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jedoch diese Analogie nicht durch Gründe erwiesen, welche die Männer der Wissenschaft befriedigten, so wäre seine Entdeckung einfach eine geistreiche Hypothese geblieben. Desgleichen mögen wir mit Vergnü gen die scharfsinnigen Vermuthungen Niebuhr's über die Begebenheiten und Einrichtungen in der ersten römischen Geschichtsperiode lesen; aber daran zu glauben, find wir durch Nichts verpflichtet. Ein Geschichtsforscher muß nicht nur die rückwärts gewandte Prophetengabe befizen; er muß, wenn er gelten will, auch beweisen, was er ahnt."

Wie Grote für die griechische, so verwirst nun Lewis für die römische Geschichte alle Versuche, aus Ueberlieferungen, die man einmal im Ganzen für fagenhaft erklärt hat, nachträglich einzelne Thatfachen herauszunehmen oder herauszudeuten, die dann geschichtlich sein sollen. So bespricht er z. B. die verschiedenen Lesarten über die Gründung Roms, deren er allein vierundzwanzig anführt, in folgender Weise: „Es ist für uns, bei der Dürftigkeit der Beweismittel, die uns zu Gebote stehen, schlechterdings unmöglich, ein begründetes Urtheil über Werth und Ursprung der Tradition vom Romulus zu haben und etwa zu behaupten, daß dieselbe von Anfang bis zu Ende unwahr sei. Aber das darf dreift gesagt werden, daß Jemand, der von der Meinung ausgeht, die Erzählung von Romulus sei Jahrhunderte nach den darin berichteten Begebenheiten aus mündlichen Ueberlieferungen und Legenden zusammengestellt worden, nicht berechtigt ist, einzelne Theile daraus auszuwählen und dieselben einzig aus Gründen sogenannter innerer Wahrscheinlichkeit für geschichtlich auszugeben. Diejenigen z. B., die ein mal den Romulus, wie den Tatius, für fabelhafte Personen, für bloße Namen in einem erfundenen Drama erklären, dürfen auch z. B. nicht die Meinung bekennen, daß die gemeinsame Regierung der beiden Könige darauf hinweise, daß das damalige Rom zwei getrennte Gemeinden, eine römische und eine sabinische, umfaßt habe, oder daß die Geschichte vom Raub der Sabinerinnen als ein Beispiel oder, wie man fagt, typisch zu nehmen sei für das Fehlen eines internationalen Heiratsrechts zwischen beiden Völkern. . . . . . Diese Annahme von sogenannten typischen Erzählungen widerspricht einer rationellen Geschichtschreibung und den Erfahrungen über historische Quellen noch mehr, als selbst die Vorausseßung, daß sich in den mündlichen Ueberlieferungen gewisse Thatsachen durch eine lange Reihe von Jahren unverfälscht erhalten haben. Die ganze Methode läuft in der That auf eine verfeinerte Wiederholung der rationalistischen Erklärungen wunderbarer Legenden hinaus, wie wir sie bei alten Geschichtsforschern finden.... Freilich belächelt der kritische Historiker der Neuzeit die alten Fachge noffen, die z. B. den Herkules mit den Rindern des Geryon in einen Feldherrn an der Spiße einer großen Armee, oder den Riesen und Viehräuber Cacus in einen kleinen König und seine Höhle in eine Bergfestung verwandelten; aber die Art, wie man heutzutage historische Thatsachen aus sagenhaften Ueberlieferungen herausdeutelt und z. E. in der Flucht eines gewissen Siculus eine Auswanderung der Siculer fieht, ist nur eine andere Form jener Sorte von Geschichtschreibung und führt zu eben so unsicheren Ergebnissen. Als die ältesten griechi schen und römischen Historiker die nationalen Ueberlieferungen auf zeichneten, war von einem authentischen Berichte über die Jahrhunderte vorher geschehenen Ereignisse schon nicht mehr die Rede, und wie glaubwürdig jene Schriftsteller in Betreff der Begebenheiten ihrer Zeit fein mögen: das, was sie von den ältesten Perioden ihrer vaterländi schen Geschichte erzählen, hat nothwendigerweise keinen historischen Werth.... Und wenn nun Dionysius, Livius und die anderen alten Historiker in Bezug auf die Geschichte der altitalischen Völkerschaften ohne authentische Materialien waren, so hat der heutige Forscher noch weniger Aussicht, zu irgend welchen haltbaren Aufschlüffen über den besprochenen Gegenstand zu gelangen, oder durch Combinationen und Konjekturen, wie geistreich dieselben auch sein mögen, den Mangel positiver Thatsachen erseßen zu können. Deshalb haben alle Untersuchun gen über die ersten Bewohner Italiens kein Fundament und folglich auch keinen reellen Werth, und die gelehrten Abhandlungen, die wir über die Geschichte der Pelasger, der Siculer, Tyrrhenier, Etrusker 2c. besigen, sind leider insgesammt eben so nebelhafte Speculationen, als die Untersuchungen der Vorvorderen über den Stein der Weisen oder das Lebenselixir. . . .“

In dieser Art fährt Sir C. Lewis fort, die Historiker von dem nun einmal zur Unfruchtbarkeit verurtheilten Streben nach Herstellung einer römischen Urgeschichte zurückzuhalten. Es ist unmöglich", sagt er, für die Nachrichten über die ersten fünftehalb Jahrhunderte der Stadt, wie sie von Dionys, Livius und anderen klassischen Autoren gegeben werden, eine haltbare Basis aufzufinden. Manches davon, zu mal wenn wir uns auf Gründe innerer Wahrscheinlichkeit einlassen, hat den Auschein historischer Treue. Dies gilt besonders von der Pe. riode nach der Verbrennung der Stadt. Es ist Grund zu der An

nahme, daß eine chronologische Liste der höheren Beamten der Republik geführt wurde, so wie, daß es nach dem gallischen Brande eine Art amtlicher Chronik gab. Aber inwieweit dieser historische Grundriß durch Berichte ausgefüllt wurde, die aus Leichenreden oder FamilienErinnerungen, aus der Volkspoesie und der mündlichen Ueberlieferung stammten; ferner durch wen und in welcher Art diese Ergänzungen angebracht wurden und bis zu welchem Grade dieselben glaubwürdig sind, das sind ewig unlösbare Fragen."

Am besten also, die altrömische Geschichte bleibt stehen, wie sie von den klassischen Autoren berichtet wird, mit aller ihrer Naivetät und Märchenhaftigkeit, und der Leser, der von den schwierigen und großartigen Entdeckungen in dem Dunkel der römischen Vorzeit gehört hat, braucht sich seiner Erinnerungen aus der Schule nicht länger als einer längst überwundenen Orthodoxie zu schämen!

Mannigfaltiges.

