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Literatur des Auslandes.

Frankreich.

Industrie und Materialismus.

Berlin, Dienstag den 24. Juli

Ein Wort zur Zeit, bei Gelegenheit der Universal

Ausstellung.)

Es giebt ein Buch, das ich allen jungen Köpfen der gegenwär tigen Zeit von Herzen empfehlen möchte: das ist Wilhelm Meister von Goethe. Es enthält die rechte Dosis Abstraction, die das heiße Blut der zwanziger Jahre verträgt; eine Altersepoche, in welcher die noch ganz auf das Materielle gerichtete Seele gegen die moralische Welt gleichgültig ist, und in welcher dem Geiste noch die gehörige Spannkraft fehlt. Der bittere Trank wird hier in glänzender Gold schale gereicht, nicht von ernsten Denkern, oder strengen Gelehrten, sondern von den anmuthigsten und liebenswürdigsten Persönlichkeiten, von Kindern, jungen Frauen, weltmännischen Moralisten, Künstlern und Schauspielern. Alle Genoffen der Thorheit und Luft, die der Jüngling im Leben sieht, alle wohlwollenden und gefälligen Mentoren, nach deren Rath er in den Tagen trüber Stimmung, in den Momenten der Verlegenheit verlangt - fie bilden selbst die handelnden Personen im Buche, und von ihren Lippen fließen zumal Vorschriften der Weisheit und Verheißungen des-Glücks. Hier wird von Liebe und Kunst, von Religion und Schauspiel gekost; auf jeder Seite schimmert, was nur das Leben schmückt und verschönert; Nichts ist vergeffen, was das Leben adelt. Man geht hier auf einem Boden, ganz so fest, ganz so handgreiflich, wie der unter unseren Füßen; allein darüber leuchtet die Sonne des Jdeals, und eine ganz bunte und phantastische Welt webt in ihren Strahlen. Dort in jenem Schloffe wohnt ein poetischer Philosoph, der die Ideen des achtzehnten Jahrhunderts zu verkörpern sucht, und unten auf dieser schönen Flur lacht und schwagt die Welt des Decameron. Auf den Berggipfeln betrachten enthusiastische Reisende die majestätische Größe der Natur; während an den Halden eine Bande luftiger Schauspieler dahinzieht. Aus der Waldestiefe erschallt der ferne Gesang der Bacchanten, in der Ebene das Lied hartschaffender, schweißtriefender Schnitter; am Horizont hier steigen die Phantome der Luft und Freude wie farbige Wolken auf, und am azurnen Himmel dort erwachen die keuschen Gestirne, um der Erde von den ewigen Wundern der Unendlichkeit zu erzählen.

Dieses wundervolle Buch, in welchem von einem Ende zum anderen eine seltsame Mischung von Sinnlichkeit und Sittenstrenge sich ankündet, ist gerade und eben dadurch ganz dazu gemacht, in jedem Jüngling, der zum Ernst berufen ist, das Bewußtsein zu wecken. Es kann ihm der erste Führer auf dem Lebenswege sein und ihm helfen, sich zu befinnen in der Welt, in die er hineingeworfen worden. Es kann ihm die Methoden des Denkens lehren, ihm die Werkzeuge zum Analysiren, den Kompaß zum Wegweiser verschaffen. Es kann ihn auch lehren, nicht an sich selber verzweifeln, es kann ihm Vertrauen in die Zukunft einflößen. Mit Einem Worte, es ist nichts, was in unserem Jahrhundert bemerkenswerth ist, von Goethe vergessen: die Bewegung der Wissenschaften, die tieffte Erklärung der Naturgeheim niffe, das Verlangen nach einem neuen Jdeal, die wachsende Macht der Industrie erscheinen ihm als die ersten Elemente eines neuen Lebens, als die erste Schicht, auf welche die Zeit und die menschlichen Leidenschaften, die Gewalt der Dinge und die Willenskraft des Charakters, mit einander verbunden und amalgamirt, allmälig eine ganze andere, in bisher unbekannten Farben schillernde Civilisation gründen müffen. Wilhelm Meister ist der eigentliche Gegensaß von Werther. Hinweg mit den unnüßen Klagen, den unfruchtbaren Thränen, dem ohnmächtigen Skeptizismus! Sage nicht: die Poesie ist todt, die Kunst zugrabegegangen, das Blut in unseren Adern erstarrt, das Leben in unserem eisigen Universum erloschen, und die kühlen Strahlen einer untergehenden Sonne können ihm kaum ein dürftiges Licht spenden!

*) Nach Emil Montégut, in der Revue des deux Mondes. Deutsche Leser werden mit Vergnügen dieses an Goethe und seinen „Wilhelm Meister" anfuüpfende Urtheil lesen. D. R.

1855.

Nicht doch, die Naturkräfte sind nur im gebundenen Zustande, und in den Tiefen der Menschenseele wird still ein neuer Frühling vorbe reitet. Muth also! Statt zu jammern und in ungebührlichen Klagen unsere Thatkraft aufzureiben, helfe Jeder durch Geistesbildung, durch Wahrheitsliebe, durch seinen Willen, durch die Macht der Sympathie zum Aufblühen dieses Lenzes! Alsdann, wenn wir an Geduld und Arbeit gewöhnt sind; wenn wir Vertrauen in uns und in die göttliche Seele haben, die das Universum belebt und erhält; wenn wir ganz Liebe und gute Wesen geworden: dann werden auch wir Wunder thun. Rosen werden in unseren Händen aufbrechen und Lilien unter unferen Tritten aufsproffen.

