgebeutet sein werden. Bereits sind von dieser École Classique vier Bände (15-1600 S. in Fol.) erschienen, und acht andere Bände sollen demnächst folgen.

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„Was heiraten die Leute?" fragt ein amerikanisches Journal.„Mancher Jüngling heiratet die Grübchen, mancher die Ohren; hin und wieder kömmt der Mund an die Reihe, felten das Kinn. Erst neulich verliebte sich ein junger Mann bis über die Ohren in Locken à la Eugénie, die ihn auch richtig an das Ehejoch banden; aber gerade kam diese Mode ab, und des Zaubers Gewalt war gelöst. Die jungen Leute heiraten auf diese Weise statt des echten Ganzen nur Flitter und Bruchstücke und sind nach der Hochzeit erstaunt, daß sie, obgleich verheiratet, keine Frau haben. Wer eine Frau haben will, muß das Weib heiraten."

*) Code international de la propriété industrielle, artistique et litéraire. Guide pratique des inventeurs, auteurs, compositeurs, artistes et fabricants français et étrangers, par J. Pataille, avocat, et A. Huguet. Paris, 1855.

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