Tschudi's Thierleben der Alpenwelt. Die kürzlich bei dem Verleger der Leipziger,,Illustrirten Zeitung" erschienene zweite verbesserte Auflage von Friedrich v. Tschudi's „Thierleben der Alpenwelt"®) gehört zu den schönsten Erzeugnissen der neueren deutschen Presse und bestätigt dasjenige, was wir kürzlich (Nr. 81) über die vor englischen und französischen Erscheinungen sich bemerklich machenden Ausstattungen deutscher Bücher unserer Zeit gesagt. Friedr. v. Tschudi's Werk hat sich, als geistvolles Kompendium aller Beobachtungen der zoologischen Alpenwelt, besonders so weit sie von seinen schweizerischen Landsleuten ausgegangen, sehr rasch im ganzen literarischen Europa und auch jenseits des Atlantischen Meeres, wie wir aus amerikanischen Zeitschriften wissen, einen großen Ruf erworben. Die zweite Auflage ist vom Verfassfer auch in einzelnen Stücken des Textes wesentlich bereichert. Ganz besonders aber gereichen ihr die neuen Illuftrationen (24 landschaftliche und zoologische Abbildungen) von E. Rittmeyer und W. Georgy zur Zierde. Der Abschnitt „Biographieen und Thierzeichnungen", der bereits in der ersten Auflage den anziehenderen Theil jedes Kreises des geschilderten Alpenlebens in der Bergregion, in der eigentlichen Alpenregion und in der Schneeregion bildete, ist durch die neu hinzugekommenen, auch künstlerischen Werth habenden Zeichnungen und feinsten Holz- (oder Staÿl-)Schnitte ganz besonders werthvoll geworden. Da Tschudi mit seinen Darstellungen auch viele poetische Schilderungen, die Verse geschäßter deutscher und schweizerischer Dichter, verwebt hat, so kann es wohl kaum ein reizenderes, von einer Schweizerreise mitgebrachtes Geschenk für kunst- und naturliebende junge Freunde ġeben, als diese neue Auflage des „Thierlebens der Alpenwelt.“

Ein ägyptischer Gelehrter über den jüdischen Kalender. Der gegenwärtige Direktor der Sternwarte von Kahira ist ein Aegypter, Namens Mahmud, der seine Studien in Paris, Brüffel und Deutschland gemacht und sich namentlich eine Zeitlang in Berlin aufgehalten hat. Direktor Quetelet in Brüssel giebt seinem ägyptischen Kollegen das Zeugniß, daß er während der zwei Jahre, die er in Europa zugebracht, einen ganz besonderen Eifer für die Naturwissenschaften, namentlich für Meteorologie, physikalische Geographie und Erdmagnetismus, an den Tag gelegt, und daß die Sternwarte in Kahira, wohin er jegt zurückkehre, unter seiner Leitung zu schönen Erwartungen berechtige. Kürzlich hat Herr Mahmud in französischer Sprache eine Denkschrift über die Einrichtung des jüdischen Kalenders herausgegeben, worüber, eben so wie über den muhammedanischen Kalender, noch keine wissenschaftliche Darstellung vorhanden sein soll. Herr Liagre, Berichterstatter über diese Denkschrift in der belgischen Akademie, hat die Arbeit als etwas völlig Neues bezeichnet, **) was sich auch, wie er hinzufügte, von der über den muhamedanischen Kalender sagen laffe, mit deren Ausarbeitung Herr Mahmud eben beschäftigt sei. Die gegenwärtige Form des jüdischen Kalenders reicht, nach dem ägyptischen Verfasser, bis zur ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung, also bis zur Zeit des Konzile von Nicäa, zurück. Herr Mahmud hat seiner Arbeit zugleich KonkordanzTabellen zur Vergleichung der jüdischen und der christlichen Aera, und zwar auf 250 Jahre vom Jahre 1845 ab, hinzugefügt.

*) Das Thierleben der Alpenwelt. Naturansichten und Thierzeichnungen Auflage. Mit 24 Abbildungen 2c. Leipzig, J. J. Weber, 1854. aus dem schweizerischen Gebirge. Von Friedrich v. Tschudi. Zweite, verbesserte

Kornick, die der ägyptische Verfasser und der belgische Berichterstatter nicht ge= **) Es giebt eine werthvolle Arbeit über den jüdischen Kalender von Meyer kannt zu haben scheinen. D. R.

P

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England.

Bestellungen werden von jeder deutschen Buchhandlung (in Berlin bef
Beit u. Comp., Jägerftr. Nr. 25, und beim Spediteur Reumann,
Rieberwallstr. Rr.21), so wie von allen königl. Poft-Aemtern, angenommen.

Auslandes.

Berlin, Donnerstag den 2. August

Aus Buckingham's Autobiographie.*)

Der eben so fruchtbare Schriftsteller als unternehmende Reisende James Silk Buckingham, von dem in unserem leßten literarischen Berichte aus England die Rede war, und deffen Selbstbiographie darin mit Recht als ,,ungemein unterhaltend, leicht, lebhaft und reich an Stoff und Form" gerühmt wird, ist am 30. Juni auf seinem Landgütchen bei London gestorben. Der Vollendung seiner in so interessanter Weise begonnenen Lebensbeschreibung dürfte man demnach kaum entgegensehen können, es wäre denn, daß sich hinreichendes Material in den Papieren des Heimgegangenen fände; vielleicht wird es daher unseren Lesern nicht unwillkommen sein, wenn wir sie mit den bisher erschienenen, uns gegenwärtig vorliegenden ersten Bänden des Werks etwas näher bekannt machen.