Das war die Ueberzeugung, zu welcher Goethe nach vielen Jahren Nachdenkens, Studiums und Beobachtens gelangt war. Troß dem achtzehnten Jahrhundert, troß den um ihn angehäuften Trümmern, hatte er's erreicht, nicht zu verzweifeln und dann den dürren Fluren der Gegenwart eine ergiebige Aerndte zu weiffagen. Indeß genügte diese Ueberzeugung wohl seinem Gemüthe, seinem Geiste genügte fie nicht, und wißgierig forschte er nach der möglichen Form der künftigen Gesellschaft. Und so hat er alle denkbaren Combinationen der Thatsachen und Prinzipien erschöpft. Er schafft in seinem Wilhelm Meister, durch eine finnreiche Ideenmischung, künstliche Gesellschaften. Er behandelt die Menschennatur und die Gesellschaft als Stoff und versucht soziale Zusammenfeßungen, wie man chemische Compofitionen verfertigt. Aber merkwürdig, alle diese Compositionen haben unveränderlich dieselbe Grundlage: die Industrie. In allen sozialen Träumen, in allen philosophischen Speculationen des großen, Dichters nimmt die Industrie den ersten Rang ein; aus ihr werden in seinem Gedanken die künftigen Sitten geboren; fie giebt der neuen Gesellschaft die Form. Mit unglaublicher Anstrengung arbeitet Goethe's Geift, an die Industrie alle Lebensmomente der Menschen von ehedem zu knüpfen: Heldenmuth, Liebe, Kunst, Religion. Es gelingt ihm mit großer Mühe, aber erst, wenn er die edlen Aeußerungen der menschlichen Natur zugeftugt hat, um sie dem Wuchs der Industrie anzupassen. Das ist die wirklich traurige Seite des Buches; das Nüßliche steht als die einzige Gottheit der Gegenwart da, und das feltsame Werk charakterisirt fich als transscendentalen Benthamismus; nicht der Bentha mismus in seiner abstoßenden Nacktheit, sondern in prächtigen Gewändern, das Scepter in der Hand, die Krone ums Haupt, auf dem Throne sizend, von glänzendem Hofstaat umgeben. An den Stufen stehen, als apanagirte Prinzen, das Wahre und Gute, während das Schöne wie ein Bettler an die Palaftpforte klopft und froh ist, in Vorzimmer und Küche seiner hochmüthigen Majestät ein armseliges Almosen zu empfangen.

Das sind die Eindrücke, die ein wiederholtes Lesen dieses wunderbaren Buches in uns zurückgelaffen hat; es ist eine wahre Aladinslampe, bei der auch das schwächste Auge mit einiger Aufmerksamkeit in die Nacht seines Jahrhunderts schauen mag. Wilhelm Meister giebt zu gleicher Zeit einen aufmunternden, hoffnungverheißenden Rath und konstatirt eine Thatsache. Der Rath besteht darin, nimmer den Muth zu verlieren und fröhlichen Herzens dahin zu ziehen, um das gelobte Land zu erobern die konstatirte Thatsache besteht darin, daß die Industrie zur Königin der Welt berufen ist. Die Herrschaft dieser neuen Macht erschreckt den Dichter nicht: er glaubt steif und fest, daß die alten angebeteten Gottheiten an dieser Herrschaft theilnehmen werden. Allein, ihm unbewußt, sinken diese alten Götter zu den Gottheiten zweiten Ranges herab, und der Zeus, der über den modernen Olympos waltet, ist das Nüßliche.

Als Goethe eines Tages eine Baumwollenmanufaktur besuchte und dabei ausrief, er habe nie etwas so Poetisches gesehen: da sprach er ohne Zweifel mehr eine Hoffnung, als eine Ueberzeugung aus. Er wollte augenscheinlich damit sagen, daß er in diesen Maschinen das Mittel sehe, eine neue Gesellschaft zu schaffen und folglich neue Sitten hervorzurufen, die ihre Dichter verlangten. Diese Maschinen sollten, wie er es in seinem Geifte faßte, die Ordnung und die Harmonie unter den Menschen vermitteln, die der politische Glaube nicht hinTänglich, der religiöse gar nicht verbindet; fie sollten neue Beziehungen

unter ihnen gründen mit einem Worte, sie sollten zu einem erhabenen Ziele aller Verfassungen und Religionen, aller Gefeße und der Sprache selbst führen, zu dem Ziele: den Menschen dem Menschen zu nähern. Dieses mechanische, seelenlose Werk erschien ihm als ein neuer Orpheus, der die künftigen Städte hervorzaubern, Aristokratieen gründen, Hierarchieen stufen, die Pflichten der Menschen unter sich regeln wird. Auch wir theilten lange die Ueberzeugung dieses großen Mannes; auch wir glaubten, die Industrie werde den Künften ein neues Leben einbauchen, neue Beziehungen unter den Menschen einführen, daß der Gehorsam und der Respekt, die Pflicht und die Tugend mit ihr bestehen, daß die Schönheit und die Poesie aus den Dampfmaschinen hervorgehen, daß Heldenmuth, Ritterlichkeit und Religiösität sich mit ihr vertragen werden. Jeßt ist diese Zuver ficht etwas schwächer geworden, und die industrielle Welt will uns bigweilen wie ein Gerippe vorkommen, das sich niemals mit Fleisch bekleiden werde. Wir glauben nicht mehr so steif an die Poesie der Eisenbahnen; die Webemaschinen haben für uns keinen anderen Zweck, als mehr oder weniger dauerhafte Zeuge zu produziren, und der elettrische Telegraph scheint der Krieg in der Krim hat es von seinem Anfang an bewiesen keine andere Bestimmung zu haben, als die menschliche Dummheit rascher zu verbreiten. Das Nügliche wird das Nügliche bleiben; die von ihm erzeugte Welt ist nicht schön, und seinem thörichten, unverschämten Lurus ist es schwerlich beschieden, das Schöne

zu zeugen.

auf sie zu rechnen, daß fie die Trümmer heilen könnte, und fuhren
fort, zu suchen und zu schwärmen; allein die massive Menge, die sich
mit Speculationen nicht abspeisen läßt, hat stracks bemerkt, was sie
leisten könnte; sie überließ es den berathenden Versammlungen, die
conftitutionellen Syllogismen zu erörtern, und fing an, Baumwolle zu
spinnen, Eisenbahnen zu bauen, Hämmerwerke zu errichten, Steinkohlen
zu graben. Sie fand in der Industrie ein Ziel für ihre Thätigkeit,
eine Quelle des Reichthums, und nahm sie mit Entzücken auf.
(Fortsegung folgt.)

Italien.

Leibniz und Muratori.

