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nur noch mit Draht kümmerlich zusammengehalten ist, und die halb zahnlosen Kinnbacken strecken sich wie knirschend unter den aufgeschlagenen Visiren vor; weiterhin brüften sich wieder Gestalten in Perücken und allem nur erdenkbaren lächerlichen und bizarren Kopfschmuck; der scheint zu lachen, jener zu frieren, dieser wieder mit weit vorgereckter schwarzer Zunge in gräßlichem Schmerze aufzuftöhnen — überall die furchtbar fich gleichende Physiognomie des Todtseins in tausendfach wechselnder Gestaltung. Dann wieder die der näheren und nächsten Zeit angehörenden Todten, die, noch nicht zur Mumie geworden, in ihren entstellten Zügen nur eine um so grauenvollere Verwandtschaft mit dem Leben zeigen: hier langgestreckte Krieger in prächtigen Galla. Uniformen, wie man sie draußen noch zu Hunderten umhergehen sieht, dort Herren in schwarzen Fracks mit auf der Bruft gekreuzten gelben Händen, die gerade in diesem suffisanten Salonschmuck den allerscheuß lichsten Anblick gewähren. Und zuleßt gar die Frauen! reich geschmückt, wie zum glänzendsten Hoffeste, liegen sie in ihren schmalen farbigen Truhen mit lächerlich-gräßlicher Prätension; Fraßengesichter, die alle Häßlichkeiten des verzerrendften Todeskampfes an sich tragen, lugen aus Spißen und Seide und reichem Blumenschmuck hervor, Sammet und Goldstoff bauscht um eingesunkene, eckige Glieder, und den zier, lich filbergestickten, weißen Atlasschuh füllt nur zum dritten Theil ein brauner Knochenfuß. Hier und da hängen auch frische Blumen in Sträußen und Gewinden um die modernden Refte, und der Zettel, den jede Leiche zwischen den Fingern hält, worauf Name, Geburtsund Sterbetag angegeben, belehrt uns, daß hier ein Mädchen, erst vor wenigen Monaten in der Blüthe des Lebens verschieden, späte Liebesgabe von treuen Hinterlassenen empfing - aber die Blumen find welk und fahl, dem Hauch des Todes, der da weht, kann Nichts, was blühen und duften soll, widerstehen. Denn es ist eine fürchter liche Atmosphäre, die in diesen Grüften brütet, und man glaubt den Moderduft zu schauen, wie er sich als graulicher Staub um alle diese verkommenen, wurmstichigen Erscheinungen webt. Oft ist es auch, als regte sichs hier und da in einem dunklen Winkel, als nähme eine oder die andere dieser klapperdürren Puppen etwa eine bequemere Stellung an, aber es war doch nur der Luftftrich, der im Vorbeigehen die Kleiderfeßen oder eine zerraufte Haarlocke bewegte, oder eine geheimnißvoll lauernde Kaze war zwischen einem der Popanze weggehuscht, daß es flapperte und dröhnte.

,,Nachdem mich der Pater Guardian eine Zeitlang schweigend durch die Gänge geführt und mit triumphirenden Blicken mich gleichsam im Stillen den Total-Effekt dieses über allen Wort-Ausdruck entseglichen Schauspiels genießen laffen, machte er dienftbefliffen noch auf einige Details und besonders hervorstechende Individualitäten der Todten-Affemblee aufmerksam.... Gern hätte ich durch ihn einige nähere Erläuterungen über diese Palermo, wie mir scheint, ganz eigenthümliche Art der Todtenbestattung und die dabei übliche Manipulation eingezogen, aber da ich Mund und Nase, um die verpeftete Luft wenigstens nur filtrirt zu genießen, aufs engste blokirt halten mußte und übrigens des guten Mönchs ficilianischer Dialekt an sich schon sehr schwer verständlich war, so gab es nur eine gebrochene, vielen Mißverständnissen unterworfene Conversation. So viel glaube ich entnommen zu haben, daß diese Katakomben der vorzüglichste, wenn nicht der einzige Begräbnißplaß der Hauptstadt find, und daß der Regel nach alle Verstorbene auf solche Weise bestattet werden; nur gewisse hochadelige Familien machen insofern eine Ausnahme, daß ihre Leichen in hölzernen, oben gewölbten Kiften, die man denn, bunt bemalt und mit Wappen geziert, in großer Anzahl zu Füßen der anderen Todten umherstehen sieht, verschlossen und von den Angehörigen, welche die Schlüffel führen, beobhutet bleiben. Nach der gewöhnlichen Uebung werden die neu ankommenden Leichen entkleidet, in ein dunkles Gewölbe gebracht und dort, mit eingeschnürten Gliedern auf einem eifernen Noft ausgespannt, durch sechs Monate einem raschen, aber natürlich unvollkommenen Verwesungsprozeß ausgeseßt, der durch ein unter dem Rofte wegrieselndes Waffer noch beschleunigt werden soll. In dem dadurch erzeugten, halb mumienhaften Zustande wird der Körper wieder abgenommen, angekleidet, und zwar in den meisten Fällen nur in eine schlechte Kapuzinerkutte, und den Tausenden seiner Vorgänger angereiht, wo er stehen und har ren soll bis an das Ende der Dinge, und wo nur die feierlichen Besuche seiner Angehörigen, die an großen Festtagen ihn mit neuen Kleidern und Blumen herauspußen, seine ewige Ruhe stören. ... Wie lachte mich der blaue Himmel an, als ich aus dieser entfeßlichen Nacht des Staubes wieder ins Freie trat, wie sog ich die Luft in vollen Zü gen, wie schwelgte mein Auge in der weiten duftigen Landschaft!".. Und nun folgt eine gluthvolle Schilderung der entzückenden Aussicht, die fich von den Zinnen der Zisa über das zauberische Thal, die Stadt Palermo und das azurblaue Meer dem vom Glanze der Herrlichkeit geblendeten Blicke erschließt.

In dem Kommentar, den der Verfaffer dieser lebendigen Darftellung anzuheften für nöthig erachtet, sucht er die allerdings Jedem fich aufdrängende Frage zu beantworten, wie eine so abscheuliche Art