Buckingham wurde am 25. August 1786 in dem kleinen, am Seeufer gelegenen Dörfchen Flushing, der Hafenstadt und Marinestation Falmouth gegenüber, geboren. Seine Familie war seit zwei Jahr. hunderten auf dem Meere heimisch; ein Mitglied derselben hatte auf der Flotte gedient, welche die „unüberwindliche Armada“ besiegte; ein zweites kam bei dem Schiffbruche des „,Thunderer" um; sein Vater hatte sich als Capitain eines Handelsfahrzeuges ein hübsches Vermögen erworben und brachte, nachdem er sich zur Ruhe gefeßt, den Abend seiner Tage damit zu, Segel- und Ruderböte zu bauen, auf welchen er mit seinem kleinen Sohne die Küfte auf- und abfuhr. Kein Wunder also, daß auch dieser bald von dem glühenden Verlangen ergriffen wurde, sich dem Seeleben zu widmen, von dem man ihn dadurch zu heilen suchte, daß man ihn von einem Orte entfernte, wo das Schauspiel des Meeres und der darauf schwimmenden majestätischen Fregatten oder schnellfegelnden Kaper, die mit reichen französischen Prisen nachhause kehrten, den Knaben in seiner wachsenden Neigung bestärken mußte. ,,Ich wurde daher“, schreibt er,,,in meinem fiebenten Jahre nach einem Dorfe Namens Hubbarton, einige zehn bis zwölf Meilen von Plymouth, entführt und dort der Aufsicht eines Herrn Scott anvertraut, der einer Pensions-Anstalt für Knaben vorstand, von welchen ich unter 60-70 der jüngste war. Dies war für mich eine Quelle unsäglichen Leidens, und während des Jahres, das ich hier verbrachte, habe ich mehr Herzenskummer erduldet, als zu irgend einer anderen Periode meines Lebens. Der Schulvorsteher war ein Tyrann, seine Gehülfen fast noch schlimmer, und die älteren Knaben mißhandelten die jüngeren in einer unerträglichen Weise, indem sie das Beispiel ihrer Lehrer nachahmten und noch übertrafen. Die uns gereichte Nahrung war so färglich, daß, troßdem sie durch ihre Qualität, wie durch ihre Zuberei tung, Ekel einflößte, Schaaren von hungrigen Kindern sich des Nachts zusammenrotteten, um aus dem Bette zu steigen und die Speisekammer ihres Inhalts zu berauben, welchen sie, nachdem sie sich oft noch über die Beute gestritten, bis auf den lezten Bissen verzehrten, ehe sie sich wieder zur Ruhe begaben. Die Betten waren hart, das Bettzeug grob und unzureichend, und zwei oder drei Knaben mußten zusammen schlafen. Die als Strafe vorgeschriebenen Aufgaben waren peinlichster Art; so mußten wir z. B. die schwersten Kapitel der Bibel auswendig lernen, was eben nicht geeignet war, uns für die heilige Schrift zu begeistern. Gelegentlich machten wir Ausflüge nach benachbarten Ortschaften, an denen ich aber kein Vergnügen fand. Die bemerkenswerthesten Ereignisse waren entweder Zweikämpfe zwischen den Schulkameraden, die täglich vorfielen, obwohl die Streiter darauf rechnen konnten, nach Beendigung des Duells von dem Oberlehrer tüchtig durchgepeitscht zu werden, ohne daß man danach fragte, wer der angreifende Theil gewesen sei, oder regelmäßige Schlachten zwischen sämmtlichen Knaben unserer Schule und denen einer benachbarten Anstalt, als deren Schau plaz gewöhnlich der Kirchhof oder der Abhang eines Hügels in der Nähe des Dorfes diente. Bei solchen Gelegenheiten wurden Haufen von Stei

*) Autobiography of James Silk Buckingham; including his Voyages, Travels, Adventures, Speculations, Successes and Failures, faithfully and frankly narrated. London: Longmans. 1855. Zwei Bände. Berlin, A. Asher & Comp.

1855.

nen und anderem Wurfgeschüß bereitgehalten, und jede Partei ließ es fich besonders angelegen sein, die vortheilhafte Stellung auf der Anhöhe zu gewinnen, von wo aus sie nach Art einer Kavallerie-Attacke herabstürzte, um so viele von den Feinden als möglich durch den Choc umzurennen. Ich kann mich nicht erinnern, daß der Schulvorsteher oder die Polizei sich je bemüht hätte, die Streitenden aus einander zu bringen; im Gegentheil nahmen die Lehrer entweder persönlich an dem Kampfe Theil, oder sie munterten ihre resp. Zöglinge dazu auf, und da die Kämpfer an Zahl und Alter ziemlich gleich waren, so wurde mit großer Erbitterung gefochten, und es fehlte nicht an zerschlagenen Köpfen, blutigen Nasen,' zerquetschten Gliedern und zerrissenen Kleidern."

Von dieser Musteranstalt, welche lebhaft an die Dickensschen Schilderungen von ,,Dotheboys Hall" erinnert, wurde unser Ver faffer durch den plöglichen Tod seines Vaters erlöst. Die Mutter, deren Liebling er war, konnte ihm die Bitte, sich auf der See versuchen zu dürfen, nicht länger versagen, und als neunjähriger Knabe schiffte er sich auf dem königlichen Packetschiff „Lady Harriet" ein, dessen Befehlshaber seine älteste Schwester geheiratet hatte und von der Familie beauftragt war, ihm seinen neuen Stand möglichst zu verleiden. Der junge Buckingham ließ sich jedoch nicht abschrecken; er machte vielmehr noch eine zweite und dritte Reise mit demselben Schiffe, bis es endlich von einer französischen Korvette genommen und nach Coruña aufgebracht wurde. Aus der Gefangenschaft befreit, in der er troß seiner Jugend sein erstes, sehr platonisches Liebesabenteuer mit der zehnjährigen Tochter des Festungskommandanten bestanden hatte, ward er zu einem Buchhändler in die Lehre gethan, bei dem er fich anfangs ganz wohlgefiel und auch den Mängeln seiner Erzichung durch eifrige Nachstudien abhelfen konnte; doch kehrte er immer wieder zum Seeleben zurück, und nach mancherlei Abenteuern und Wechselfällen, nachdem er sich als Baptistenprediger versucht, als Schreiber bei einem Advokaten gedient, als Seßer in einer Dachstube von achtzehn Pence täglich gelebt und sich bereits in seinem neunzehnten Jahre eine Frau genommen hatte, sah er, sich mit einundzwanzig Jahren als Capitain eines schönen Westindienfahrers auf dem Wege zu Glück und Ehren. Da ich", sagte er,,,nunmehr effektives Mitglied der Handelsmarine geworden war, so besuchte ich regelmäßig Lloyds und andere Kaffeehäuser, wo die Schiffscapitaine und Makler zu gewissen Stunden des Tages zusammentreffen, so wie die Londoner Börse, wo Kaufleute und Schiffsrheder sich versammeln, Schiffe befrachtet, Ladungen gekauft und verkauft und Geschäfte zum Belauf von Hunderttaufenden in einer Stunde Frist abgemacht werden. Ich muß jedoch gestehen, daß mir die Zeit sehr lang wurde, die ich nothwendigerweise in diesen Geschäftslokalen zubringen mußte. Obwohl ich mich mehr als die meisten meiner Kollegen für die Ausrüstung, die Disziplin und das schmucke Ansehen der Schiffe unter meinem Kommando interesfirte, so konnte ich doch nicht gleiche Theilnahme an dem Steigen und Fallen der Frachtpreise, den Schwankungen der Märkte, den Kniffen, die man zur Auftreibung von Waaren und Passagieren anwandte, und den Vorspiegelungen, durch welche man sich die zur Komplettirung der Mannschaft fehlenden Matrosen zu verschaffen suchte, empfinden. Wo mich die Kaufherren und Rheder mit einer Einladung zum Diner beehrten, fand ich die untadeligste Gastfreiheit, so weit die Auswahl der Speifen und der Weine in Betracht kam; allein der Hauptgenuß sowohl des Wirthes als der Gäste schien in möglichst starkem Essen und Trinten, in Lobreden auf die Freuden der Tafel und in Anekdoten von glücklichen Handelsoperationen an der Börse und im Comtoir zu liegen, während Literatur, Wissenschaft und Kunst niemals berührt und überhaupt kein Gegenstand von historischem, poetischem, philanthropischem oder religiösem Intereffe je mit einem Wort erwähnt wurde. Das Resultat meiner Einweihung in die merkantilische Gesellschaft war mithin die Ueberzeugung, daß die tägliche Gewohnheit, so wohl. feil als möglich zu kaufen und so theuer als möglich zu verkaufen“, die Wirkung hat, den Eigennuß und die Selbstsucht zu vergrößern und die edleren Regungen des Herzens zu ersticken, und daß der hochsinnige Charakter, den die populäre Tradition dem britischen Handelsftande zuschreibt, auf einer ganz irrigen Auffassung beruht.“