Wir haben neulich (Nr. 82 des „Magazin“) das harte Urtheil erwähnt, welches der Engländer Brewster in seinem „Leben Newton's" über Leibniz fällt. Die Kontroverse der beiden Gelehrten über die Priorität der Erfindung der Differential - Rechnung berührt auch A. v. Reumont in dem neuerdings erschienenen dritten Bande der Beiträge zur Italiänischen Geschichte“,°) in welchem sich ein belehrender Auffaß über die Beziehungen des berühmten deutschen Philosophen zu italiänischen Gelehrten befindet. Es ergiebt sich daraus, daß der Schatten, den die erwähnte Kontroverse auf Leibniz' Charakter Das neunzehnte Jahrhundert ist der natürliche Erbe des achtzehn- warf, in den lezten Jahren auch sein Verhältniß zu Muratori trübte, ten; höher hinauf steigt seine Tradition nicht. Die Zeit selbst hat deffen hervorragendste Thätigkeit sich auf demselben Gebiete bewegte, ihren Adel verloren, ihre Ahnen wurzeln nicht, wie die der frühe- welches der große Deutsche entweder selbst bearbeitet hatte oder zu ren Zeit, in den Tiefen der Vergangenheit: das Jahrhundert ist ein bearbeiten entschlossen war. Leibniz sammelte die Scriptores rerum Emporkömmling, wie wir Alle. Es existirt von dem Gewesenen nur, Brunsvicensium und dachte daran, auch die Scriptores rerum Italicawas das achtzehnte Jahrhundert hat stehen lassen, d. h. sehr wenig, rum in einem großen Werke zu vereinigen: Muratori führte den legund die zwei vorherrschenden Thatsachen, die das achtzehnte Jahrhun- teren Plan in glänzender Weise aus. Beide Gelehrte hinterließen dert erzeugt hat, find: die Revolution und die Industrie. Die mo- Annalen: die des Italiäners waren bis 1749 førtgeführt, die des Deutderne Gesellschaft macht den Anspruch, daß sie auf die Prinzipien der schen nur bis zum Jahre 1004 gediehen. Beide beschäftigten sich mit Revolution gegründet sei, und dem Anscheine nach ist dieser Anspruch Forschungen über die Geschichte des Hauses Este: dieses war das Feld, ein berechtigter; allein, wer in ihr einige Zeit gelebt hat, bemerkt sehr auf dem sie sich freundschaftlich begegneten und auf dem der Argwohn, bald, daß sie in Wirklichkeit auf die Industrie gegründet ist. Und ist welcher durch Newton's Streit mit Leibniz gegen den Lehteren herfeine Fassungskraft zu beschränkt, um das zu begreifen, so übernehmen es vorgerufen war, den Samen des Zerwürfnisses auszustreuen sich bemühte. die Bedürfnisse und die Anforderungen des Lebens, ihm bald begreif- Das Studium der Geschichte des Hauses Braunschweig hatte lich zu machen, daß die Welt nichts als ein großes Bankhaus sei, worin Leibniz von der Stammverwandtschaft dieser Familie mit dem Hause das Gefeß und die Propheten in dem rohen Grundsah eines berühm- von Ferrara-Modena überzeugt. Diese Verwandtschaft war zwar ten Sozialisten zusammengedrängt sind: Was bin ich Dir, was immer geglaubt, aber bisher nur durch leichtsinnig aufgestellte Genea= bist Du mir schuldig? — Unsere Sitten, unsere Gewohnheiten, un- logieen in höchst unbefriedigender Weise gestüßt worden, und Leibniz sere Künste, selbst unsere Revolutionen hängen mit der Industrie zu- hegte den lebhaften Wunsch, zur Förderung seiner hierauf bezüglichen fammen. genealogischen Untersuchungen mit italiänischen Gelehrten in Verbindung zu treten. Er wandte sich zu diesem Behufe an Antonio Magliabechi in Florenz, einen Mann, der, obwohl nicht selbst Schriftsteller, doch durch seine erstaunliche Bücherkenntniß, durch seine persönliche Bekanntschaft und seinen ausgedehnten Briefwechsel mit den besten Köpfen und bedeutendsten Gelehrten Italiens, wie durch seine unermüdliche Bereitwilligkeit, wissenschaftliche Forschungen nach Kräften zu fördern, mehr als jeder Andere in den Stand gefeßt war, den deutschen Gelehrten in praktischer Weise zu unterstüßen. Magliabechi kam den Wünschen des Lezteren mit seinem gewöhnlichen Eifer entgegen und blieb mit ihm seitdem in ununterbrochenem Briefwechsel. Als Leibniz 1689 Italien besuchte, lernte er feinen gelehrten Freund persönlich kennen; die Empfehlungsbriefe desselben verschafften ihm in Modena, Bologna, Venedig die schmeichelhafteste Aufnahme und trugen wesentlich zur Förderung seiner wissenschaftlichen Forschungen bei. In neuester Zeit sind zahlreiche Briefe folcher Gelehrten veröffentlicht worden, die Magliabechi mit Leibniz bekannt gemacht hatte, und A. v. Reumont theilt interessante Bruchstücke daraus mit, welche von dem tiefen Eindruck zeugen, den der gewaltige Geist, das umfaffende Wissen und die ganze Persönlichkeit des deutschen Philosophen bei den Celebritäten Italiens hinterlassen hatte. Muratori war damals erst achtzehnjährig und studirte in Modena.

Die französische Revolution war eine negirende, wegräumende Thatsache. Sie hatte einen doppelten Zweck: das alte Regime stürzen und ein neues aufführen. Den ersten hat sie erreicht; der zweite ist noch im Stande des Wünschens und Hoffens verblieben. Jeder sah die Erfüllung in dem System, das ihm eigen, oder in dem Prinzip, das ihm werth war. Es würde in der That schwer zu sagen sein, welches das Ideal der französischen Revolution war. War es das Ideal der Konstituante, des Konvents? Ist es die Republik der Gi rondisten, das Utopien Robespierre's, der militairische Freistaat? Wer sagt es uns? Wenn aber auch die Revolution kein neues Regime gegründet, wenn diese wunderliche abstrakte Persönlichkeit sich auf Versuche und Experimente beschränkt hat: so viel ist gewiß, daß sie das alte Regime gründlich geftürzt und — nach dem Ausdruck eines Poli titers, der mit seiner Epoche wohl bekannt war - nichts als Individuen hat stehen lassen.

Das vorausgeseßt, wie sollen nun diese getrennten, isolirten Individuen, von keinem hierarchischen Bande zusammengehalten, regiert werden? Wozu werden sie, bei diesen unaufhörlichen Umgestaltungen der politischen Welt, ihre Zuflucht nehmen, worauf werden sie ihre und der Ihrigen Zukunft ftellen? Mit Einem Worte, wohin werden fie fich retten, um nicht unter die Räder der ewig experimentirenden Revolution zu gerathen? Zwei Heilmittel bieten sich: eine Maßregel und eine Thatsache.