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der Leichenbestattung sich so lange habe erhalten können, und er gelangt zu dem Resultat, daß das Zusammenwirken zweier dem Charakter des Sicilianers tief eingeprägten Eigenthümlichkeiten den jedes gesunde Gefühl verlegenden Brauch wohl erklären könne, das Zusammenwirken der Bigotterie,,,der zufolge der irdische Körper gegenüber der unsterblichen Seele ein reines Nichts, ein dem Zufall preisgegebenes Spielwerk darstellt“, und der Neigung zum Burlesken, die sich gerade auf religiösem Gebiet am allerfecften zu geberden pflege. Aber es springt in die Augen, daß jedwede Art der Leichenbestattung, welche, wie die palermitanische, die Leiber der Verstorbenen durch irgend welche künftliche Manipulation zu konserviren und dem Anblick der Angehörigen zu erhalten sucht, nicht auf eine von der Bigotterie eingegebene Verachtung der irdischen Erscheinung, sondern eher auf die gerade entgegengeseßte Empfindung hindeutet, und was die Freude am Burlesken betrifft, so glauben wir, daß fie eben so wenig zur Erklärung jener anstößigen Sitte beiträgt. Der Verfaffer scheint uns zu irren, wenn er annimmt, daß in einem rein menschlich gestimmten Gemüthe" das ursprüngliche Entseßen, das den Fremden bei dem ersten Anblick einer so schauerlichen Todtenversammlung ergreift, später einer humoristischironischen Betrachtung über die Hinfälligkeit des Jrdischen, über die mit dem buntesten Flitterkram elend bedeckte Verwesung Plaß mache. Das ursprüngliche Entseßen ist als eine gewaltige, plöglich hereinbrechende Empfindung allerdings nicht bleibend; aber sie weicht, wie uns scheint, nur dem Gefühl des Abscheus, das sich in einem,, rein menschlich gestimmten Gemüthe" behaupten dürfte. Nur in den feltenen Fällen, wo ein Individuum, wie der Pater Guardian, durch die Nothwendigkeit zum täglich wiederholten Anblick eines so widerwärtigen Schauspiels gezwungen wird, scheint es uns begreiflich, daß die innere Natur, in gesunder Reaction gegen eine andauernd peinigende Empfindung begriffen, das Gefühl des Abscheus durch eine Idee zu überwinden sucht, in welcher der Mensch sich befriedigter fühlt, und daß er endlich allerdings dahin gelangt, mit einem gewiffen TodtengräberHumor philosophirend und ironifirend durch das gräßliche Todtenreich zu wandern. Allen anderen Personen aber, die sich jährlich vielleicht nur einigemal, an Fest- und Gedenktagen, die düfteren Pforten öffnen laffen, um, von wehmüthigen Erinnerungen umschwebt, die modernden Ueberreste theurer Verwandten aufzusuchen, liegt die Freude am Barocken und Burlesken sicherlich viel zu fern, als daß sie ihnen den traurigen Weg erträglich machen könnte. Sie widerstreitet zu sehr der Stimmung, welche die Hinterbliebenen hierher führt, um eine lezte Liebespflicht zu erfüllen; wer selbst durch einen noch nicht vergessenen Verlust die Macht des Todes erfahren hat, ist nicht geeignet, die grellen und lächerlichen Kontrafte, welche dieselbe Macht in diesen unheimlichen Räumen neben einander gestellt hat, mit behaglicher Fronie zu betrachten.

Wie im vorliegenden Falle, scheinen uns auch an anderen Orten die Erklärungsversuche des Herrn Verfaffers manchen Einwendungen zu unterliegen; aber ungeachtet dieser schwächeren Partieen bleibt das Buch eine der ansprechendften Erscheinungen auf dem Gebiete der Reise-Literatur. Denn sie werden weit überwogen durch die Anschaulichkeit, Frische, Anmuth und den Glanz der Darstellung, durch welche Dr. Goldhann so zu feffeln weiß, daß kein gebildeter Leser die,,Wanderungen in Sicilien“ ohne hohen Genuß aus der Hand legen wird.

Ungarn.

Philologische Zeitschrift in magyarischer Sprache.

Von dem,,Magyar Nyelvészet", deffen Programm wir vor eini gen Monaten auszugsweise mitgetheilt, ist das erste Heft (in drei Bogen) erschienen. Der Inhalt desselben beweist unwidersprechlich, daß Herausgeber und Mitarbeiter mit den Errungenschaften sowohl, als den Bedürfnissen unserer Zeit, so weit sie das gewählte wissenschaftliche Gebiet berühren, in ihrem ganzen Umfange vertraut find. Der erste Artikel,,Was bezweckt die (Zeitschrift) „Magyarische Sprachwissenschaft“?“ („Mit akar a’„Magyar Nyelvészet””) ist von dem Herausgeber (Herrn Hunfalvy) selbst. Wir faffen hier seinen Inhalt kurz zusammen. Schon die inneren Beziehungen Ungarns erheischen, daß Sprach- und Geschichtsforschung nicht blos die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit dieses Landes möglichst vollständig umfaffen. Noch viel dringender wird aber diese Mahnung, wenn wir auf die äußeren Beziehungen Ungarns hinblicken. Die Magyaren sagt man — sollen ein europäisches Volk werden; allein über die Bedeutung von „europäisch“ scheint man nicht im Klaren zu sein; denn bei Beurtheilung der Eigenthümlichkeit des Volkes und seiner Sprache kömmt fast Alles auf Rechnung des Asiatenthums, wobei arge Widersprüche unvermeidlich sind. Der wahre Europäismus befteht aus zwei Elementen: das eine bildet der (freilich ebenfalls aus Asien stammende) chriftliche Glaube im Verein mit der griechisch-römischen Verlassenschaft; das andere ein eigenthümlicher Geist raftloser, freier Forschung und Entwickelung, welcher bis jezt nicht untergegangen

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ift und gleichsam die Fortseßung des griechischen Geiftes heißen kann. Die europäische Bildung nimmt die Schöpfungen aller Jahrhunderte, aller Nationen in sich auf, aber nicht als todten Schaß, den man vergräbt, sondern als Samenkörner, die fie fruchtbringend zu machen weiß. Wahrhafter Europäer wird also der Magyar, wenn er an diesen großartigen Bestrebungen rüftig Theil nimmt, um geistig eben so reich und schöpferisch zu werden, wie andere Völker. Die vorliegende Zeitschrift will auf den besonderen Gebieten, denen sie sich widmet, solche Thätigkeit ermuntern und wo möglich leiten. Sie beschränkt sich vorerst auf die griechisch-römische und die vaterländische Sprachwissenschaft, weil hier vor Allem Ermunterung und Anleitung Noth thun.

Das Studium des Griechischen ist in den gelehrten Schulen Ungarns erst jest eingeführt und einer der vornehmsten LehrgegenFtände geworden. Es ist aber noch erforderlich, daß man die Leute von feiner Nothwendigkeit überzeuge. Die bisher gewöhnlichen Einwände gegen dieses Studium, die Herr Hunfalvy mit gewichtigen Gründen beseitigt, stärken sich jest mit neuen. Das Naturwissen thut heutigentages in allen seinen Zweigen Riesenschritte und führt zu so großartigen Entdeckungen, daß der ftaunende Betrachter leicht auf schiefe Urtheile kömmt. Wider denjenigen Zweig des intellektuellen Wissens, den wir klassische Gelehrsamkeit zu nennen pflegen, erhebt sich besonders derjenige Zweig der Naturwissenschaften, den man, weil er das ftoffliche Wohlleben unmittelbar fördert, industrielles Wissen nennen kann. Allein jede Gesellschaft besteht nothwendig aus einem Lernenden (geistig thätigen) und einem arbeitenden (stofflich tha tigen) Theile: dem einen ist das sogenannte klassische, dem anderen das industrielle Wissen vorzugsweise nothwendig, und so bleibt kein Anlaß zum Streite über den Vorzug eines von beiden.