Er entdeckte jedoch bald zu seinem Erstaunen, daß der Geschmack an Bacchusfesten sich nicht allein auf Handelsherren und Schiffspatrone beschränkte. Ein Börsenmakler, mit dem er befreundet wurde und den er als einen Mann von wissenschaftlicher Bildung rühmt, luð ihn zu einem Mittagsmahl ein, an welchem mehrere ausgezeichnete Literaten theilnehmen sollten. Unter anderen war der Reverend Mr. Maurice, Hülfsbibliothekar am Britischen Museum, gegenwärtig, der der Welt hauptsächlich als Verfasser eines kostbaren und fleißigen Werkes über indische Mythologie bekannt ist, welches sich damals eines hohen Rufes erfreute, obwohl die Untersuchungen neuerer Orientalisten manche Irrthümer und Trugschlüsse darin aufgedeckt haben. Da die Gesellschaft nur aus Herren bestand, so war weder dem Genusse des Weins, noch den Gegenständen der Unterhaltung eine Schranke geseßt, und ich bemerkte mit Ueberraschung, daß diese Gelehrten, bei denen ich die Mäßigkeit des Seneka im Verein mit der Weisheit des Sokrates zu finden erwartete, dem Wein mit einem Eifer zusprachen, wie er mir noch nie vorgekommen war. Sie schienen drei Flaschen starken Portwein pro Kopf für eine Kleinigkeit zu halten und citirten Pitt, For und Sheridan, welche als,,Sechsflaschenmänner" berühmt waren. Ihre Unter haltung war so roh und obscön, daß kein Seemann oder Militair fie ohne Erröthen hätte anhören können, und ich wartete mit Ungeduld auf die Gelegenheit, einer mir so wenig zusagenden Gesellschaft zu entrinnen. Der Schluß des Gelages stand mit seinem ganzen Verlauf in Einklang. Der ehrwürdige und gelehrte Orientalist des Britischen Museums, der zulegt auf den Portwein noch einige Gläser Cognac getrunken hatte, wurde total besoffen und fiel endlich hülfund bewußtlos unter den Tisch. Seine grauen Haare, sein literari scher Ruf und die Heiligkeit seines Standes machten dies für mich zu einem der peinlichsten Schauspiele, von denen ich je Zeuge gewesen, aber die übrige Gesellschaft legte dabei die vollständigste Gleichgültig keit an den Tag. Sein Diener wurde gerufen, mit dessen Hülfe man den anscheinend leblosen Körper die Treppe hinuntertrug, in eine Miethkutsche warf und nachhause fahren ließ und dies war, wie man mir versicherte, die gewöhnliche Schlußscene, wenn der ehrwür, dige und gelehrte Gentleman zu einem Diner geladen wurde. So lebte man in London, wenigstens in gewiffen Zirkeln, vor vierzig oder funfzig Jahren."

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Da wir einmal bei diesem Thema sind, müssen wir noch eine andere Mittagsgesellschaft erwähnen, die von unserem Verfasser beschrieben wird. Er hatte die Bekanntschaft zweier deutschen, mit Westindien handelnden Kaufleute, der Herren Daniel und Sigismund Rücker, gemacht, die ein Landhaus in Roehampton besaßen, wo sie einen Kreis von gebildeten Freunden um sich versammelten, zu welchen auch das Buckinghamsche Ehepaar gehörte. „Als wir einft bei Herrn Rücker speisten", schreibt er, befand sich unter den Gästen ein Offizier der donischen Kosaken, der mit einer geheimen Mission seiner Regierung nach England gekommen war. Obgleich in seinem Aeußern und seinem Benehmen einem Wilden ähnlich, war er doch für den Augenblick ,,fashionable", und ohne seine Gegenwart hielt man keine Gesellschaft für vollständig. Zu jener Zeit (1813) führte Rußland mit Frankreich einen erbitterten Krieg, in welchem es sich der wärmsten Sympathieen des englischen Volkes erfreute, und so sehr wurde dieser Kosak — vielleicht der erste, den man in England gesehen von den Londoner Kaufleuten fetirt, daß er eines Tages zur vollsten Börsenzeit (high Change), zwischen drei und vier Uhr Nachmittags, auf das Piedestal der Mittelstatue im Börsenraum gehoben ward, wo er vermittelst eines Dolmetschers die verschiedenen Fragen beantwortete, die ihm die enthusiastischen Zuschauer vorlegten. Eine derselben war: ,,Wie viel Franzosen haben Sie mit eigener Hand erschlagen?” "Zweihundertfunfzig", verseßte er ohne Zögern, was zwar auch die Gläubigsten stugig machte, aber dennoch ein dreimaliges Hoch für den Helden des Don hervorrief. Dieser Kosak war zum Diner bei Herrn Daniel Rücker und erhielt mit seinem Dolmetscher den Ehrenplag zur rechten Hand der Hausfrau. Als aber das Effen aufgetragen wurde, machte er sich mit solcher Gefräßigkeit darüber her und verzehrte so ungeheure Quantitäten Del, Senf, Effig und Sauce, daß er Allen, die in seiner Nähe waren, den Appetit benahm und mehrere von den Damen aufstehen und sich vom Tische entfernen mußten. Jeder schien daher froh, als das Diner vorüber war und der Kosak sich empfahl, um nach London zurückzukehren, wo er noch zu drei verschiedenen Soireen eingeladen war!"

Seiner Frau zu Gefallen beschloß jezt Buckingham, der unterdeffen durch gelungene Speculationen ein nicht unbedeutendes Vermögen erworben hatte, sich von der See zurückzuziehen und ein Handlungshaus auf Malta zu gründen. Für ein solches Unternehmen boten sich ihm um so günstigere Auspizien dar, als er durch seine öfteren Reisen im Mittelländischen Meer mit den dortigen Verhältnissen genau bekannt und mit den verschiedenen, beim kaufmännischen Verkehr in der Levante gangbaren Sprachen dem Arabischen, Neugriechischen, Italiänischen und Französischen vertraut war. Allein zum Unglück

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brach die Pest in Malta aus, seine Waarenlager wurden von einer Feuersbrunst verzehrt, und er verlor nicht nur seine ganze Habe, sondern auch Alles, was ihm seine Londoner Handelsfreunde anvertraut hatten und wofür er nun aufkommen mußte. Seine Lage war kritisch, aber er ließ den Muth nicht sinken. In Aegypten herrschte damals Mehemed-Ali-Pascha, der eben mit Energie an der Regeneration seines Landes arbeitete und bei dem fähige Ausländer, die ihn in diesem Werke unterstüßen konnten, einer freundlichen Aufnahme versichert waren. (Schluß folgt.)