Die Maßregel ist die Staatsmacht mit all den furchtbaren Werkzeugen, die ihr zur Verfügung stehen: die centralisirte Verwaltung und die bewaffnete Gewalt. Die Staatsmacht, die bei allen politischen Wellenbewegungen das Dauernde, Feststehende ist, verrichtet stets und genau dieselben mechanischen Functionen, ob unter der Hand eines conftitutionellen oder militairischen Oberhaupts, unter einem Royalisten oder einem Republikaner. Die Thatsache ist die Industrie. Eigent lich von der wissenschaftlichen Chemie des achtzehnten Jahrhunderts gezeugt, scheint die Industrie zu bestimmter Zeit in die Welt getreten zu sein, um den Gesellschaften eine Basis zu geben, die eben auf dem Punkte standen, gar keine mehr zu haben. Schwärmer und Politiker, Dichter und Philosophen sind an der Thatsache hart vorbeige gangen, haben sie höchstens konstatirt, ohne viel auf sie zu geben, ohne

Als Rinaldo v. Este sich im Jahre 1695 mit Charlotte Felicitas vermählte, der Tochter Johann Friedrich's von Braunschweig-Lüneburg, schrieb Leibniz seine Lettre sur la connexion des maisons de Bruns vic et d'Este, eine Vorarbeit zu dem umfassenderen Werke, in welchem er die Genealogie und Geschichte beider Linien darzustellen gedachte. Bei dem Fortgange seiner Studien zeigte sich aber, daß neue Nachforschungen in den italiänischen Archiven nothwendig wären; und der Kurfürst von Hannover, der sich lebhaft für die Vollendung der Arbeit interesfirte, unterstüßte Leibniz gern dadurch, daß er einen anderen deutschen Gelehrten, Hagemann, mit dem Auftrage, Dokumente für die Geschichte des Hauses Este zu sammeln, und mit den nöthigen Empfehlungen im Jahre 1699 nach Italien fandte. Als

Bände haben wir bereits früher in diesen Blättern gedacht. Wir werden auf
*) Berlin, Decker, 1855. Dritter und vierter Band. Der beiden ersten
diefe Sammlung noch zurückzukommen Gelegenheit haben.
D. R.

Hagemann in Modena eintraf, befand sich das Estensische Archiv in Folge einer unordentlichen Translocation in vollständiger Verwirrung; da nun Herzog Rinaldo wünschte, sich dem Kurfürften, mit dem er vor wenigen Jahren in erneute verwandtschaftliche Beziehung getreten war, gefällig zu beweisen, warf er sein Auge auf den damals in Mailand lebenden Muratori und bestimmte ihn, als Archivar in seine Dienste zu treten. So war es eine Folge der Studien des deutschen Philosophen, daß Muratori's Thätigkeit auf dasselbe Feld, zu Untersuchungen über die Geschichte des Hauses Este, gelenkt wurde.

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Bei dieser Gelegenheit knüpfte Muratori einen Briefwechsel mit Leibniz an. Ich bin entzückt", antwortete ihm der Lettere, über eine so nügliche Bekanntschaft wie die Ihrige und melde Ihnen, daß ich aus Anlaß eines Briefes des Herrn Grafen Giannini an die Abfassung eines Werkchens gedacht habe, das den Titel Vindiciae Estenses führen könnte und zu welchem ich bereits einen Entwurf gemacht." Der Verkehr beider Gelehrten war lebhaft und freundschaftlich: es handelte sich in den Briefen fast ausschließlich um die Genealogie des Hauses Este. Auch darüber, daß Muratori selbst von dem Herzog Rinaldo mit genealogischen Forschungen beauftragt war, drückt Leibniz seine Freude aus.

Inzwischen hatte Kurfürst Georg den englischen Königsthron bestiegen und beschloß, seine neue Stellung zur nachdrücklichen Förderung der von Leibniz begonnenen Arbeit zu benußen und abermals einen Gelehrten nach Italien zu senden. Als der modenesische Gesandte in London, Guicciardi, hiervon Kenntniß erhielt, bemerkte er, Muratori sei bereits damit beschäftigt, ein sehr gründliches Werk über das Haus Este zu schreiben; ein Fremder würde unmöglich so Vorzügliches leisten können, und es wäre deshalb das Passendste, dem italiänischen Gelehrten die Ausführung seines Unternehmens durch Empfehlungen nach Kräften zu erleichtern. Georg ging darauf ein; er ließ die britischen Gesandten anweisen, Muratori förderlich zu sein, und schrieb eigen händig an den Großherzog von Toskana, den Dogen von Venedig, an die Republik Lucca. Andererseits erklärte sich Herzog Rinaldo damit einverstanden, daß, wie der Minister Bernstorff es gewünscht hatte, Muratori vor dem Druck seines Werkes das Manuskript an Leibniz zur Einsicht senden und sich überhaupt hinsichtlich seiner auf diesen Gegenstand bezüglichen Publicationen mit dem deutschen Gelehrten in Einvernehmen seßen sollte.

Muratori schickte demgemäß die Handschrift des ersten Theils seiner Estensischen Alterthümer nach Hannover. Leibniz behielt sie auffallend lange zurück. Er schrieb Mitte November 1715, daß er sich an das Studium dieses Werkes machen werde, und am Anfang des folgenden Jahres, daß er damit beschäftigt sei, und daß auch Eckhard daffelbe studire, der dem alternden und kränklichen Gelehrten zur Vollendung der Scriptores rerum Brunsvicensium beigegeben war.

Der frische Eindruck des Streits zwischen Newton und Leibniz befruchtete indeffen den Argwohn des modenesischen Gesandten in London, und es wurde von England aus die gehäffige Insinuation verbreitet, Leibniz behalte die Handschrift nur deshalb so lange zurück, um mit seiner Arbeit über denselben Gegenstand früher vor das Publikum treten und die Forschungen des italiänischen Gelehrten für seinen eigenen Ruhm gründlich ausbeuten zu können. Guicciardi suchte dafür zu wirken, daß Leibniz von London aus zur Rückgabe des Manustriptes aufgefordert würde; und das Lestere scheint wirklich in ziemlich plumper Weise geschehen zu sein. Auch den Herzog Rinaldo bearbeitete er in diesem Sinne, zog sich aber hier eine Zurechtweisung wegen seines ungerechtfertigten Argwohns und seiner Unheil stiftenden Geschäftigkeit zu. „Da Muratori", bemerkt Guicciardi in einer zu seiner Rechtfertigung geschriebenen Depesche an den Herzog, „ihm (Leibniz) den Faden seiner genealogischen Geschichte anvertraut und er fie lange Zeit in Händen behalten hat, solcher Art den Druck der felben verzögernd, während er die Herausgabe seines eigenen Werkes beschleunigt, so lag die begründete Besorgniß nahe, er werde es mit Muratori eben so machen wie mit Newton und ihm einen Theil des Ruhmes entziehen, der einem so würdigen Gelehrten in Ew. Hoheit Dienste gebührt. JIch benachrichtigte deshalb Bernstorff, daß das Erscheinen des Muratorischen Werkes verzögert werde, weil Leibniz es zu lange in seiner Hand behalte, und daß es nöthig sei, daß Se. Majestät ihm in dieser Beziehung einen Wink geben lasse. Ich erachtete diesen Schritt paffend, obgleich ich nicht weiß, ob er genügen wird, meinen Zweifel aufzuklären; und da ich ihn mit aller Rücksicht that, um das gute Einvernehmen zwischen beiden Gelehrten nicht zu stören, so kann ich nicht glauben, daß Leibniz Grund habe, sich über einen indiskreten Antrag meinerseits zu beklagen, falls nicht derjenige, welcher das Schreiben aufgefeßt, den Ausdruck verändert und mehr Anlaß zu Verdacht gehabt hat, als ich geäußert habe. Wenn ich gewissermaßen darüber geflagt habe, daß er Muratori's Handschrift so lange zurückhält, so entspricht dies dem Verlangen Sr. Majeftät, das Werk beendigt zu sehen, und es geschieht ihm dadurch kein Unrecht. Das Mißvergnügen, welches Leibniz aus der Sache erwachsen