Einen sehr großen Raum in den heutigen Studien nimmt die Sprachwissenschaft ein. Die Sprachen sind Produkte, in welchen die eigentlichste Natur des Menschen sich kundgiebt; daher ist ihr Studium schon an und für sich, als ein anthropologisches, von höchstem Werthe. Allein es kommen noch andere wichtige Intereffen hinzu. Die erst in unserem Jahrhundert entstandene wissenschaftliche Sprachvergleichung lehrt uns in den Einzelsprachen Glieder von Sprachfamilien und größeren Sprachgeschlechtern erkennen, die einander gegenseitig beleuchten, und ohne sorgsame Analyse der Muttersprache im Vereine mit den fern von aller Parteilichkeit und auf Freng wissenschaftlichem Wege als ihre Verwandten erkannte bionden ift keine sichere und gesunde Sprachforschung möglich. Einseitigkeit, die oft sogar mit unklaren Begriffen vom Sprachbau überhaupt verbunden ist und welcher, wie namentlich öfter in Ungarn der Fall war, ein sehr übel verstandener Nationalstolz zum Grunde liegen kann, führt im besten Falle zu unsicheren Ergebnissen, gewöhnlich zu unheilbaren Verirrungen.

Der Verfasser belehrt nun seine Leser über Sprachstoff und Sprachform, über Ausdruck der Bedeutung und der Beziehung, und über die Kriterien verschiedener Sprachstämme. Die Sprache der Magyaren gehört zu dem altaischen oder finnisch-tatarischen Stamm; ihre etymologischen Räthsel (und solche bietet jede Sprache der Welt) können daher nur mit Hülfe der übrigen altaischen Sprachen gelöst werden, wie das Magparische umgekehrt auch seinen Schweftern und Basen aushelfen muß.

Der zweite, von Herrn Szende Riedl gelieferte Artikel ift überschrieben: „Von Sprachwissenschaft überhaupt" (,,a' nyelvészetről általában"). Der Verfasser weist zuerst darauf hin, wie diese Wissenschaft in den drei vergangenen Jahrzehnten zu einer Stufe empor. gestiegen sei, die ihr im Rathe ihrer älteren Blutsverwandten Siß und Votum sichere, wie sie fähig geworden, das der Denk- und Seelenlehre, Menschen- und Völkerkunde, Mythologie und Geschichte entliehene Kapital mit schweren Zinsen zurückzuerstatten. Dann bezeichnet er die vornehmsten Epochen dieser Wissenschaft, von den überall schöpferisch wirkenden Griechen an bis zu ihrer heutigen Umgestaltung durch Bekanntschaft mit dem Sanskrit. Die gewaltigen Bewegun gen, welche dieses Studium veranlaßte, blieben auch in Ungarn nicht • ohne Anklang; aber zahllos waren die Hinderniffe, welche dort sich dawider stemmten, zahllos die zu entwurzelnden Vorurtheile. Verwandtschaft zwischen dem Magyarischen, Finnischen und Lappischen hatte man schon seit dem siebzehnten Jahrhundert bemerkt; allein maßloser Nationalstolz, der hierdurch die Abstammung des Magyarenvolkes von Attila, der „Geißel Gottes", gefährdet glaubte, wendete fich mit Entrüstung von Bestrebungen ab, die längst auf den richtigen Weg geleitet hätten. Derjenige Mann, welcher der magparischen Philologie nicht blos eine neue Richtung anwies, sondern sie zuerst erschuf, war Révai; nach ihm hat besonders die Akademie zu Pefth in den lezten Dezennien sich große Verdienste erworben; um aber auf diesem Gebiete mit den gebildeten Nationen des Auslandes wetteifern zu können, muß noch viel, sehr viel geschehen.

Ein dritter Artikel: Unsere Gymnasien und der neue Lehrplan". („Gymnasiumaink 's az új tanterv") ift mit 6. 8. 9. unterschrieben.

Magyarische Wissenschaft sollte die Pforte sein, durch welche die Forschungen des europäischen Geistes nach Mittel-Asien geführt werden; dies ist aber nur dann möglich, wenn die Pforte durch den wiffenschaftlichen Geift Europa's zu einer sicheren wird, und diesen erwirbt man sich vor Allem durch echte klassische Bildung, die auch in anderen Ländern den verdorbenen Geschmack verbeffert und von falschen Richtungen zurückgelenkt hat. Der so viele Geifter fortreißende grobe, die Menschheit entwürdigende Materialismus, die blafirte Romantik und andere psychische Krankheiten, in deren Hintergrunde das verjüngungskräftige Element des klassischen Alterthums ein kümmerliches Dasein fristet, müffen bekämpft werden; daß aber dieses klassische Element die ersehnte Wiederbelebung der Literatur und Wissenschaft bewirke, ift zum großen Theil Aufgabe der Gymnasien. Auf diesen muß die Muttersprache, als einzig sichere Grundlage zu allen, der erfte Gegenstand der Unterweisung sein; nach ihr das Lateinische, das Deutsche, das Griechische. Der Hauptzweck des Erlernens der sogenannten todten oder gelehrten Sprachen ist Einführung in die Schazkammer der Literaturen des Alterthums, harmonische Entwickelung der Seelenkräfte, Heranbildung des Menschen zu wahrer Humanität. Ein verständiger Lehrer wird den nothwendigen Unterschied der Lehrmethode, wenn es auf Griechisch oder Latein, und wenn es auf lebende Sprachen ankömmt, leicht einsehen. Wo den etwanigen Mängeln des Unterrichts durch Uebung im Leben abgeholfen werden kann, da ist ein spielender Unterricht (nach Jacotot, Hamilton, Robertson) weniger nach, theilig, als wo jenes nicht angeht. Der praktische oder ConversationsGebrauch gelehrter Sprachen ist in Ungarn sehr selten°) — berühmte Gelehrte behaupten sogar, daß er die Klassizität benachtheilige - es müssen also auf der Schule von vorn herein die systematischen Grundlagen dieser Sprachen, wenigstens in Hauptzügen, aber bestimmt, deutlich und klar, gegeben werden; sonst treibt man die Jugend gleichsam über eine Eselsbrücke zu einem Ziele, das Schüler und Lehrer nicht zu würdigen wiffen. Die in Ungarn vorhandenen griechischen und lateinischen Elementar-Bücher werden gemustert; wir erfahren bei dieser Gelegenheit, daß ein magparisch-griechisches und griechisch-magparisches Wörterbuch noch gar nicht vorhanden ist.

In einem kürzeren Schluß-Artikel giebt Herr Hunfalvy, von der Bedeutung des Wortes Uigur (nach Abulgasi) und verwandter türkischer Wurzeln ausgehend, eine neue und sehr gefällige Erklärung des Wortes Magyar (ehemals Moger), wonach es ein allgemeiner, kein Eigenname war und Verbündete (Hetu Moger, die sieben Verbündeten) bedeutete. Daran knüpfen sich noch andere scharffinnige Vermuthungen; wem es aber um die historische und philologische Motivirung vor Allem zu thun ist, den müffen wir, falls er Magyarisch versteht, auf den Artikel selbst verweisen. Sch...