Frankreich.

Industrie und Materialismus. (Schluß.)

Gehen wir von den großen Dingen zu den kleinen über und von den moralischen Krankheiten im Großen in das Detail der Sitten ein, so sehen wir, daß die angeblichen Fortschritte selbst weit entfernt find, Wohlthaten zu sein. Die Industrie hat sehr wohlfeile Zeuge hervor. gebracht, das ist gewiß; Alle können fast dieselben Kleider und so die. selbe flache, einförmige, langweilige Oberfläche zur Schau tragen. Dafür hat die Eitelkeit in riesengroßen Verhältnissen zugenommen. Die Dekonomisten haben Unrecht, bei ihrem Kalkül unseres gesellschaftlichen Zustandes die verschiedenen moralischen Ergebnisse, die diese oder jene materielle Erfindung herbeiführt, nicht in Anschlag zu bringen. Warum 8. B. ist in dem Gemälde, das sie uns von der gegenwärtigen Gesellschaft entwerfen, niemals die Eitelkeit als Schatten angebracht? Die Industrie, sagen sie, verbreitet die Wohlhäbigkeit durch alle Schichten der Bevölkerung. Gut; aber wenn die Eitelkeit sich mit in ihr Gefolge einschleicht, was dann? Die Wohlthat wird dann nur eine scheinbare sein, und aufs günstigste werden die Nachtheile die Vortheile aufwiegen, und die Gesellschaft wird in dem vollständigsten statu quo bleiben. Man kann inzwischen bei diesem halben Optimismus nicht stehen bleiben. Ein allgemeines Laster hat bei einer Nation Folgen, die in ihre Wohlfahrt mächtiger eingreifen, als die Erfindungen der Industie und die Argumentationen der Staatswirthschaftler. Zwei moralische Thatsachen sind es, die auf den Menschen einwirken: der Nachahmungstrieb und der Trugschluß von dem Scheine auf die Wirklichkeit. Wenn ich so angezogen bin, wie meinesgleichen, warum soll ich nicht so leben, wie er? Der Industrie ist es gelungen, dem Armen wohlfeilen Kaufs Dinge zu geben, die früher nur dem Reichen zugänglich waren: Kleider, Hausgeräth, sogar Lurusgegenstände. Sie giebt ihm den Schein des Wohlstandes; unselige Gabe! warum giebt sie ihm nicht auch die Wirklichkeit? So hat die Judustrie mit ihrer Gefälligkeit Neigungen in dem Armen geweckt, die ihm früher unbekannt waren, und zwei schmähliche Laster in ihm ausgebrütet: den Neid und die Eitelkeit. Aber der Neid ist für das Herz eine traurige Koft; um sich daran zu sättigen, muß man in einer sehr niedrigen, sehr verzweifelten Lage leben. Die Eitelkeit, die hat schon mehr Hülfsquellen; sie versteht es, Alles umzugestalten; fie lehrt den Beamten, der von einem bescheidenen Gehalte lebt, sich den Schein des Wohlstandes zu geben; dem Wohlstand drängt sie den Schein des Lurus auf, sie verschont selbst den Reichen nicht und treibt ihn, sich mit fürstlichem Prunk zu umgeben. So durchläuft sie alle Stufen der gesellschaftlichen Leiter und zaubert wunderliche Verirbilder hervor. Wie viel besißt der Herr, der hier in seiner Equipage durch die Straßen rollt? Man räth, kein Mensch weiß es. Wie hoch beläuft sich das wirkliche Vermögen dieses jungen Elegants, und wie bestreitet er seinen Aufwand? Und ein noch interessanteres Problem dieser ehrliche Krämer, deffen Einnahme aufs Haar zu berechnen ist, wo treibt er die Mittel auf, seinen bescheidenen Haushalt in Gang zu erhalten? Das ist für uns ein Geheimniß; aber der Gottseibeiuns weiß es gewiß.

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So wäre dann dieser vermeintliche Wohlstand nichts als ein Köder und eine Fata morgana. In unserer Gesellschaft laftet das Elend nicht auf so zahlreichen Klaffen als ehedem; dafür hat der Zwang sich über alle Volksschichten verbreitet. Die gesammte moderne Gesellschaft lebt in den Tag hinein und in einer ungemein schwankenden Lage; sie schlägt sich durch mit allerlei Erfindungen, mit Kredit, Schwindel; sie vertuscht ihre Rechnungen, tilgt sie niemals. In dieser Gesellschaft ist das Leben schwieriger als in jeder anderen; denn kraft neuer Vorurtheile, die widerwärtiger sind, als der alte Aberglauben, wird die Armuth allgemein als etwas Schimpfliches angesehen. Daher strebt Jeder, reich zu sein oder doch zu scheinen; der Kredit, das Vertrauen, die Ehre sind nur um diesen Preis zu haben. Daher muß man zu den ungeziemendsten Maßregeln greifen; daher spannen die Lüge, der Humbug ihre Neße immer weiter aus. Diese Krankheiten wuchern in dem von der Eitelkeit durchpflügten Boden; die Verachtung der Mittelmäßigkeit und der Durst nach Genuß sind die natürliche Aerndte. Die Strafe bleibt nicht aus: man möchte gern diese Miß