sein kann, muß von dem ausgegangen sein, der das Schreiben abgefaßt hat und ihn kennt, nicht aber von mir, der ich im Gegentheil mich bemüht habe, ihm nichts Verleßendes zuzufügen. Ich kann also Ew. Hoheit versichern, daß ich dem Leibniz an diesem Hofe nicht geschadet habe, wie er sich einbildet, und daß ich folglich keinem Uebelstande oder Versehen abzuhelfen brauche, wozu ich ganz bereitwillig sein würde, um Ew. Hoheit verehrten Befehlen zu gehorchen."

Man sieht aus dieser Entschuldigung, daß Guicciardi wirklich im Sinne des schwärzesten Argwohns gegen Leibniz gewirkt und den englischen Hof zu Schritten bestimmt hatte, durch welche der deutsche Philosoph im lezten Jahre seines Lebens auf das bitterste verlegt wurde. Tief gekränkt, wollte Leibniz das Geschichtswerk unbeendigt liegen laffen, wenn man den Verleumdungen in England kein Ende mache; aber König Georg forderte ihn auf, damit fortzufahren und sich um Anderes nicht zu kümmern. In der That spricht ein späterer Brief des deutschen Gelehrten an Muratori vom 2. Juli 1716 wieder von der Nothwendigkeit fernerer Nachforschungen in einzelnen italiänischen Archiven und gedenkt der in London angesponnenen Intriguen mit keiner Sylbe. Am 14. November desselben Jahres starb Leibniz. Ob Muratori selbst den Argwohn theilte, dessen gefliffentliche Verbreitung die leßten Tage des großen Philosophen verbitterte, war bisher unbekannt. Man hätte es verneinen mögen, wenn man die Achtung erwägt, mit welcher er in der Vorrede zu seinen Estensischen Alterthümern von Leibniz' Arbeiten auf demselben Gebiete spricht, und die Anerkennung, die er der Schrift des Deutschen vom Jahre 1695 zollt, in welcher bündiger als irgendwo der Zusammenhang der beiden Häuser nachgewiesen sei. Da durchschnitt", so lauten Muratori's Schlußworte,,,während ich mit dem Druck des gegenwärtigen Buches beschäftigt war, der Tod zugleich mit seinem Lebensfaden den Faden seiner Studien und beraubte so mit einem Schlage Deutschland eines großen Philosophen und Mathematikers, wie eines vortrefflichen Geschichtschreibers."

Aber in den Lettere inedite di L. A. Muratori scritte a Toscani, die im vorigen Jahre zu Florenz veröffentlicht sind, befindet sich ein aus viel späterer Zeit herrührendes Schreiben Muratoris, aus welchem erhellt, daß auch in seiner Seele der Verdacht gegen Leibniz Wurzel geschlagen hatte. Er spricht hier von dem Marchese Maffei, der sich gern der Arbeiten und Entdeckungen Anderer bedient, indem er sich dieselben aneignet", — und schließt mit den bemerkenswerthen Worten: „Auch Leibniz war ein großer Mann: dennoch machte er leicht fremdes Gut zu dem seinigen, wenn er konnte.")

Rußland.

Die Weinkultur im südlichen Rußland. **)

Daß in den ältesten Zeiten schon der Wein den slavischen Völkern bekannt gewesen sein muß, dafür sprechen, außer den Volksliedern und manchen Ortsnamen, auch viele Schriften, in welchen seiner selbst und des Gebrauchs, welchen man von ihm machte, Erwähnung gefchieht. Die Nachrichten über ihn reichen bis in die Zeiten Oleg's (906), während er im nördlichen Rußland erst ums Jahr 1174, im Kaukasus sogar erst um 1395 auftritt.

Rußlands früherer Handel mit ausländischen Weinen wurde durch die Hansa vermittelt und hatte zum Hauptstapelplag Nowgorod und die Molojster Jahrmärkte. In der Mitte des sechzehnten Jahrhunberts benußten die Engländer die Wasserstraße der Dwina zur Einfuhr.

Rußland kannte zuerst nur die griechischen Weine; ihnen folgten die französischen und deutschen, und darauf die spanischen und ungarischen; den erst- und legtgenannten gab man jedoch, wohl ihres Feuers wegen, immer gern den Vorzug. Die Zufuhr von portugiesischem, moldauischem und walachischem Gewächse begann erst in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, und die Weine der Krim waren besonders zur Zeit von Münnich's Zug gegen die Türken - also 1736 sehr begehrt.

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Die Reben-Anpflanzungen im südlichen Rußland, an den Ufern des Dniepr, Bug, Dniestr und der Donau, stammen der Wahrscheinlichkeit nach von den Griechen, diejenigen in der Krim von den Genuefern her. Aus den der russischen Geistlichkeit im vierzehnten Jahrhundert von den Chanen ertheilten Diplomen (EpлыкH) erfieht man sowohl ihre damals schon bedeutende Ausdehnung, wie auch einen ge wiffen Werth, welcher denselben zuerkannt wurde.

Im sechzehnten Jahrhundert erst finden wir Spuren, daß die Regierung dem Weinbau in Rußland Aufmerksamkeit schenkte; ein um das Jahr 1547 in Moskau lebender Sachse, Namens Schlitt, erhielt

*) Bei alledem hat Leibniz, wie aktenmäßig nachzuweisen, weber in dem englischen, noch in dem italiänischen Falle fremdes Gut sich angeeignet. D. R. **) Nach J. J. Kraszewski's,,Wspomnienia".

nämlich vom Zaren Jwan Wassiljewitsch den Auftrag, mit den nöthigen Kenntnissen versehene tüchtige Leute herbeizuschaffen, welche die Rebenkultur in Rußland einführen und pflegen sollten. Inwieweit dieser Plan geglückt ist, darüber fehlen die Nachrichten, doch ist es Thatsache, daß man bereits im sechzehnten Jahrhundert in Lievland und Polen, im zwölften sogar in Preußen rheinische Reben hatte, welche vollkommen gut gediehen, ja, daß zur Zeit, als Wienrich Kniprode Hochmeister des Deutschen Ordens war, also im vierzehnten Jahrhundert, die Anpflanzungen daselbst eines gewiffen Rufes genoffen. Bei Pologk finden wir gleichfalls Weinbau, und in der Gegend von Wilna beschäftigten fich die russischen Mönche damit. Weljamin Rutski, einer der Leßte ren, holte aus der Ukraine zwei Wagen voll junger Reben, um sie an die Ufer der Wilia zu verpflanzen.