Frankreich.

2. A. Martin's

„Moralischer Geift des neunzehnten Jahrhunderts“. **)

Im Jahre 1844 ließ Herr 2. A. Martin in Paris unter obigem Titel ein Buch erscheinen, das, im Wesentlichen eine Zusammenstel lung von Marimen und Aussprüchen aus bekannten Schriftstellern unseres Jahrhunderts, zugleich eine recht sinnreiche Encyklopädie aller fittlichen Eigenschaften des Menschen, so wie aller höheren Abstractionen des Lebens, ift. Es werden darin unter Anderem die Begriffe: Seele, Freundschaft, Liebe, Gewiffen, Religion, Wahrheit, Gerechtigkeit, Tugend, Freiheit, Vaterland, Ruhm, Schönheit, Glück, Unglück, Egoismus, Leidenschaft, Zorn, Zweifel, Schmerz, Hoffnung u. s. w. psychologisch und philosophisch durch die an paffender Stelle eingefügten zahlreichen Citate in erschöpfender Weise erläutert. Das Buch erwarb sich in Frankreich vielen Beifall, wie aus den Anerkennungen zeitgenössischer berühmter Schriftsteller hervorgeht, die dem Verfasser zu Theil geworden und die er der kürzlich in Brüffel erschienenen zweiten Auflage als empfehlende Einleitung hat vordrucken lassen.

In der That verdient das Buch aber auch, und zwar nicht blos von den Schriftstellern, die der Verfaffer benußt hat, sondern auch vom Publikum mit Beifall aufgenommen zu werden. Freunde einer ernsten Lektüre finden darin Nahrung zugleich für das Herz und für den Geist.

Der Verfasser hat ungefähr hundertfunfzig französische und fremde Schriftsteller für seine Arbeit benußt; von deutschen nur zwei - Goethe und Ancillon was sehr zu bedauern ist, da gerade die deutsche Literatur Herrn Martin die ergiebigste Ausbeute hätte liefern können; etwas zahlreicher ist die englische vertreten; dagegen fehlt von den

nehmen an, selbst dem gemeinen Ungarn sei das Lateinische (wenn auch eine *) In unserem Deutschland glauben Viele das gerade Gegentheil; ja, fie Art Küchenlatein) oft so geläufig wie seine Muttersprache!

**) Esprit moral du dix-neuvième siècle. Par Louis Auguste Martin. Nouvelle Edition. Bruxelles, Ch. Muquardt, 1855.

franzöfifchen Schriftstellern des neunzehnten Jahrhunderts kaum irgend ein Name von Bedeutung, selbst nicht der Napoleon's III. und Ludwig Philipp's. Der regierende Kaiser hat einen Beitrag zur Erläuterung des Begriffes,,Wahrheit" geliefert. Man wird eine Idee von der Darstellungsweise des Herrn Martin bekommen, wenn wir hier die Stelle wiedergeben, in welcher er die Worte Napoleon's III. zur Verherrlichung der Wahrheit anbringt:

"In den hohen Regionen der Gewalt", sagt Herr Martin,,,ift die Wahrheit besonders schlecht angeschrieben, weil sie dadurch, daß fie den Augen der Menge die Verirrungen und Vergehen derjenigen zeigt, von denen fie geleitet wird, diese der Verachtung und der verdienten Strafe überliefert.

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„Und hinter diesem Wall von arbitrairen Maßregeln versteckt sich der Despotismus wie ein Dieb, der ertappt zu werden fürchtet; dort kann er ungestraft jede Art von Unthat vollführen, den Staatsschaß verschwenden, konfisziren, proskribiren, ein luftiges Leben führen und für alles dies noch Stillschweigen oder Lobeserhebungen verlangen. Aber die unaufhörliche Arbeit der Wahrheit unterminirt diese starken Mauern und sprengt fie früher oder später, beffer noch als Pulver, in die Luft. Der Fortschritt der Ideen ift langsam, aber sicher und unausbleiblich. Ludwig Napoleon sagt:,,Das gemeinsame Schicksal jeder neu zum Vorschein kommenden Wahrheit ist: zu erschrecken, anstatt hinzureißen, zu verlegen, anstatt zu überzeugen; dies kömmt daher, daß sie mit um so größerer Gewalt uns überkömmt, je länger fie unterdrückt worden. Weil sie Hindernisse zu besiegen hat, muß sie kämpfen und umwälzen, bis fie, von der großen Mehrheit begriffen und adoptirt, die Grundlage einer neuen gesellschaftlichen Ordnung wird.""

„Die Verfolgungen, die Plackereien, denen die Wahrheit ausgesegt ist, lassen die Größe ihrer Erfolge und das Verdienst ihrer Verkünder um so stärker hervortreten. Je schwieriger der Weg, je bestrittener das Terrain, je bedrohlicher der Kampf ist, um so ruhmwürdiger wird auch der Triumph sein."

Vom Könige Ludwig Philipp führt der Verfaffer die nachfolgenden Worte an:

„Die Freiheit besteht lediglich in der Herrschaft der Geseze. Daß Niemand gehalten sein kann, etwas Anderes zu thun, als das, was das Gefeß von ihm erheischt, und daß er dagegen alles das thun kann, was das Geseß nicht untersagt, darin besteht die Freiheit."

„Das beste Mittel, eine Nation der Freiheit würdig zu machen, ift, sie aufzuklären und den Unterricht unter allen Klassen der Gesellschaft zu verbreiten." (Der Verfaffer fügt hier hinzu: Wenn der König wirklich so gehandelt hätte, so würde er nicht im Eril, sondern auf dem Throne geftorben sein.)

„Was mich betrifft“, sagte der König einmal bei einer der großen Gratulationscouren am Neujahrstage,,,so kenne ich nur Ein Mittel, eine Regierung zu befestigen, und dieses besteht darin, die öffentlichen Freiheiten zu achten. Die Regierung bestrebe sich unaufhörlich, diese Freiheiten zu schüßen und aufrecht zu erhalten; sie sei offen, ehrlich und loyal; sie sei gerecht gegen Jedermann, mit Einem Worte, fie laffe sich stets durch die Gesinnung leiten, die durch das schöne deutsche Wort Aufrichtigkeit so trefflich bezeichnet wird." (Auch hierzu macht der Verfasser eine ähnliche Anmerkung, wie die obige.)

Vom Kaiser Napoleon I. bringt der Verfasser über ein Dugend Citate, doch zeugen fie fast sämmtlich von der Elastizität der Moral dieses Herrschers. Auch Talleyrand führt er nur an, um vor dessen macchiavellistischer Politik zu warnen. Inzwischen bilden die Schrift steller, die er ironischerweise citirt, nur die Ausnahme. Der Geist der meisten Autoren, die er in seine Darstellung verwebt, ist in der That geeignet, den,, esprit moral" des neunzehnten Jahrhunderts zu personifiziren.