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Die Industrie hat den modernen Lurus geschaffen; jeder Dumm kopf staunt ihn mit offenem Munde an, und doch gehört er zu den allerbeklagenswerthesten Erfindungen. Dieser Lurus hat nichts Humanes: er dient dem Menschen nicht, wie er sollte, als Draperie und Rahmen; er ist um allen aristokratischen Charakter gekommen. Unsere Wohnungen entbehren jedes Adels in ihrem Aussehen, sie bekommen keinen Geschmack, offenbaren keine Kunst. Ihr ganzer Reich thum besteht in den Geräthschaften und der inneren Ausschmückung. Der Mensch verliert sich in den überladenen Draperieen, Vorhängen, Tapeten und Kronleuchtern. Das Gold glänzt an allen Wänden, und die kostbarsten Stoffe dienen zu gemeinem Gebrauch. Die Ueberfülle der Pracht und eine unverschämte Verschwendung rauben unserem Lurus alles Gepräge der Schönheit. Diesem Lurus, aller strengen Größe, alles Adels bar, ist ein abstoßender, gemeiner Charakter aufgedrückt; diese Geräthschaften tragen das Siegel eines unlauteren Geschmacks, diese Vergoldungen sind ein wüster Mischmasch, diese Draperieen mahnen an das Theater, und all dieser gediegene Reichthum glihert wie Flittergold. Unwillkürlich drängt sich dem Beschauer die Frage auf: wer mag wohl der Bewohner dieser Zimmer sein, die für eine Courtisane oder einen orientalischen Nabob passen? Und er ist oft sehr überrascht, zu erfahren, der Bewohner sei ein ehrsamer reicher Bourgeois, der ein ordentliches und sonst ziemlich einfaches Leben führt, der aber den wunderlichen Einfall bekommen hat, sich eine Wohnung herzurichten, die man für das Foyer eines Theaters oder für die Zimmer einer fille entretenue halten könnte. Dieser Lurus von verdächtigem Geschmack und roher Ueberfeinerung ist inzwischen Alles, was die Industrie vom künstlerischen Gesichtspunkte aus Bemerkenswerthes geschaffen hat. Man hat oft gesagt, die Industrie tödte die Kunst; man sagte richti ger, fie erniedrige sie. Je mehr und mehr bringt sie dieselbe zur De coration - und Ornamentation herab. Hausgeräthe, Broncesachen, Statuetten, Zeuge das sind unsere plastischen Künste, unsere Skulptur, unsere Malerei. Wenn es wahr ist, daß die Künfte genau das soziale Leben wiederspiegeln: dann können wir nur eine sehr betrübende Meinung von uns selbst haben. Stubenmaler sind unsere Raphael, Musterzeichner unsere Michael Angelo, Tapezirer unsere höchsten Geschmacksleiter; haben wir es nicht weit gebracht? Doch wir wollen auch gerecht sein, durch die Industrie hat die Kunst einen neuen Fortschritt gemacht, der darin besteht, das Genie durch die Thätigkeit einer phyfischen Kraft zu ersehen: die Daguerrotypie macht die Titiane, die Photographie die Correggio's entbehrlich. Die Partei, die für den modernen Fortschritt glüht, war rein weg vor Staunen über die Werke dieses wundervollen Malers, der Sonne. Etwas mehr Zurückhaltung würde ihr besser anstehen. Diese Erfindungen, wie alles Mechanische, Alles, was des moralischen und humanen Moments entbehrt, sollten uns nur in sehr mäßigem Grade begeistern.

Hier haben wir nun einige der Mängel, welche die nichtgeregelte Industrie in der Gegenwart erzeugt hat; was spart sie uns für die Zukunft auf? Beobachten wir gewisse Zeichen, dann ist diese Zukunft, leider, vielleicht noch trauriger, als die Vergangenheit. Die uns vorangegangenen Generationen hatten noch manche Eigenschaft, die für die Irrthümer und Fehler schadlos hielten; allein die heranwachsenden und die kaum ins Leben tretenden Generationen, sie versprechen, ihre Väter, die nicht den Muth gehabt, sich dreist von allem moralischen Sinn Loszusagen und sich jeder Sorge um Interessen, die nicht der Materie angehören, zu entschlagen, weit, weit hinter sich zu lassen. Diese Kinder machen uns zittern. Bei ihnen suchet Ihr vergebens das Jugendliche, irgend eine seiner edlen Täuschungen, die reizende Unbekümmert heit, welche die Jugend kennzeichnet. Das Ritterzeitalter, das seit lange gestorben war, lebte doch mindestens alle Jahre mit dem Erblühen der jungen Generationen wieder auf; heutzutage aber haben die profaischen Wirklichkeiten die Illusionen verdrängt, an denen sonst der Jüngling zehrte. Hißig, gierig, unbarmherzig wie durch das Handwerk gestählte Wucherer, mitleidslos wie alte Soldaten, die zu viel Schmerzen und Blut gesehen, um leicht gerührt zu werden haschen diese Jünglinge hinter dem Reichthum her, wie sie ehedem dem Vergnügen nachgejagt sind. Sie haben keine Leidenschaften, kennen die Liebe nicht; ihr Herz ist leer, selbst ihr Blut ist kalt. Zittert, wenn Ihr ihnen die Hand drückt; Ihr fühlt keinen Gegendruck von diesen abgelebten jungen Greisen. Es sicht aus, als wenn ihre Väter ihnen im Blute alle Erfahrungen, alle Enttäuschungen, alle seit fünf oder sechs Gene rationen angehäufte Zweifelsucht vermacht hätten. Sie glauben nur an Eines: an das Geld; sie haben keinen anderen Gott, als den vollen Beutel, sie erkennen keine andere Macht an. Geschmeidig, gewandt,

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schlau, entwickeln sie, um Geld, um Carrière zu machen, eine Thätigtigkeit, eine Kraft, eine Beharrlichkeit, wie sie nimmer ein Mönch angewandt hat, um den Schlingen des Bösen zu entgehen und alle Triebe des alten Adam aus seinem Herzen zu reißen. Nichts sezt sie in Verlegenheit, Nichts verlenkt sie von ihrem Ziele; was sie nicht begreifen, laffen sie fahren: die Neugierde gehört nicht zu ihren Fehlern. Kalt laffen sie die Revolutionen und die politischen Ereignisse an sich vorüberziehen; das geht sie nichts an. Sie haben weder die Laster ihrer Tugenden, noch die Tugenden ihrer Laster: sie können enthaltsam sein, lieben aber die Enthaltsamkeit nicht; sie sind thätig, lieben aber die Arbeit nicht; sie sind ausschweifend, haben aber keine Freude am Genuß. Das ist das, leider sehr treue, durchaus nicht übertriebene Bild des heranwachsenden Geschlechts. Es verheißt uns eine Gesell schaft, die nach ihrem Gleichniß gemacht ist, in der sie allein werden leben können; eine harte, mitleidlose, egoistische Gesellschaft, die keine Spur von Hingebung aufweisen, in der sich der Grundsaß des Thomas Hobbes, der Krieg sei ein Naturzustand, und der Mensch sei von Natur der Feind des Menschen, vollständig verleiblichen wird. Diese neuen Generationen, die dennoch wir müssen es zum Heil der Welt hoffen – manches edle Herz zählen, sind das lezte und merkwürdigste Erzeugniß der Industrie. Sie macht die Gesellschaft nach ihrem Ebenbilde, sie fabrizirt grausame Seelen, wie ihre Maschinen, und ausgetrocknete Herzen, wie ihre Produkte.