Die Weinberge um Aftrachan herum verdanken ihr Entstehen perfischen Kaufleuten, welche im siebzehnten Jahrhundert aus ihrer Heimat Reben mitbrachten und sie den Mönchen schenkten, die sich deren Pflege und Vermehrung sehr angelegen sein ließen und in den PrivatGrundbesizern der Gegend bald eifrige Nachahmer fanden. Im Jahre 1669 wurden in der erwähnten Stadt für den Zaren bereits 200 Faß Wein gefeltert und 50 Eimer Weingeist gebrannt. So wie Peter der Große für Alles ein Auge hatte, was die Hebung seines Landes betraf, so schenkte er auch der Ausbreitung der Weinkultur bedeutende Aufmerksamkeit.

Lorenz Müller und Olearius führen an, es habe schon 1635 in der Tatarei wildwachsenden Wein gegeben; mit Bestimmtheit weiß man, daß in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts Tschugujev, Perejaslav, Lubny, Poltawa, Smjejev und Kiev Wein-Anpflanzungen hatten und diese sich an allen Orten um so segensreicher entfalteten, je größere Sorgfalt auf sie verwendet wurde. Die ersten Reben, und zwar Tokayer, in der Krim pflanzte der berühmte Fürst Potemkin, der dann später auch Astrachan mit derselben Gattung verforgte. In der Moldawanka, "einer Vorstadt Odessa's, erhoben sich die ersten Rebenhügel um 1785 herum, und bald darauf schmückten sich auch mit ihnen die Ufer des Ingul, Ingulez und Dniepr. Im Jahre 1804 ftiftete die Regierung in der Krim die erste Schule für Weinbau; eine zweite, bei welcher bereits der neue Pflug zur Behäufelung der Weinstöcke in Anwendung kam, entstand 1829 in Odessa. Vier Jahre früher ertheilte die Regierung dem beffarabischen OberForstmeister, Staatsrath Grafen Paravicini den Auftrag, auf kaiser, liche Kosten die fandigen Höhen um Akjerman herum, wo aus türkischen Zeiten her noch ungefähr 50 Stöcke übrig geblieben waren, mit guten, frischen Reben zu bepflanzen.

Der Ertrag an Eimern beläuft sich in der Krim auf 300,000, im Gubernium Cherson auf 55,000, in Bessarabien auf 50,000, in Po, dolien (Dniestergegend) auf 2,500, in ganz Rußland auf 4,097,500 (?) jährlich.

Die Gattungen, welche im südlichen Rußland gezogen werden, sind: donischer, krimischer, Muskat, persischer, Byzantinischer, zimlianer Wein, so wie der seit 1774 in der Otschakower Steppe und in Ak jerman heimische ungarische.

In einem so waldarmen Lande, wie Beffarabien und der Chersoner Distrikt es sind, mußte die Noth um Gefäße, in welchen der Wein auf bewahrt werden konnte, natürlich eine sehr große sein. Dies brachte einen gewissen in Kauschani unweit Bender wohnenden Olofson auf den Gedanken, vier- und fünfeckige Küpen aus Stein zu bauen. Der erste Versuch wurde 1841 gemacht, fiel jedoch nachtheilig aus, weil es an einer Glasur fehlte, um die inneren Wände der Gefäße damit zu überziehen. Dem Uebel half jedoch der Petersburger Akademiker Höbel ab; er wandte nach einander Pech und Wachs an und brachte endlich mit Hülfe von legterem einen Ueberzug heraus, der dem Zweck vollkommen entsprach, da er die Poren der Gefäße verschloß, ohne auf den Wein selbst nachtheilig einzuwirken.

Mannigfaltiges.

- Der Pontische Krieg im achtzehnten und neunzehn. ten Jahrhundert. Unser Mitbürger, Herr Prof. Theodor Mundt hat die Gelegenheit, die ihm als Bibliothekar geboten ist, nähere Einficht von archivalischen und handschriftlichen Schäßen zu nehmen, zur Ausarbeitung eines trefflichen Werkes über die Geschichte des Kampfes um die Beherrschung des Schwarzen Meeres, vornehmlich unter der Kaiserin Katharina II., benugt.") Obwohl augenscheinlich Gelegenheitsschrift, hat dieses Buch doch das Verdienst, nicht blos für das größere Publikum eine Erscheinung zur rechten Zeit zu sein, sondern auch selbst dem mit der Geschichte vertrauteren Leser manchen neuen Aufschluß über Ereignisse und Situationen zu gewähren, deren Nachwirkungen noch bis auf den heutigen Tag wahrnehmbar sind. Der französische Moniteur hat vor kurzem durch Hinweisung auf eine diplomatische Korrespondenz aus den ersten achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts etwas recht Pikantes mitzutheilen gemeint, indem er die Aehnlichkeit der damaligen und der jeßigen Stellungen Frankreichs, Englands, Defterreichs und Preußens, der Türkei und Rußland gegenüber, darzulegen suchte. Wie dürftig erscheinen jedoch diese Enthüllungen aus den zweideutigen diplomatischen Berichten des bekannten Unterhändlers und Ministers Ludwig's XV. und Ludwig's XVI., Grafen v. Vergennes, neben dem von Mundt aufgedeckten,,Einfluß Voltaire's auf das orientalische Weltprojekt Rußlands!" Der französische „Esprit“ hat die Entfaltung des russischen Einflusses in den Angelegenheiten Europa's weit mehr ge= fördert, als die französische Diplomatie jemals dagegen zu wirken vermochte - wenn diese es überhaupt mit ihrer Gegenwirkung ehrlich gemeint hat. Aus der Korrespondenz Voltaire's mit Katharina II. theilt Mundt über jene Einwirkungen die interessantesten Details mit. Nicht minder anziehend sind aber auch einige andere geschichtliche Situationen geschildert, die der Eroberung der Krim durch Rußland vorangegangen, namentlich der Friede von Kainardschi, die ersten Schritte zur Eroberung der Krim, mit dem Einblick in die Zustände der dortigen Tataren-Wirthschaft, worüber wir auch Berichte aus der Feder eines Preußen erhalten; ferner die Schilderung der Besuche, welche Kaiser Joseph II. in St. Petersburg und der Prinz von Preußen (nachmals Friedrich Wilhelm II.) am ruffischen Hofe abgestattet. Wir glauben, daß sich der Verfasser durch dieses Buch ein großes Verdienst eben so um die Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts, wie um das Verständniß des heutigen Pontischen Krieges, erworben hat.