Mannigfaltiges.

Kiepert's Karte der Nordpolar-Entdeckungen. Die dem fünften Bande der Berliner Zeitschrift für allgemeine Erdkunde" beigegebene Karte der Entdeckungen im Nordpolarmeere bis 1854, gezeichnet von Heinrich Kiepert, ist von der Verlagshand lung (Diedrich Reimer) auch besonders ausgegeben worden und kann

denjenigen, die sich auf diesem noch so wenig bekannten Gebiete der geographischen Wissenschaft näher orientiren wollen, als ein sehr handliches und zugleich möglichst vollständiges Blatt empfohlen werden. Umfaffender, als Petermann's sauber gezeichnete Karte der ParryInseln, reicht sie vom fünfundsechzigsten bis zum achtzigsten Grade nördl. Br. und vom fünfundsechzigften bis zum hundertdreißigften Grade öftl. L. von Paris. Die von der britischen Admiralität herausgegebene Karte ist dabei zum Grunde gelegt, wobei nur zu bedauern, daß bei der Uebertragung nicht auch die englischen Appellativa durch deutsche wiedergegeben worden. Hinsichtlich der Eigennamen, die den zahlreichen Insel-Ländern, Halbinseln, Eilanden, Bergen, Seen, Meerbusen, Buchten 2c. dieser arktischen neuen Welt beigelegt worden, bemerkt Herr Kiepert in den seiner Karte beigegebenen Erläuterungen, daß mit den oft an zehn und mehr Stellen immer wiederkehrenden Namen königlicher, prinzlicher und hocharistokratischer Personen eine überloyale Verschwendung getrieben worden; ja, manche dabei mit unterlaufende Geschmacklosigkeit geht geradezu ins Komische, z. B. die Benennung einer Gruppe von Fels-Eilanden im Boothia-Golf als „,Sons of the Clergy of Scotland" (,,Söhne der schottischen Geistlichkeit"). Der Name Jenny Lind ist ebenfalls durch eine Insel zwischen King-William- und Victoria-Land verewigt, und wer es noch nicht weiß, der erfahre jeßt, daß die arktische Jenny Lind in 69 Grað nördl. Br. und 105 Grad öftl. L. (von Paris) gelegen ist. Fremdes Verdienst um die geographische Wissenschaft ist bei dieser Namengebung ganz unberücksichtigt geblieben, und man sucht neben einem Parry, Roß, Franklin, Rennel, Davy, Airy 2. vergebens den Namen eines Humboldt oder Ritter. Dagegen ist Mentschikov durch eine Bucht am BoothiaGolf und der russische Admiral Krusenstern durch einen See in der Nähe des Astronomical Society - Island verewigt. Wahrscheinlich zur Paralysirung dieses Ruffenthums hat man vor kurzem mehreren Bergspigen auf Melville-Eiland die Namen Raglan, St. Arnaud und Canrobert gegeben.

- Der historische Atlas der Schweiz, welchen vor kurzem Herr A. de Mandrot, Hauptmann im eidgenöffischen Generalftabe, herausgegeben hat) umfaßt sieben kolorirte Karten, jede von einem breiten Nande eingefaßt, mit einem das Verständniß der Karten fördernden statistischen und historischen Kommentar als Tert. Jede Karte

leilitische Eintheilung der Schweiz in einem besonders wichtigen Zeitraum ihrer Geschichte dar. Darauf finden sich zugleich, ebenfalls durch Farben unterschieden und verfinnlicht, die zahlreichen, durch das Schweizer-Land zerstreuten, weltlichen und geistlichen Herrengebiete, von Zeitraum zu Zeitraum verfallend oder verschwindend, in dem Maße, als die Eidgenossenschaft an Areal auwächst. So zeigt die erste Karte Helvetien im Jahre 1300, zur Zeit, wo das Haus Habsburg auf dem Höhepunkte feiner Macht im Lande ftand. Die zweite im Jahre 1387 nach der Sempacher Schlacht, als bereits Zürich, Bern, Luzern, Glarus und Zug sich den drei Urkantonen angeschloffen hatten. Die dritte im Jahre 1415, wo die über den Erzherzog Friedrich ver= hängte Reichsacht den Schweizern den Vorwand zu Eroberung des Aargaus und der Freiämter lieh. Die vierte im Jahre 1460 oder der Zeit, wo Defterreich den Thurgau und Friburg an die Schweizer verliert, Kyburg verkauft und das Haus der Grafen von Toggenburg erlischt. Die fünfte im Jahre 1501 nach den Kriegen mit Burgund und dem Schwäbischen Bund, als nun auch Friburg und Solothurn (1481), Bündten (1497), Basel und Schaffhausen (1501) dem Bunde beitreten und der Verfall des Hauses Savoyen in der Schweiz beginnt. Die sechste im Jahre 1536, wo Appenzell bereits (f. 1513) aufgenommen ist, Bern, Friburg und Wallis sich durch Eroberung des Waadtlandes, des Chablais u. s. w. ansehnlich vergrößern und die Reformation die Mehrzahl der geistlichen Stifter säkularifirt hat. Die siebente im Jahre 1650 nach dem westfälischen Frieden, welcher der Schweiz völlige Unabhängigkeit vom deutschen Reichsverband garantirte, bis zum Jahre 1798. Dieses der übersichtliche Inhalt eines sehr verdienftlichen und schön ausgestatteten Kartenwerks. Herr von Mandrot hat bei Ausarbeitung desselben die Geographie der schweizerischen Eidgenoffenschaft von Fäsi und das historisch-statistische Wörterbuch von Leu zu Grunde gelegt, außerdem das ergiebige Material, das ihm die königlichen Bibliotheken zu Berlin und Dresden über die ältere Geschichte und Geographie der Schweiz darboten, zu Rathe gezogen. E. K―r.

*) Atlas historique de la Suisse, de l'an 1300 jusqu'en 1798. Par A. de Mandrot. Genève, Kessmann, 1855. Fol. Auch deutsch, Aufl. 2, in demselben Verlage.

Neue Bestellungen auf das vierte Quartal dieser Zeitschrift wolle man baldigst bei Postämtern oder Buchhandlungen machen. Preis: in Preußen. 25 Sgr. im deutsch österreichischen Postverein 271⁄2 =

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Wöchentlich erscheinen 3 Nummern. Preis jährlich 3 Thlr. 10 Sgr., balkjährlich 1 Thlr. 20 Sgr. und vierteljährlich 25 Sgr., wofür das Blatt im Inlande portofrei und in Berlin frei ins Haus geliefert wird.

No 115.

für die

Bestellungen werden von jeder deutschen Buchhandlung (in Berlin bei Beit u. Comp., Jägerstr. Nr. 25, und beim Spediteur Neumann, Niederwallfir. Nr.21), so wie von allen königl. Poft-Uemtern angenommen.

Literatur des Auslandes.

Frankreich.