Wir haben nicht die Absicht, die Industrie anzuschwärzen; allein gerade, weil wir die wichtige Rolle kennen, zu der sie in der modernen Gesellschaft berufen ist — eben deswegen wünschten wir sie unter einen moralischen Einfluß gebracht zu sehen. An ihre Geschichte ist das Loos der Mittelklaffen größtentheils gebunden. Kömmt die Induftrie von ihren Verirrungen zurück, betritt fie beffere Bahnen, so ift der Triumph der Mittelklassen gesichert; steuert sie aber einen falschen Kurs, dann müssen die Mittelklaffen, d. h. die Sammtgesellschaft, umschlagen und zugrundegehen, denn die Industrie ist eine große Thatsache, insofern sie das Mittel ist, eine Hauptidee der französischen Revolution zu verwirklichen. Welches sind die Prinzipien der Revolution? Etwa die Devise: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Nein; diese zu metaphysische Formel schließt eher Wünsche und fernliegende Bestrebungen als Prinzipien in sich. Schält man das Werk der Revolution aus seinen chimärischen Wünschen, seinen Träumen, seinen antiken Anklängen, seinen materiellen Theoricen, so bleibt nur ein Doppelkern: Die Substitution der Arbeit für das Privilegium, die Substitution des Amtes für die Geburt. Das Befehlen soll nicht mehr an den Adelstitel gebunden sein und dieser dem Menschen keine Rechte mehr über den Menschen, so wie das Privilegium keine Rechte über den Boden und den beweglichen Reichthum, geben. Das Befehlen, wie das Gehorchen, soll an das Amt geknüpft und der Reichthum eine Frucht der Arbeit sein. Eine neue Hierarchie soll die ganze Gesellschaft umspannen. In ihr soll, von der unterften bis zur obersten Staffel, Jeder nur die ihm überwiesenen Functionen im Namen der metaphysischen Person, des Staates, verrichten. Das war der ideale Entwurf der französischen Revolution und der wahre Sinn ihrer Reformen. Jeder sieht, daß die Verwirklichung dieses Planes überschwängliche Tugenden anspricht: eine heiße Arbeit ohne Aussicht auf großen Lohn denn sie ertheilt nur einen persönlichen Grad, keinen Titel, eine große Hingebung an die Gesellschaft, eine seltene Be scheidenheit; denn ein Amt ohne höheren Rang ist nicht gemacht, in Versuchung zu führen. Der Ruhm, die Eitelkeit, der Stolz konnten bei solchem Plan nicht ihre Rechnung finden. Die Gesellschaft verlangte von seinen mit der Führung des Staats Betrauten einen glanzlosen Heroismus, eine ganz bürgerliche Unbestechlichkeit, den Fleiß eines Comtoiristen, den gesunden Verstand eines Geschäftsmannes. Um diesen Plan einer auf die Idee der Arbeit und die Idee der Amtsthätigkeit gegründeten Gesellschaft ins Werk zu seßen, boten sich zwei Mittel: die Administration und die Industrie. Unter die unmittelbare Beaufsichtigung des Staates gestellt, blieb die Administration dem Programm der Revolution treu; allein die Industrie, dieser Beaufs sichtigung entzogen, verlor bald die Idee, die sie verwirklichen sollte, aus dem Gesicht: die fittliche Idee der Arbeit war ihr nicht mehr Prinzip und Zweck, sie behielt nur die Speculation und den Reichthum, den Genuß und den Lurus im Auge.

Die Mittelklaffen mögen jedoch wohl bedenken: das Ideal der Gesellschaft, die sie gegründet haben, das bei weitem fittlicher in seinem Prinzip ist, als das Ideal der alten Gesellschaft, legt ihnen eine weit größere Summe von Tugenden und eine weit schwerere Verantwortlichkeit auf. In der That, dieses Ideal, wenn verwirklicht, for. dert eine solche Selbstverleugnung, daß das Privatvermögen, nur als anvertrautes Gut angesehen, den Befißer der Gesellschaft verantworte lich macht. Diese Auffassungsart der Frage ist freilich der Habgier, dem zügellofen Hezen nach Reichthum nicht recht; allein sie ist den Prinzipien der Neuzeit entsprechend, und weist man sie zurück, so kann man sich nicht mehr auf diese Prinzipien berufen. In jedem Be

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rufe, ob im Staatsdienst oder bei freiem Gewerbe, haben wir uns als Beamte anzusehen, an welche die Gesellschaft Ansprüche hat. Die Ar. beit, nicht der Reichthum, muß unser Endziel sein; von uns Allen erwartet die Gesellschaft Dienste, nicht, daß wir unsere persönlichen Neigungen befriedigen. Die Jndustrie ist nur eines der Mittel, dieses Ideal zu verwirklichen; sie kann nichts Anderes sein, ohne ein Mittel der Anarchie zu werden. Sie muß sich mehr bescheiden, und anstatt fich für eine Königin zu halten, muß sie zur Magd werden; denn sie bekleidet keine einzige gesellschaftliche Function. Sie ist nun und nimmermehr des Menschen höchstes Ziel auf Erden; das Ziel der Mensch heit ist nicht der Reichthum, sondern die zeitliche Verwirklichung der moralischen Ideen, die wir in uns tragen; denn das Reich des Jdeals und der Religion soll allerdings von dieser Welt sein und soll im VerLauf der Zeiten sich auf Erden gründen, oder die Geschichte ist ein sinnloses Märchen, und dann will ich gern einräumen, daß Reichthum und Lurus das Ziel der Gesellschaft seien. Bis aber dieser Sag bewiesen ist, bestehen wir auf der Forderung, daß die Macht der Jn dustrie getheilt, daß sie als Mittel, nicht als Zweck angesehen werde; daß ihre Vertreter zur Ueberzeugung kommen, sie seien Vertreter einer sittlichen Idee, nicht einer materiellen Thatsache; endlich verlangen wir, daß der öffentliche Geist diese Macht kräftig im Zaume halte, damit fie nicht über ihre Gränzen hinausgreife. Nur unter diesen Bedin gungen werden die Mittelklaffen die moderne Gesellschaft retten. Die Menschheit wird sich nicht zu Gunsten der Industrie und ihrer Maschinen ins Krankenbett legen und der moralischen Sklaverei verfallen. Der Geist, der die Welt leitet, ist mächtig genug, die Thatsachen, die eine zu ungeheuerliche Ausdehnung nehmen oder einen verhängnißvollen Einfluß gewinnen, in die gebührenden Schranken zurückzudrängen.

Ostindien.

Der Radscha Radhakant über deutsche Leistungen
auf dem Sanskrit - Gebiete.