- Barker's Geschichte der Krim. Zeitungslesern zu empfehlen ist des bekannten englischen Orientalisten Barker „,historische Uebersicht der Krim", "") die von den ältesten, halb mythologischen Zeiten bis zur russischen Occupation herabreicht und die wechselvollen Geschicke der Halbinsel, die seit Jahrtausenden zum Tummelplag so verschiedenartiger Nationalitäten dient, in recht anschaulicher Weise darstellt. Am ausführlichsten ist die Geschichte der Tataren-Chane behandelt, welche ihre Herrschaft auf den Trümmern der genuefischen Kolonieen gründeten und, ehe sie den Waffen und den Künften Rußlands erlagen, in ihren unaufhörlichen Kämpfen mit dem Zarenreiche mehr als einmal bis nach Moskau gelangten, die ruffische Hauptstadt verbrannten und die Einwohner niedermachten oder in die Sklaverei schleppten. Dagegen läßt die Beschreibung des heutigen Zustandes der Krim, die der historischen Darstellung folgt, Manches zu wünschen übrig, und es ist offenbar, daß bei diesem Abschnitte wenigstens der Kompilator nicht, wie er versichert, „die besten Autoritäten“ zu Rathe gezogen hat. So spricht er z. B. von Kertsch als von einem elenden ,,nur von einigen Hundert griechischen Fischern" bewohnten Dorfe, womit er dieser jest leider so schmählich verwüfteten Stadt großes Unrecht thut. Auch müffen wir die vielen bei den Namen vorkommenden Druckfehler rügen Druckfehler rügen denn als solche können wir es nur betrachten, wenn die Sueven sich in Schweden verwandeln, Kasimir von Polen als „Kasimir, König von Podolien“ figurirt und Karl Gustav mit seinem Enkel Karl XII. verwechselt wird.

*) Zur Geschichte des Kampfes um das Schwarze Meer. Historische DarWestermann, 1855.

Der Name: „Russischer Wein“ dürfte, besonders wenn der Nebenbegriff der Güte und des Wohlgeschmacks damit verbunden werden soll, bei manchem West-Europäer ein mitleidsvolles Lächeln hervorrufen. Das verdient er jedoch nicht, und wenngleich man ihn noch nicht so geschickt zu behandeln versteht, wie anderwärts, wenn er auch oft dick und trübe ist, so darf man ihn darum doch noch nicht verachten. Daß er, selbst in seiner heutigen noch unvollkommenen Beschaffen- stellungen aus der Geschichte Rußlands. Von Theodor Mundt. Braunschweig, heit, ein nicht unbedeutender Handelsartikel sein muß, durch welchen der allgemeine Wohlstand mit erhöht wird, geht wohl aus dem Obengesagten deutlich genug hervor. Findet er nur erst neben den nothwendigen Kenntnissen rüstige, ausreichende Arbeitskräfte und bei dem gehörigen Fleiße auch Ausdauer, so kann er mit seinen westlichen und südlichen Kollegen guten Muthes in die Schranken treten, ohne befürchten zu müssen, von ihnen zu sehr in Schatten gestellt zu werden.

**) A Short Historical Account of the Crimea, from the Earliest Ages and during the Russian Occupation. Compiled from the best authorities by W. Burckhardt Barker. Hertford & London, 1855. Berlin, A. Asher & Co.

Möchentlich erscheinen 3 Nummern Preis jabrli 3. Ehlr. 10 gr., halbjabrlich 1 Thir. 20 Sgr. und vierteljährlich 25 Sgr., wofür das Blatt im Julande portofrei und in Berlin frei ins Haus geliefert wird.

No 89.

für die

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Literatur des des Auslandes.

China.

Berlin, Donnerstag den 26. Juli

England, besungen von einem Chinesen.

(Mit Anmerkungen von einem Deutschen in London.) Wu-tan-shin, ein vornehmer Chinese aus dem Innern des Landes, kam im Jahre 1842 zu den Engländern in Linghai auf der Insel Chusan, wo sie in dem herrlichen Hafen ihren Handel und Einfluß so weit ausgedehnt hatten, daß der Hof von Peking, mißtrauisch und eifersüchtig geworden, bald darauf beschloß, den englischen Handel von dort auszuweisen und auf Canton und Shanghai zu beschränken. Wutan-shin führte sich als ein Feind der herrschenden Tataren-Familien ein, als revolutionairer nationaler Chinese, und erbot sich, den Engländern mit Rath und That beizustehen, falls sie die Güte haben wollten, den Thron in Peking wieder für einen echten Chinesen zu räumen und zu reinigen. John Bull fand in einem Rathe dieser Art kein gutes Geschäft und lehnte die Dienste des Chinesen ab, der aber doch als Person aufgenommen ward. Er lebte namentlich lange in dem Hause eines englischen Lehrers des Chinesischen, der schon gut Chinesisch verstand und es nun von seinem Gaste vollends erlernte. Im Jahre 1843 reisten Beide von Ringpo durch das Land bis zu dem 1300 (englische) Meilen entlegenen Canton, von da nach England, dann zurück nach Shanghai und vollendeten hier die Uebersehung der Bibel ins Chinesische, womit die Engländer mehr erobern, als mit ihrem KriegsMiserium. Wu-tan-shin ist jezt Secretair des englischen GeneralKonsuls und Regierungs-Bevollmächtigten, Mr. Medhurst, in Hongkong. Seine Erlebnisse und Eindrücke in der englischen Gesellschaft, die er während seines Aufenthalts in London u. f. w. (1844-45) empfangen hatte, beschränken sich auf die höheren und höchsten Kreise, so daß er in der versifizirten Schilderung Englands Alles „en beau” malt, um so mehr, als er John Bull eigentlich nie in seiner Praris, sondern nur das höhere und höchste normannische England, und dieses immer nur,,im Wichs", in full dress, bei,,Dinner- und Tea-Parties" zu sehen bekam. Doch sah er meist richtig und klar und skizzirt die Oberflächen der guten englischen Gesellschaft genauer, als mancher voluminösere Tourist vom Kontinente. Er giebt z. B. sogar die Klei nigkeit des berühmten Doppelschlags des englischen Briefträgers richtig an, während ein dichterischer Berliner in seinem,,Sommer in London" den Leuten versichert, der Mann klopfe dreimal. Niemals, so lange in England Briefträger klopfen, hat sich einer dieses Vergehens schuldig gemacht. Der gelehrte, poetische Chinese schrieb seine „Angliade“ zunächst nur für seine näheren Freunde in der Manier chinesischer Verskunft, worüber das,,Magazin" früher das Nöthigste mitgetheilt hat; doch fand sie ihren Weg bald in das große Publikum, erst im Original und dann prosaisch überseßt in dem zu Shanghai erscheinenden North China Herald, und zwar von der Feder seines Freundes und englischen Lehrers des Chinesischen. Wir geben hier eine möglichst wörtliche Uebersehung aus der chinesisch-englischen Zeitung, da fie an sich nicht uninteressant ist, wesentlich richtig schildert und eine Vorstellung von chinesischer Anschauungsweise für die ferne Civilisation des Westens giebt. Die Chinesen haben durch diese Angliade das erste authentische Bild von einer Kultur bekommen, welche so lange als bloße „rothborstige Barbarei“ verhöhnt, verachtet und gehaßt ward.