Berlin, Dienstag den 25. September

Die menschliche Lebensdauer.*)

Nichts in der beseelten Welt ist dem Zufall überlaffen. Jede Verrichtung, jede Entwickelung, jede Erscheinung folgt vorher bestimmten Gefeßen. Jedes Wesen hat seinen abgesteckten Kreis der Thätigkeit, seine vorgeschriebene Rolle, feine angewiesene Bestimmung; so wie jede Thatsache ihren Grad, ihren Gegenstand, ihre Richtung, ihre Dauer hat. Das Ziel jeglichen Dinges ist zum Voraus entschieden: „Bis hierher und nicht weiter!“ hat Gott nicht zu den Wogen allein, hat er zu Allem, was fühlt, glaubt, lebt, gesprochen. Für jegliche Gattung mit ihren eigenthümlichen Kräften und besonderen Bedürfniffen finden wir regelmäßig abgemarkte Zeiträume zur Entwickelung des Keims, zum Wachsthum, zum Leben selbst. Der Verlauf des Lebens und der Epochen, aus denen es besteht, ist bei dem unvollkommenften, wie bei dem vollkommensten Thiere, dem Menschen, auf gleiche Weise geregelt. Nur die Gränzen, innerhalb deren das Ziel abgesteckt ist (die freilich niemals eine ftrenge Genauigkeit beobachten), wechseln nach den Gattungen. Von vorn herein hat man zu gewärtigen, sie beim Menschengeschlecht ziemlich ausgedehnt zu finden, je nach der Verschiedenheit der Raçen und Klimate, so wie nach den ungleichen Bedingungen und mannigfaltigen Einflüffen, denen es ausgesezt ist. Die zerstörenden Zufälle, die uns unaufhörlich bedrohen, find unberechenbar. Der Mensch allein zählt mehr Krankheiten, als alle Wesen der Schöpfung zusammengenommen. Zu den Tausenden von physischen Ursachen, die dahin wirken, seine Tage zu verkürzen, kommen die moralischen: seine Leidenschaften, seine Laster, seine Leiden, seine Arbeiten. So giebt es für ihn eine Mannigfaltigkeit schädlicher Elemente, eine Menge stören der Prinzipien, eine ununterbrochene Folge von Zufällen, die er mit anderen Wesen theilt oder die feiner Natur eignen und die die Feststellung der normalen Lebensdauer zu einem höchft verwickelten Problem machen. Zum Glück kömmt uns das Licht, diese Frage aufzuhellen, von drei Seiten zugleich: die Physiologie, die Geschichte und die Sta tistik können ihre Angaben gegenseitig kontroliren. Das Studium der Gränzen des menschlichen Lebens hat seit dem Anfang dieses Jahrhunderts merkliche Fortschritte gemacht und weist noch jest wichtige Arbeiten auf. Es steht demnach zu hoffen, daß wahrhaft wissenschaftliche Ergebnisse die so verschiedene Richtungen verfolgenden Untersuchungen frönen werden. Der Schluß, den wir daraus zu ziehen suchen, wird beweisen, daß hier, wie bei vielen anderen Forschungen, es weniger darauf ankömmt, neue Entdeckungen zu machen, als schon erlangte Begriffe zu klassifiziren und zusammenzufassen.

Unsere Kenntniß in Bezug auf die Lebensdauer der verschiedenen Thiere ist noch sehr mangelhaft. Das Alter eines Baumes") läßt sich nach den sogenannten Jahrringen an dem Stamm mit Sicherheit berechnen; für das Alter der Thiere fehlt es uns an ähnlichen Merkmalen. Das Wenige, was wir über ihre Lebensdauer wiffen, müßte aus unmittelbaren Beobachtungen geschöpft werden. Langsam und schwierig, wie diese sind, müssen fie nothwendig vervielfältigt werden, um zuverlässige Ergebnisse zu erzielen.

Die Gattungen auf der niedrigsten Stufe des Thierreichs scheinen überhaupt eine kurze Lebensdauer zu haben; die meisten leben höchstens einige Jahre. Unter den Fischen indeß giebt es Arten, die sehr klein zur Welt kommen, langsam wachsen und eine bedeutende Größe erreichen. In den Fischbehältern der Cäsaren wurden Muränen bis zu einem Alter von sechzig Jahren gefüttert. Rechnet man nach dem Gewichte, das ein Karpfen in zehn Jahren erreicht, so müffen einige, die man gefangen hat, über hundert Jahr alt gewesen sein. Im Jahre 1497 soll in den Teichen des Schlosses Lauteren ein Hecht von dreihundert

*) Nach der Revue des deux Mondes.

**) Michel Adanson hat bekanntlich danach festgestellt, daß es unter den Affenbrodbäumen (Baobab, Adansonia digitata) Gremplare giebt, deren Anfang mit dem Anfang der geschichtlichen Zeit zusammenfällt, die also ein Alter von fünf- bis sechstausend Jahren haben.

1855.

funfzig Pfund gefangen worden sein, den man, nach einer Inschrift auf dem Ringe an dem einen Kiemen zweihundertsiebenundsechzig Jahre früher auf Befehl des Kaisers Friedrich II. eingelaffen hatte. Forster spricht von Schildkröten, die länger als ein Jahrhundert, nachdem sie eingefangen worden, gelebt hätten. Zu den sehr lange lebenden Thieren zählt man die Krokodile. Einige Vögel, wie der Adler, der Schwan, der Rabe, der Papagei, sollen es, nach gewöhnlicher Annahme, zu einem hundertjährigen Alter bringen. Hufeland erwähnt in seiner Makrobiotik einen Falken, der vom Kap nach London geschickt worden und der auf einem goldenen Halsband die eingegrabenen Worte trug: „An Se. Majestät Jakob, König von England, 1610." Er wurde 1792 eingefangen, war also mindestens hundertzweiundachtzig Jahr alt.

Allen diesen Thatsachen, fehlt jedoch das Gepräge genügender Zuverlässigkeit. Eine etwas sicherere Erfahrung haben wir über die Lebensdauer der Säugethiere, besonders der zahmen. Wir wissen, daß das Pferd fünfundzwanzig, das Kameel vierzig, der Hirsch fünfunddreißig bis vierzig, der Ochse funfzehn bis zwanzig, der Hund zehn bis zwölf, die Kaze neun bis zehn Jahre lebt. Der Löwe bringt es etwa auf zwanzig, der Hase und das Kaninchen auf fieben bis acht, das Meerschweinchen auf sechs bis sieben Jahre. Die Riesenthiere: der Elephant, das Nilroß, das Rhinoceros, der Wallfisch, leben wahrscheinlich weit länger. Indeß ist aus diesen Beispielen ersichtlich, daß die meiften Geschöpfe, die sich uns in ihrer Organisation nähern, der Lebensdauer nach weit hinter uns zurückbleiben; „was“, wie Haller fagt, „unfere fortwährenden Klagen über die Kürze des Lebens als ungerecht verurtheilt."