Wir haben kürzlich eines charakteristischen Schreibens gedacht, das ein indischer Pandit in Benares an die Dümmlersche Verlagsbuchhandlung in Berlin erlassen. Als Seitenstück dazu ist uns der Inhalt eines Briefes mitgetheilt. worden, den ein anderer gelehrter Hindu, der Rad- _ scha Radhakanta-deva, Verfasfer eines Sanskrit-Lexikons in sechs FolioBänden, an einen deutschen Herausgeber fanskritanischer Forschungen gerichtet hat. Wenn es schon an sich erfreulich ist, wahrzunehmen, wie sich die Herrschaft der heutigen Wissenschaft und Kunst bis über den Indus und den Ganges erstreckt, so muß es deutschen Lesern um so interessanter sein, speziell die Leistungen des heimischen Geistes in so ferner Zone, und zwar von einem Manne, der unter den Hindus eine wissenschaftliche Autorität ist, anerkannt zu sehen. Der in englischer Sprache abgefaßte (vom 17. Mai d. J. datirte) Brief enthält unter Anderem Folgendes:

,,Das gegenwärtige Jahrhundert kann als das Zeitalter der Entdeckungen charakterisirt werden. Es ist gekennzeichnet durch die umfaffendsten Errungenschaften von Wissenschaft und Kunst; gleichzeitig aber auch durch die edelsten Erzeugnisse des europäischen Geistes. Mitten unter den Wundern, die das menschliche Genie hervorgerufen und die uns rings umgeben, nehmen wir, die wir die vollständige, kolossale Entwickelung älterer Zweige der Wissenschaft beobachteten, zugleich die jugendlichen Keime vieler neuer Wissenschaften wahr, die sich im Stillen während der lezten zwanzig Jahre zu entwickeln angefangen und unter denen wir die Ethnographie mit den ihr untergeordneten Zweigen der Anthropologie und vergleichenden Sprachkunde (Glossology) hervorheben.

„Es dürfte wohl, wie ich glaube, von allen Wissenschaftsmännern zugegeben werden, daß, unabhängig von den vielen interessanten Gegenständen der Betrachtung und des Studiums, die der ausgebreiteten Kultivirung der Sanskrit-Literatur in Europa verdankt werden, diese das hauptsächlichste, wenn nicht das einzige Moment ist, welches die Gloffologie zu einer Wissenschaft erhoben und dem Philologen den Schlüffel an die Hand gegeben hat, vermittelst deffen er die Geheimnisse des Baues und der Verwandtschaft der verschiedenen Sprachen älterer und neuerer Zeit zu erforschen vermag.

„Die durch das Studium des Sanskrit den philologischen Forschungen zu Theil gewordene Unterstüßung ist noch wesentlich erhöht worden durch die, wenn auch noch unvollkommene, Kenntniß der alten, jeßt gänzlich außer Anwendung gekommenen Form jener überaus ehrwürdigen Sprache, in welcher die Vedas geschrieben sind, wozu wir denn auch die Entzifferung der feilförmigen Inschriften zählen, den erleichterten Zugang zu der Zendsprache, die Zusammenstellung der neueren nationalen Sprachen-Gruppen und den beginnenden Ausbau

einer zusammenhängenden, authentischen Geschichte der dunkelsten Zeits räume des Alterthums. räume des Alterthums. In dieser Beziehung namentlich haben wir einem Müller, einem Weber, einem Benfey und einem Roth dankbar zu sein, deren Arbeiten so viel bereits geleistet und mehr noch versprechen für die Wiedererweckung der Literatur der Bedas.

,,Groß, wie die Verpflichtung ist, welche die gelehrte Welt gegen diese Männer der Wissenschaft hat, haben sie doch besonders den Hindus eine unschäßbare Wohlthat erwiesen, indem sie denselben ihre heiligen Offenbarungen in vollständiger, eleganter, korrekter und gediegener Form zugänglich gemacht, wofür unsere Landsleute diese Männer als ihre zweiten Vyasas verehren werden.

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,,Radhakant, Radscha Bahadur."

Mannigfaltiges.

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Die Brüder Schlagintweit in Ostindien. Von den drei Brüdern Schlagintweit, die sich seit dem März d. J. auf einer (von Humboldt angeregten und von der britisch-oftindischen Compagnie unterstüßten) wissenschaftlichen Expedition im Himalaya-Gebirge be= finden, find Nachrichten aus Ostindien eingegangen, wonach der Beherrscher von Nipal nicht zu bewegen war ungeachtet man ihm wahrscheinlich vorgestellt, daß die Reisenden blos,,deutsche Gelehrte" seien, von deren Beobachtungen er nichts für die Sicherheit seines Reiches zu besorgen habe dieselben in sein Gebiet einzulaffen, so daß die Brüder vorläufig darauf beschränkt sein werden, den britischen Antheil der Himalaya-Kette in geologischer, meteorologischer und erdmagnetischer Beziehung zu durchforschen. Hermann Schlagintweit war von Kalkutta nach dem Sikkim-Gebirge aufgebrochen, während Adolph und Robert sich nordwestlich wandten, über Benares, Allahabad und Futtegurh gingen und bereits Mitte Aprils in Nainy-Tâl in Kumara ankamen, nachdem sie bis zu einer Höhe von 8700 Fuß zahlreiche Beobachtungen angestellt. Zu Milum, an der Oftseite der Nanda Dewi Gruppe, wollten sie ihr nächstes Hauptquartier aufschlagen, um von da nach Thibet vorzudringen. Näheres über ihre bisherige Reise wird das fünfte Heft von Petermann's,,Geographischen Mittheilungen“ bringen.

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Belgische Preisfragen. Die königl. Akademie von Brüffel hat sich in einer ihrer legten Sigungen mit der Stellung zweier Preisfragen beschäftigt, deren Lösung fie für das Jahr 1857 erwartet. Die eine dieser Fragen lautet: Welches ist der Einfluß der Civilisation auf die Poesie gewesen?“ und da es, wie Herr Quetelet, der Antragsteller, bemerkte, bei Lösung dieser Frage ebensowohl auf die Form, in welche die Beantwortung eingekleidet wird, als auf den Inhalt ankömmt, so werden die betreffenden Konkurrenzschriften auf die Abfaffung in französischer Sprache beschränkt. Dagegen hat eine solche Beschränkung bei der Stellung der zweiten Preisfrage, welche die niederdeutsche Sprache in ihrem Verhältnisse zu anderen deutschen Dialekten zum Gegenstande hat, natürlich nicht Plaß gegriffen. Auf den Antrag des Abbé Carton soll es sich bei Beantwortung dieser Frage hauptsächlich um eine vergleichende Studie gewiffer Wurzelformen handeln, die allen germanischen Sprachen zwar gemeinsam sind, sich jedoch nur noch im Vlaemischen vollständig erhalten haben. Herr Carton behauptete, daß sich mit Hülfe dieser im Vlaemischen erhaltenen Wurzelformen manche veraltete Ausdrücke deutscher und englischer Schriftsteller, die selbst Deutschen und Engländern unverständlich wären, leicht erklären ließen, und daß er sogar einmal mit Hülfe des Vlaemischen einigen englischen Reisenden, mit denen er in einem Eisenbahn-Coupé zusammengetroffen, Shakespearesche Verse explizirt habe, deren Sinn ihnen unverständlich gewesen. In den Eisenbahn-Coupés findet man freilich zuweilen auch Engländer, denen der gesammte Shakespeare ohne und fogar mit Hülfe des Vlaemischen unverständlich sein mag.

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