Das Gedicht oder die Schilderung englischer Gesellschaft von Wu-tan-shin lautet:

„Ich ging unter Segel eines fremden Schiffes für den fernen Westen, umherzuftreifen in England. Im Ganzen war ich ziemlich drei Jahre abwesend von meinem Geburtslande.

,,Wollte ich Alles niederschreiben, was ich von den Sitten und Gebräuchen des englischen Volkes gesehen, oder die Produkte ihres Landes, würde ich kein Ende finden. Deshalb wähle ich blos, was mir am meisten auffiel und die mächtigsten Eindrücke zurückließ.

,,Von dunkelem und wolkigem Wetter ift in Großbritannien durchaus ein Ueberfluß und Regen in Fülle. In meinem Lande sagt ein Sprüchwort: Im Westen sind die Himmel leck." Das ist nicht Das ist nicht

1855.

weit von der Wahrheit. Während der Hundstage ist die Hiße nicht sehr groß, denn die Menschen sind dann noch im Stande, mehrere verschiedene Kleidungsstücke zu einer und derselben Zeit zu tragen. Da für denkt aber auch Niemand in der größten Winterkälte an baumwollen wattirte Kleider, wie wir.

In ihren Städten kreuzen und wieder kreuzen sich die Straßen, und darin hört man beständig das Rollen von Wagen und Rossegestampf. Zuweilen ist die Volksmenge so dicht auf den Straßen, daß Schulter an Schulter sich berühren, aber die Riechwerkzeuge werden nicht beleidigt durch unangenehme und ekelhafte Gerüche.") In diesem dichten Volksgetriebe magst Du den Policeman an seiner blauen Kleidung und dem ernsten Blick erkennen, den Briefträger an seinem rothen Kragen und dem Doppelschlage am Hausklopfer, wenn er die Briefe abliefert. Den Dragoner erkennst Du an dem rothen SeidenKamme auf der Krone seines Helmes, dem Zeichen seiner großen Tapferkeit. Militairische Offiziere magst Du zählen an dem zierenden Flecken von Goldzwirn auf ihren Schultern.

,,Die Seiten der Straßen entlang stehen Pfähle mit schönen Laternen, welche, wenn des Nachts angezündet, die ganze Ausdehnung den Himmel erleuchten. Die Luft, welche in diesen Laternen brennt, wird aus Kohlen gewonnen, eine wundervolle Entdeckung, ohne Frage. Diese Luft strömt eine Flamme aus von hellerem Lichte, als die Wachskerze oder die Dellampe geben kann. Durch sie erfreuen sich ganze Familien des Lichts, und Tausende von Häusern werden gleichzeitig erleuchtet. Auf Marktplägen und öffentlichen Hauptstraßen ist sie so klar und hell um Mitternacht, als wenn Mittag wäre, und, wenn ich nicht irre, eben so lustig, als unsere Laternenfeste. Eine Stadt, so erleuchtet, kann wohl eine Stadt ohne Nacht genannt werden, denn man kann die ganze Nacht bis zum Tage umbergehen, ohne eine Laterne zu brauchen. Ueberall findest Du dasselbe Licht, Du magst gehen, wohin Du willst.

,,Wagen mit Feuer, getrieben von Dampf, fliegen so schnell, wie der Wind, und auf den Schienen ihrer Eisenbahnen haben sie eine sehr geistreiche Art, ihre Lokomotiven umzudrehen.

,,Dampfböte, im Allgemeinen sehr reich geschmückt, laufen mit erstaunlicher Schnelligkeit durch das Wasser, vermittelst Schaufelräder. Auf Flüssen und in Buchten laufen schöne Dampffähren, welche das Reisen sehr leicht und billig machen.

„Ich habe auch einen Wagen gesehen, so gebaut, daß er blos von der darin fahrenden Person getrieben ward, wie man ein Boot rudert. Er lief bewundernswürdig und schien sehr passend zu sein für Reisen über das Land. Die Maschinen, welche gebraucht werden, um ihre Kanäle und Flüsse unten zu reinigen, müssen von ungeheurem Nugen sein für Schifffahrt durch das Land.

,,Die Gräber des englischen Volks erheben sich nicht zu Höhen, noch sind sie mit Bäumen bepflanzt, wie bei uns.

,,Die Häuser sind so dicht zusammen, wie die Schuppen auf dem Rücken eines Fisches.

,,Vor dieselben pflanzen sie Bäume oder haben Blumengärten. Die Häuser erheben sich mehrere Etagen. Man lebt größtentheils in den oberen Etagen und macht beständigen Gebrauch von Treppen. Häuser, aufschießend bis zu den Wolken, mit weißen Mauern und Fenstern und Thüren von Glas, sehen wie Gebäude aus, mit kostbaren Steinen beseßt. Ballustraden von Metall winden sich um Fenster und Säulen.

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Thüren und Fenster sind alle versehen mit Scheiben von Glas, und helles Licht wird von jedem Theile des Zimmers zurückgeworfen, so daß man darin fißend sich für einen Besizer des Mondes halten. kann. Die Schlafzimmer find so luftdicht, daß kein Staub hinein kann und man den Wind blos an den Läden draußen blasen hört. Deshalb fühlt man die kalten Schauer des Herbstes kaum. Außerdem werden die Feuer in ihren Kamingittern stets erhalten, so daß die Temperatur

*) Er ist also nie in den Quartieren Londons gewesen, worin so viele Helden von Dickens und der Kriminal-Polizei unter faulen Fischen und Knochenund Lumpen-Lagerhäusern wohnen.

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