Da wir uns hier nur mit dem Menschen beschäftigen, so möchten wir zuvörderft der Untersuchung einen Stein des Anstoßes und des Irrthums aus dem Wege räumen: Die Phyfiologen haben die Lebensdauer verschiedentlich bestimmt; einige gaben ihr siebzig, andere achtzig bis neunzig, noch andere gar hundert Jahre. Diese Abweichungen scheinen uns aus dem Fehler hervorgegangen, daß sie fast immer das ge. wöhnliche Leben mit dem natürlichen und normalen verwechselt haben. Um sich eine richtige und vollständige Vorstellung von der Dauer des Lebens zu bilden, muß man dieses durchaus unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten und unterscheiden: die durchschnittliche, die gemeine, die natürliche, die abnormale Dauer.

Das durchschnittliche Leben gewinnt man, wenn man die Summe der Jahre einer großen Menge verstorbener Individuen jeglichen Alters durch die Zahl dieser Individuen dividirt. In diesem Durchschnitt sind demnach all die lebengefährdenden Zufälle und Krankheiten zufammengefaßt, und der Quotient drückt die Zahl der Jahre aus, die dem Neugeborenen vermuthungsweise befchieden find.

Unter der gewöhnlichen Lebensdauer verstehen wir den Zeitraum, den die Individuen, die den Gefahren der Jugend und des Mannesalter entgangen find, zurückgelegt haben. Er schließt mit dem Alter, zu welchem gemeiniglich Alle gelangen, die nicht schon vor dem Anfang des Greisenthums gestorben sind. Es ist gewissermaßen das durchschnittliche Leben der Greise.

Die natürliche oder normale Lebensdauer ist die von Gott der Gattung beschiedene. Sie wird nur durch die Wirkung des Greifenthums unterbrochen, und die Gränzen, in die sie eingeschloffen ist, sind ihr Gefeß. Allein da nur diejenigen diese Gränzen erreichen, die so glücklich find, sich dem fortgeseßten Einfluß der ftörenden Urfachen zu entziehen: so wird das Gefeß nur unvollkommen zur Geltung gelangen. Es kann sogar dahin kommen, daß, was gewiß von Natur die Regel ist, nur als Ausnahme erscheint.

Die außerordentliche oder abnormale Lebensdauer ist eine Abweichung vom Geseze; diese bildet den Gegensaß zu der durch frühzeitigen Tod bewirkten Abweichung, ohne diese merklich aufzuwiegen. Es bezeichnet die äußerste und ausnehmliche Schranke, über die hinaus nur das Unmögliche liegt.

Unter diesen vier Gesichtspunkten müßte die Dauer jedes lebendigen Wesens untersucht werden, und doch hat sich diese Untersuchung bis jezt nur auf den Menschen und sogar nur auf den Europäer be

schränkt. Nur durch die Statistik gelangen wir zur Erkenntniß der durchschnittlichen Dauer des menschlichen Lebens. Die numerischen Ergebnisse geben uns die gemeine und die historischen Thatsachen die abnormale Dauer. Mit Hülfe der Statistik und der Geschichte wird uns die Physiologie die Aufgabe lösen, die wir uns hier gestellt haben: die normale, natürliche Lebensdauer zu bestimmen.

Sehen wir zuvörderst, was uns die Kenntniß der Zahlen in Betreff der durchschnittlichen, wie der gemeinen Lebensdauer lehrt. Die numerischen Ergebnisse haben das glückliche Vorrecht, auf den Verstand zu wirken und ihm Ueberzeugung zu geben. Der schlagendste Beweis ist die Ziffer, sagt man, und es ist wahr, vorausgeseßt, daß diese Ziffer der genaue Ausdruck der Thatsachen ist, die sie zusammenfaßt. Ift sie das aber in Bezug auf die statistischen Arbeiten? Man möchte es mit Recht bezweifeln. Die Gleichgültigkeit der Regierungen, das Umfaffende der Aufgabe und die Fahrlässigkeit der damit Betrauten, die Unzulänglichkeit der Dokumente, der fortwährende Zu- und Abfluß in den großen Städten sie bilden zusammen einen Komplex von Umftänden, die wohl geeignet sind, die allgemeinen Ergebnisse zu verfäl schen. An diese aus verschiedenen Ursachen hervorgehenden Ungenauigkeiten reihen sich noch absichtliche Irrthümer, die von politischen und lokalen Interessen diktirt werden. Die unter solchen Bedingungen angestellten Berechnungen dürften daher schwerlich auf mathematische Strenge, in dem gewöhnlichen Sinne dieses Wortes, Anspruch machen. Indeß können wir auf Grund der schon angefertigten Sterblichkeitslisten Schlüsse machen, die sich nicht gar zu weit von der Wahrheit entfernen dürften. Welches sind nun die Gefeße der Sterblichkeit, unter dem numerischen Gesichtspunkt betrachtet?

Das Leben ist beständig in Gefahr, deren Grad nach den verschiedenen Epochen der Lebensdauer wechselt. In den ersten Altersstufen ist die Sterblichkeit sehr beträchtlich. In Frankreich stirbt ein Sechstel der Kinder im ersten, ein Fünftel im zweiten, ein Viertel vor dem vierten Jahre, ein Drittel ist schon im vierzehnten unterlegen; im zweiundvierzigsten Jahre bleibt noch die Hälfte, im neunundsechzigsten ein Viertel, im zweiundsiebzigsten ein Fünftel, im fünfundsiebzigsten ein Sechstel. Von hundert Geburten bleiben nach zwei Jahren nur noch achtzig und nach vierzehn achtundsechzig am Leben. Vor der Revolution berechnete Duvillard die Zahl der jungen Leute, die ihr zwan zigstes Jahr erlebten, nur auf 50 Prozent. Allein Bienaymé, der die von 1823 bis 1831 durch ganz Frankreich aufgenommenen Rekrutirungslisten einer strengen Prüfung unterwarf, hat erwiesen, daß die Zahl der Konskribirten zu den Geburten sich mindestens wie 60: 100 verhielt. Dieses Ergebniß stimmt vollkommen mit dem von J. Milne für die Stadt Carlisle gewonnenen überein. Daffelbe Verhältniß hat fich in der Folge auch in Paris herausgestellt. Nach Demonferrand erreichen unter 100 Geburten sieben das achtzigste, zwei das fünfundachtzigste und eine das neunundachtzigste Jahr. Statt der 640 Neunzigjährigen unter einer Million Geburten, die dieser Schriftsteller zählt, nimmt Mathieu nur 491 an, unter welchen nur neun zu einem Alter von 97 und vier zu dem von 99 Jahren gelangt wären. Hundertjährige sind unter 10,000 Einwohnern nach Duvillard zwei, nach Demonferrand einer; Milne zählt in Carlisle neun. In den neueren Tabellen ließ man diese Altersstufe ganz unberücksichtigt. Kaum daß fie Einer jährlich in Paris erreicht.

Benoiston de Chateauneuf hat den Lebensverlauf für einen Zeitraum von vierzehn Jahren auf funfzehn Millionen Verstorbener jedes Alters in dem Theile des europäischen Festlandes berechnet, der sich vom Mittelmeere bis zum Eismeere erstreckt. Der Kalkül ergab: von 100 erreichen 44 das Alter von 30 Jahren; in der Zwischenzeit von 30 bis 60 starb davon etwas weniger als die Hälfte, im 70ften Jahre waren die Ueberlebenden von 30 Jahren auf ein Drittel, im 80ften auf ein Zehntel und im 90ften auf ein Dreiundsechzigstel reduzirt.

Das Wenige beweist schon, wie groß der Zahl-Unterschied zwi schen den Geburten und den Neunzig-, Achtzig- und Siebzigjährigen ift. Diese Ungleichheit wird noch auffallender durch die Ziffer selbst, welche die durchschnittliche Lebensdauer ausdrückt. Verfährt man nämlich in der oben angedeuteten Weise, indem man die Summe der Jahre aller Verstorbenen, von dem Neugeborenen, der nur einen Tag geath. met hat, bis zu dem Greis, der der Altersschwäche erlegen ist, durch die Zahl der Judividuen theilt, so bekömmt man für die Bevölkerung in Frankreich die annähernde durchschnittliche Lebensdauer von 393 Jah. ren. So kurz diese erscheint, ist sie dennoch wirklich höher, als alle in früheren Zeiten. Nach den Untersuchungen Villermé's war in Paris die Durchschnittsziffer im 18ten Jahrhundert 32, im 17 ten 26, im 14ten gar nur 17.

Aus diesen Schäßungen, wenn fie richtig sind, ergiebt sich offenbar, daß die Sterblichkeit mit den Jahrhunderten abgenommen hat, was einerseits der Pocken-Impfung, andererseits dem verbefferten Zuftande der ärmeren Klaffen zuzuschreiben ist. Wenn die Lebensdauer nach ähnlichem Verhältnisse mit der Zeit zunimmt, dann muß sie wiederum allmählich abnehmen, um endlich auf einer Höhe stehen zu blei

Es wäre aber kühn, diese

ben, welche sie nicht übersteigen kann.
Höhe für die Zukunft jest bestimmen zu wollen.

Daß dieser Fortschritt der Lebensdauer, wie er sich seit fünf oder sechs Jahrhunderten herausstellt, auch in fernster Vorzeit stattgefunden habe, dafür haben wir durchaus keinen Beweis. Es ist im Gegentheil wahrscheinlich, daß sie zahlreichen Schwankungen unterlegen sei, und daß sie zu gewissen Perioden sich in absteigenden Verhältnissen bewegt habe. Leider fehlt es uns an Thatsachen, die dieser bloßen Hypothese Gewicht geben könnten, da das Alterthum uns darüber die nöthigen Nachweisungen versagt. Wir wissen nur so viel, daß gegen Anfang des dritten Jahrhunderts, unter Alexander Severus, Ulpian nach den von Servius Tullius bis Justinian, also während eines Zeitraums von tausend Jahren, vorgenommenen Zählungen die durchschnittliche Lebensdauer der Römer auf dreißig Jahre berechnet hat. Hat es damit, wie mit den Anschlägen Villermé's, seine Richtigkeit, so kömmt man zu dem Schlusse, daß die römische Periode in Bezug auf Sterblichkeit bei weitem weniger verschieden von der gegenwärtigen war, als diese vom vierzehnten Jahrhundert, und daß das Leben während des Mittelalters in steter Abnahme war.

Die Hoffnung auf das Wachsthum der Lebensdauer in der Zukunft gründet sich hauptsächlich auf die Fortschritte aller Art, die sich mit jedem Tage vervielfältigen und ihren günstigen Einfluß auf Alle erstrecken. Denn wer bürgte uns sonst dafür, daß die gegenwärtige Bewegung, die ihren Ausgangspunkt vor dem Abschluß des Mittelalters genommen, nicht umschlägt und die durchschnittliche Lebensdauer wieder auf 30, 25, ja, auf 17 zurückführt? Aus der Vergangenheit kann hier nicht auf die Zukunft geschlossen werden, wenn die Ursachen der wachsenden Richtung nicht dieselben bleiben.

Das durchschnittliche Leben im gewöhnlichen Sinne drückt die Zahl der Jahre aus, die ein Neugeborener zu leben die wahrscheinliche Aussicht hat. Allein diese Chance gilt ja nicht für den Neugeborenen allein; man hat vielmehr den Durchschnitt für jedes Alter berechnet, und es ergeben sich natürlich bedeutende Unterschiede, nach Maßgabe der ungleichen Gefahren, denen unser Dasein in den verschiedenen Lebensepochen bloßgestellt ist, und nach der Zahl der bereits verfloffe. nen Jahre. In Frankreich beträgt der Durchschnitt, wie wir oben bemerkt, mit dem Eintritt ins Leben 393 Jahre; allein er nimmt rasch zu bis ins vierte Jahr, wo er seinen Hochpunkt, 49, erreicht; von da ab ist er in beständiger Abnahme. Nach Deparcieux stellt sich folgendes Schema heraus:

m Alter von 20 Jahren ist die Durchschnittsdauer 40 Jahre 3 Mon.

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(Schreiben einer engl. Touristin aus Jerusalem vom 26. Juli b.J.)

Gestern Abend ritt ich mit meinem Bruder nach dem Lagerplage Sir Moses Montefiore's. Es war ein herrlicher Ritt, an den grünen und weißen Zelten der Soldaten vorbei, den Berg hinauf in der Richtung nach der Stadt, bis wir die anmuthige Zeltengruppe erreichten, die von Sir Moses und Lady Montefiore und ihrer Gesellschaft bewohnt wird. Wir stiegen unter einem Terebintenbaume ab, der sich wie eine Aesche ausbreitet und wo wir Sir Moses und seine Gattin trafen, die uns auf bequemen Lehnftühlen vor den Zelten Plaz nehmen hießen. Während mein Bruder eine ernste Unterhaltung mit Sir Moses über seine philanthropischen Pläne anknüpfte, wurde ich der Mrs. G., seiner Nichte, vorgestellt, die sich zum ersten Mal in Palästina befand. Sie war über Konstantinopel hierher gekommen, und wir tauschten unsere Reiseberichte aus. Der Mond ging prachtvoll auf; bei seinem Licht tranken wir in der freien Luft Thee. Ein kleines Corps arabischer Musikanten breitete einen Teppich auf die Erde aus, seßte sich darauf, spielte uns auf einem großen, seltsam geformten Saiten-Inftrument, von kuriosen kleinen Trommeln begleitet, vor und fang ein neues türkisches National-Lied. Lady Montefiore sagte, daß diefes Konzert mir zu Ehren gegeben werde, indem es das erste Ständchen sei, das seit ihrer Ankunft stattgefunden habe. Sie forderte mich auf, fie am folgenden Tage nach der Moschee Omar's zu begleiten. Mei

*) Diese in Jerusalem auf dem Berge Morijah, an der Stelle des Salomonischen Tempels erbaute Moschee gilt den Muhammedanern, nächst Mekka und Medina, für die heiligste Stätte, die früher von keinem Nichtmuhammedaner bei Todesstrafe betreten werden durfte. D. R.

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